Antwort A
In den vorhergehenden Versen (17ff.) ist von den „Ältesten” die Rede, und im Zusammenhang damit betrachtet, drängt sich uns der Gedanke auf, dass es sich auch in V. 20 um Älteste handelt, also mit „die da sündigen” Älteste gemeint sind, welche sündigen. Zu dieser Auffassung gibt besonders V. 19 Anlaß, wo von „Klagen”-Annehmen „wider einen Ältesten” gesprochen wird. Aus welchem Grunde sollte im Anschluß hieran der Apostel plötzlich auf andere Personen, welche sündigen, zu sprechen kommen? Und würde die hier gegebene Weisung in ihrer Strenge, wenn allgemein angewendet, nicht als im Widerspruch zu anderen Schriftstellen stehend erscheinen, die uns belehren, dass wir Geschwistern, die gefehlt haben, wenn irgend möglich, sollen zurechtzuhelfen suchen, ohne dass wir erst jemand anders von den Verfehlungen Mitteilung machen? (Mt. 18,15; Spr. 10,12; 17,9; 1. Petr. 4,8) Und wir wissen doch, dass es im Worte Gottes Widersprüche nicht gibt! Nein, er spricht von „Ältesten”, die infolge ihrer besonderen Stellung in der Versammlung (Gemeinde) in allem Vorbilder für die anderen sein sollten und deshalb eine viel größere Verantwortung hatten als die anderen und infolgedessen im Falle einer Verfehlung auch eine entsprechend strengere Behandlung erfahren mußten als die anderen; und nachdem er in V. 19 dafür Sorge getroffen hat, dass ein Ältester nicht leicht ungerecht angeklagt werden konnte, gibt er in V. 20 Weisung für den Fall, dass doch Älteste sündigen. Solche sollte er - Timotheus - „vor allen überführen”, wohl nötigenfalls durch die nach V. 19 erforderlichen zwei oder drei Zeugen, und zwar darum „vor allen”, „auf dass auch die übrigen Furcht haben”, d. h. Furcht davor, zu sündigen, indem sie sahen, wie ernst dieses ist. - In der Übersetzung von Dr. Heinrich Wiese ist in einer Fußnote zu V. 20 bemerkt: „Allen: Ältesten”, also, dass die Worte „vor allen” bedeuten sollen „vor allen Ältesten” (so auch Menge!). Diese Auffassung bestätigt nicht nur das Obengesagte, sondern geht noch weiter, indem sie auch das „vor allen” auf die „Ältesten” bezieht und dadurch auf sie beschränkt. Ob letzteres der Gedanke ist, vermögen wir aus dem Worte nicht zu ersehen.
Mit vorstehendem ist die Frage an sich beantwortet, doch möchten wir noch etwas hinzufügen.
Wir haben oben bezüglich der „Ältesten” in der Form der Vergangenheit gesprochen, weil wir der Auffassung sind, dass es Älteste in der Weise, wie sie uns im Worte Gottes gezeigt werden, gegenwärtig nicht gibt und nicht geben kann, weil es dem Feinde zur großen Betrübnis aller dieses erkennenden und empfindenden Kinder Gottes gelungen ist, die äußere Einheit der Kinder Gottes zu zerstören. Doch sorgt Gott in Seiner Gnade und Treue dafür, dass in den Kreisen der Kinder Gottes an den verschiedenen Orten es Brüder gibt, die der Geist Gottes gebrauchen kann und die den Dienst eines „Ältesten” tun, wenn dies auch nur in Schwachheit ist. Darum kann die Frage erhoben werden: Findet die oben besprochene Schriftstelle Anwendung auf solche Brüder, die Ältestendienst tun? Diese Frage glauben wir zunächst mit „Nein” beantworten zu müssen, da wir den Eindruck haben, dass es sich hier um einen besonderen Auftrag handelt, den der Apostel seinem Mitarbeiter Timotheus persönlich gab, und dass die Ausführung dieses Auftrages eine Handlung war, zu welcher eine Autorität gehörte, die Timotheus eben nur auf Grund des ihm vom Apostel Paulus erteilten Auftrages hatte, die aber heute auch der hervorragendste Bruder nicht besitzt und nicht besitzen kann. Nicht einer der „Ältesten” empfing diese Weisung, sondern Timotheus empfing sie bezüglich der „Ältesten” (V. 17ff.) und handelte als Beauftragter des Apostels und kraft dieses Auftrages als über den Ältesten stehend. Welcher Bruder könnte wohl heute beanspruchen, eine solche Stellung über den anderen Brüdern, welche Ältestendienste tun, zu haben und solche Vollmacht zu besitzen? Aber damit soll nicht gesagt sein, dass V. 20 uns nichts zu sagen habe, sondern wir sind der Überzeugung, dass dieser Vers uns eine ernste und wertvolle Belehrung gibt: zuerst die, wie ernst und schwerwiegend es ist, wenn ein Bruder sündigt, welcher vorsteht und auf den infolgedessen die Augen aller anderen gerichtet sind; und weiter die, dass auch heute noch dann, wenn ein solcher Bruder sündigt, die anderen in jenem Kreise vorstehenden Brüder gemeinsam mit diesem Bruder in Liebe, aber auch in tiefem Bewußtsein des Ernstes der Sache, über seine Sünde reden sollten, um ihn zu einer wahren Beugung und zu einem dem jeweiligen Falle entsprechenden Verhalten zu führen. Damit ist aber nach unserer Kenntnis die Anwendung dieser Schriftstelle erschöpft; alles etwa nötige Weitere erfolgt nach den Belehrungen und Anweisungen, die das Wort Gottes uns für den jeweiligen Fall gibt.
