Vor allem möchte ich betonen, dass wir, wenn wir Gottes Wort studieren und auslegen wollen, uns in Demut die Erklärung von Gottes Geist geben lassen müssen, damit wir die Gedanken Gottes darin finden können, welche bekanntlich andere und zwar höhere als die der Menschen sind (Jes 55,8.9). Wir müssen die Dinge vom Standpunkt Gottes, also sozusagen vom Himmel her anschauen lernen. Wir dürfen also nicht nach üblicher menschlicher Logik, menschlichen Maßstäben und Anschauungen rechnen und urteilen. Diese verfolgen stets den Zweck, den Menschen zu erhöhen und enthalten immer eine gewisse Dosis Selbstüberhebung. Solches rechnen heißt nicht Gott rechtfertigen, sondern den Menschen, denn vor dem Dreimalheiligen ist des Menschen eigener Wert gleich Null. Nur in der Herrlichkeit des Christus ist der Mensch vor Gott wohlgefällig.
Sie machen nach alttestamentlichem Muster in Bezug auf die Verheißungen Unterscheidungen zwischen getreuen und ungetreuen Gläubigen. Gott macht dagegen heute im Zeitalter der Gnade nur einen absoluten Unterschied zwischen denen die glauben und Sein sind, und denen die nicht glauben und nicht Sein sind. Nur in Bezug auf den errettenden Glauben und was damit in organischer Verbindung steht, wie Wiedergeburt, Empfangen des Heiligen Geistes usw., setzt das Wort Gottes dem positiven "Wer" das negative "Wer nicht" gegenüber. In den Stellen, die Sie angeführt haben, handelt es sich eben um diese Unterscheidung, um solche, welche als scheinbare Gläubige mitlaufen, aber ohne wahres Leben aus Gott nicht ans Ziel gelangen können. Sobald sich das Wort an wirkliche wiedergeborene Kinder Gottes wendet, ist keine solche Unterscheidung mehr, da ist die Ausdrucksweise anders. In manchen Stellen lesen die Verfechter Ihrer Ansicht ein negatives Gegenteil hinein, das die Heilige Schrift nicht kennt. Denn was Gottes Wort nicht ausspricht, das gehört auch nicht dazu und sollen auch wir nicht hinzufügen.
Das gilt gerade auch in Bezug auf die Überwinder. Sie denken da ohne Zweifel an das siebenfache Wort: "Wer überwindet" in Offenbarung 2 und 3. Gerade da steht aber kein "Wer nicht überwindet"; warum denn selbst ein solches dazu denken? Die Überwinder werden da nicht den schwachen Gläubigen, sondern dem Bösen, den eigentlichen Schaden in der Christenheit, das dem Gericht sowieso verfallen ist, gegenübergestellt. Die Verheißungen sind Trostverheissungen für Zeit und Ewigkeit, welche genau der Anfechtung des Bösen in jedem Sendschreiben entsprechen, zur Ermunterung der Geprüften, damit sie die Anfechtungen überwinden möchten. Das hat doch nichts mit der Entrückung zu tun. Wie kann man behaupten: Nur die "Treuen" dürfen auf die Entrückung rechnen. Sicherlich darf man die Verantwortlichkeit der Gläubigen nicht übersehen; die Regierung Gottes bleibt unverändert und unbestechlich. Aber wir dürfen damit nicht das Werk der Gnade Gottes und die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes gemäß der Gnade auflösen. Wir müssen die Konsequenz aber noch erheblich weiter ziehen. Denn in diesem Fall könnte sich überhaupt niemand die Verheißungen der Entrückung (Joh 14,3; 1. Kor 15,51-52; 1. Thes 4,13-18) zu eigen machen, niemand hätte ein Recht, noch Freimütigkeit dazu. Damit würde die Entrückung für uns wertlos und zwecklos. Biblisch beleuchtet, qualifiziert sich die Behauptung, dass nur die "Treuen" entrückt werden, als einen Angriff auf die Vollkommenheit des Wortes Gottes und die Allgenugsamkeit des Werkes von Jesus