Diese Schriftstelle allgemein anzuwenden und unter Berufung auf dieselbe einen Bruder oder eine Schwester in einem Geschwisterkreise wegen einer Verfehlung öffentlich - vor allen Brüdern oder vielleicht gar allen Geschwistern - zu rügen und zu ermahnen ist völlig unberechtigt. Das ist es schon deshalb, weil es nicht der Liebe entspricht, die immer bemüht sein wird, einem gefallenen Bruder oder einer gefallenen Schwester zurechtzuhelfen, ohne dass erst andere unnötigerweise von der Verfehlung erfahren - wie schon am Eingang unserer Betrachtung erwähnt -, und ferner, wenn es sich um Zucht handelt, darum, weil es nicht der Weg ist, den Gottes Wort uns hierfür zeigt: daß, nachdem die ebengenannte erste Bemühung zur Zurechthilfe vergeblich war, noch einer oder zwei hinzuzunehmen sind, um diese Bemühung nochmals zu versuchen, und erst dann, wenn auch dieses fruchtlos bleibt, es der Versammlung zu sagen ist (Mt. 18,15-17), welche dann je nach der Schwere des Falles zu handeln hat. (1. Kor. 5; 2. Thess. 3,6-15) Für alles dieses aber kommt 1. Tim. 5,20 gar nicht in Betracht.
Th. K.
Antwort des Schriftleiters
Wenn ich auch denke aussprechen zu dürfen, dass wir alle mit der vorstehenden sehr schönen Antwort vollauf einverstanden sein können, so glaube ich doch, noch einiges, teils unterstreichend, teils ergänzend, hinzusetzen zu sollen.
Zunächst sei einmal wieder hingewiesen auf den belehrenden Artikel über „Älteste” von Br. A. v. d. Kammer in dem Heft „Hütet die Herde!” (Geschäftsstelle der „Handr.”, Preis 0,35 RM.), der einen erweiterten Abdruck aus Jahrb. 10 darstellt und schon vielen gedient hat, besonders grundsätzlich!
In der angefragten Stelle handelt es sich natürlich nur um die Ältesten - dem Zusammenhang nach! Wenn daher jemand, etwa ein Führer in einer Ortsgemeinde, so handelt, wie oben in Antwort A im letzten Absatz angegeben, so ist das ganz gegen die Schrift und kann darum unmöglich zur Erbauung der Gemeinde dienen, wird vielmehr sehr leicht Erbitterung zur Folge haben. (Hebr. 12,15!) Wer in dieser Hinsicht sich einer Schuld bewußt ist, der muss sich beugen und, soviel an ihm ist, die Sache in Ordnung zu bringen suchen. Schon wenn wir bedenken, wie ernst und heilig und zugleich wie vorsichtig die Schrift von den verschiedenen Arten von Zucht redet und wie zart sie umgeht mit den Heiligen, dann sehen wir, wie nach der Bibel ganz unmöglich einerseits, wie taktlos aber andererseits solch Verfahren wäre und ist, wenn Verfehlungen von Gläubigen öffentlich gerügt werden, d. h. ohne weiteres, also ohne vorangegangene Versuche, die Dinge in der Stille nach dem biblischen Muster von Mt. 18,15ff. zu ordnen (wie oben schon gezeigt). Aber 1. Tim. 5,20 etwa für solche biblische Zuchthandlung anzuführen ist ganz unstatthaft, denn sie handelt eben von Ältesten, nicht von Gläubigen im allgemeinen! lasst uns „das Wort recht teilen”! (2. Tim. 2,15!)
Aber wie ist es nun mit dem Wort „vor allen” - bezieht sich dieses auch nur auf die Ältesten oder auf die ganze Gemeinde? Hier ist es nicht ganz so leicht, nach dem Zusammenhang zu urteilen. Man könnte um der schuldigen Ehrerbietung willen gegen Älteste sagen, dass es sich nur um Älteste handeln dürfte, da ihr Ansehen vor der Gemeinde möglichst nicht geschmälert werden soll. Ja, aber - wenn die Sünden eines Ältesten aber der ganzen Gemeinde bekannt sind, wenn ferner die zwei oder drei Zeugen, die doch aus der Gemeinde sind, bei der Überführung dabei sein müssen (was doch wohl selbstverständlich ist), so ist doch dadurch schon der Kreis der Ältestenschaft erweitert und die Teilnahme der Gemeinde schon in der Person der Zeugen involviert (enthalten, eingeschlossen), so dass zur wirklichen Teilnahme derselben nur ein Schritt wäre. Und zeigt nicht die feierliche Bezeugung in V. 21, wie sehr dem Apostel daran liegt, dass „die übrigen” diese heilige Furcht haben möchten, die sie um so eher bekommen müssen, wenn sie sehen, wie ernst mit den Sünden eines Ältesten verfahren wird?! Zu dieser Auffassung, die ich aber nicht etwa als zwingend ansehe und nicht als Lehre vertrete, sondern nur zur Prüfung empfehle, fühle ich mich nach langem Forschen veranlaßt, vor allem durch den Vorgang Gal. 2,14 (obwohl es sich dort nicht um Älteste, aber um mehr als sie: um Apostel handelt!) und durch die hier grundsätzlich anzuwendende Stelle 5. Mose 17,12.13. Die Ältesten tun doch einen zu öffentlichen Dienst, als dass eine heimliche Rüge nur vor ihresgleichen(!!) eine solche Wirkung hervorzurufen imstande wäre, wie sie im Blick auf die Auferbauung der Gemeinde nötig ist, d. h. der Gemeinde, die doch - zumal bei zwei oder drei Zeugen! - um jene Verfehlung des Ältesten weiß oder doch wohl wissen mag! Wie leicht könnte sie durch die Heimlichtuerei in dieser Sache Schaden leiden, indem nun erst recht Anlass zu übler Nachrede gegeben würde! Wird aber vor versammelter Gemeinde (natürlich in durchaus geschlossener Sitzung durch den Vertreter des Apostels die Sache ruhig und leidenschaftslos (V. 21) ans Licht gebracht und besprochen, dann muss das Ergebnis bei allen sein: geistliche Furcht vor der Sünde, die nicht nur dann Sünde ist, wenn sie ein Ältester begeht, sondern auch, wenn ich und du sie tut! „Nichts nach Vorurteil oder Gunst!” Sünde bleibt Sünde, wer immer sie auch tut! Und wenn so verfahren wird, so bleibt kein „Rest” in den Herzen übrig - ich meine: Einem „Sichaufhalten” über die vorgekommene Verfehlung des Ältesten ist jeder Boden entzogen, weil sich alle mit zu beugen hatten! Denn wie demütig muss uns die Erkenntnis machen: Was jener - ein Ältester! - tun konnte, kann mir noch viel leichter passieren, denn wer bin ich! Darum „Hand auf den Mund!”
Noch einmal - ich behaupte nicht, dass diese Auffassung die allein richtige sein müßte, aber man wolle sie erwägen!
Dass Timotheus, ehe er öffentlich mit dem gefallenen Ältesten vor die Gemeinde tritt, erst mit diesem unter vier Augen gesprochen und gebetet haben mag, kann man vielleicht wohl annehmen!
Aber - da wird vielleicht gesagt: „Was hat das praktisch für uns zu bedeuten? Denn wenn wir auch zwar nicht mehr Älteste wie einst Ephesus (vgl. 1,3 und Apg. 20!), aber doch solche, die Ältestendienst tun (siehe obige Antwort und das genannte Heft „Hütet die Herde!” und 1. Thess. 5,12!), haben - wo wäre aber wohl ein Timotheus, der von Paulus (und durch diesen vom HERRN) beauftragt und autorisiert (bevollmächtigt) wäre, in solcher Weise zu handeln?” Unser Mitarbeiter findet sich in besonderer Weise mit dieser Frage ab, und sicher sehr schön und praktisch! Gleichwohl besteht diese Schwierigkeit! Aber auch ich möchte dazu einiges zur Erwägung stellen.
Es wird richtig gesagt, dass Timotheus als Beauftragter des Apostels auftritt. Er hat zu „gebieten” (1,3.18; 4,11 u. a.). Aber ist Timotheus in der ganzen in Rede stehenden Stelle (5,17ff.) nur Beauftragter, besser gesagt: Beziehen sich die sämtlichen Worte nur auf ihn als Beauftragten? Doch wohl nicht! Wozu noch kommt, dass das „laß” in V. 17 eine (trotz der Elb. Übers.!) ungenaue Deutung ist; richtiger wäre: „die Ältesten, die wohl vorstehen, sollen” oder „mögen ...” Wir alle, alle Glieder der Gemeinde, haben solche Stellung zu ihnen einzunehmen! Aber weiter: Ist V. 19 nur auf Timotheus als Vertreter des Paulus beschränkt? Hat das Wort heute keine Gültigkeit mehr? Hat es nicht vielmehr heute erhöhte Bedeutung für die ganze Gemeinde?! Ja, heute in den „schweren Zeiten” (2. Tim. 3,1ff.) erst recht?!
Sollte „man” (wer? die örtliche Gemeinde als oberste geistliche „Instanz”!) nicht heute vor allem solchen Schwätzern und Verleumdern, welche die, welche, wenn auch in Schwachheit, Ältestendienste tun, verunglimpfen, den Mund verbieten, wenn sie nicht genügend Zeugen (und zwar einwandfreie, V. 21!!) beibringen?! - Und ist von hier aus ein zu weiter Schritt zu der von mir jetzt hier niedergelegten Vermutung (nicht Lehre!), dass das in V. 20 dem Timotheus Übertragene nach seinem Abscheiden wie nach dem des Apostels (Apg. 20,29) der verantwortlichen Gemeinde obliegt, die nach 3,15 im 1. Tim.-Brief lernen soll, wie „man sich im Hause Gottes zu verhalten hat”?! Und wenn dieser meiner Vermutung entgegengehalten wird, dass es in solchem Falle ja doch nur wieder auf die sich verantwortlich wissenden Brüder ankäme, also letzten Endes besonders auf die, welche „Ältestendienste täten”, „vorständen”, „führten” usw., kurz: die Gemeinde verträten - würden wir uns dann nicht ganz im Rahmen von Apg. 20,28 befinden, und kämen wir dann nicht auf Umwegen schließlich zu der in obiger Antwort vertretenen Anwendung der fraglichen Stelle auf unsere Tage? Nur dass unser lieber Mitarbeiter die Verantwortung für die - in Schwachheit - zu machende Anwendung der Stelle denen zuschiebt, welche Ältestendienste tun in der betr. Gemeinde, während ich die Verantwortung in der Gemeinde als solcher selber sehe für eine gewisse (eingeschränkte) Möglichkeit der Anwendung jenes Wortes. Die Gemeinde als solche trägt m. E. doch die höchste Verantwortung, und die Ältesten sind um der Gemeinde, „des Hauses Gottes”, willen da (nicht umgekehrt!).
Man sehe in diesen Ausführungen nicht einen Versuch, über das hinauszugehen, was die Schrift sagt! Ich möchte wahrlich an nichts gebunden sein als nur an sie, aber wenn wir alles, was dem Timotheus durch den Apostel aufgetragen ist, als lediglich persönliche Anweisungen ansehen würden, dann würde eine Unzahl von solchen heute keinerlei Anwendungsmöglichkeit mehr haben und für die Gemeinde von heute praktisch ohne Bedeutung sein! Wir müssen Wege finden und gehen, die schriftgemäßen Belehrungen in (natürlich) nur schriftgemäßer Weise auch auf heutige Zeit - wenn auch in Schwachheit - anzuwenden, denn auch wir haben uns im Hause Gottes biblisch zu bewegen! Und durch dieses, das Haus Gottes, d. h. über die Gemeinde, geht m. E. der Glaubensweg zu einer schriftgemäß übertragenen Anwendung (wenn natürlich auch nicht in erschöpfender Weise wie einst durch die Bevollmächtigten des Apostels und des HERRN) auch solcher Verordnungen, die nicht unmittelbar an uns gerichtet sind.
Möge der HERR uns Gnade geben, zu „bedenken”, was der Apostel dem Timotheus sagt (2. Tim. 2,7a), und möge Er auch uns „Verständnis geben in allen Dingen” (V. 7b)! Ihm sei Ehre und Preis für Sein ewig bedeutsames, kostbares Wort!
F. K.