Christus. Denn gerade diese Stellen, welche unmittelbar von der Entrückung reden, lauten doch so klar, so unbedingt und ohne jede einschränkende Klausel. Kein "so ihr anders", oder ein "wenn" oder dergleichen ist damit verbunden. Darum darf auch nichts dazu hineingelesen werden! Nein, die Entrückung hat im Grunde mit der Verantwortlichkeit gar nichts zu tun. Sie kommt nachher beim Offenbarwerden und dem Lohnverteilen vor dem Richterstuhl des Christus zu ihrem Rechte (2. Kor 5, 10). Die Entrückung aller Gläubigen ist vielmehr ein Triumph der Liebe und Gnade des Herrn über Tod und Teufel, der eben erst dann vollständig ist, wenn Er alle die Seinen, die Er mit Seinem Blut erkauft hat, jenseits des Todes und des Grabes ins herrliche Vaterhaus gebracht hat. Wäre aber dieser Triumph vollkommen, wäre Seine Liebe befriedigt, wenn Er so viele, ja wenn Er nur ein einziges Seiner Schafe zurücklassen müsste? Nein, gewiss nicht! Im Gleichnis in Lukas 15 bringt Er das Schaf, zu dessen Rettung Er so tief hinabgestiegen ist. auch gänzlich nach Hause, nicht bloß halb. Übrigens wendet nicht eine menschliche rechte Mutter gerade den schwachen Kindern ihre größte Liebe zu, und Gott, der die Liebe ist, sollte Seine Kinder zurücksetzen? Das mögen Menschen tun, nicht aber der Herr!
Ferner sagt Römer 8, 11, dass Gott die Seinen "wegen Seines in ihnen wohnenden Geistes auferweckt". Nun, Gottes Geist hat in allen Wiedergeborenen Wohnung genommen, ohne Ausnahme, denn Wiedergeburt, Aus-dem-Geiste-geboren-sein und Wohnungnahme sind ein und dasselbe. Also wird Gott auch alle Erlösten ohne Ausnahme heimführen. Wie könnte ein Teil der Gläubigen zum Himmel entrückt werden und ein Teil hier bleiben? Sicherlich haben wir allen Fleiß anzuwenden und allen Ernstes über unsern WandeI und unsere Gesinnung zu wachen, davon wollen wir auch nicht das geringste abstreichen. Nur dürfen wir uns nicht vermessen, uns selbst für treu zu halten, sondern wir sollten unserer steten Unzulänglichkeit bewusst sein.
Dürfen übrigens solche, die Sie beschreiben, als "Gottes Kinder" angesprochen werden, als solche, die zu neuem Leben geboren sind? Das ist hier eben die große Frage, ob man wiedergeboren ist oder nicht. Es gibt viele bloß äußerliche "Christen", die wohl einen Kopfglauben besitzen, aber nicht durch Wiedergeburt Leben aus Gott empfangen haben und darum auch nicht durch den Geist geleitet werden. Das ist dann schon richtig, dass es viele sogenannte "Christen" gibt, wo die Frage betreffs ihrer Wiedergeburt verneint oder doch offen gelassen werden muss. Solche freilich müssen sich auf ein Zurückbleiben gefasst machen, denn nur der Wiedergeborene hat Teil an der Entrückung. Das ist aber etwas ganz anderes als "untreue" Kinder Gottes.
In Hesekiel 33 ist gar nicht von einem ewigen himmlischen Leben im neutestamentlichen Sinn die Rede. Es geht dort einfach nach Ordnung des Gesetzes vom Sinai; wer es übertritt, muss getötet werden, wer es hält, wird am Leben bleiben. Im Gleichnis vom Weinstock (Joh 15) stellt sich der Herr Israel, dem unfruchtbaren Weinstock (Jes 5) gegenüber, da folgten ihm allerlei "Jünger" nach. Studieren Sie den Weinstock in natura oder einen Obstbaum; dann werden Sie finden, dass die Schosse, die weggeschnitten werden, Wasserschosse sind, die überhaupt zum Fruchttragen gar nicht geeignet sind. Fruchtschosse sind anders geartet. In Römer 11 dreht es sich wieder um eine ganz andere Frage, um den Genuss der Berufung und der unbedingten Segnungen Abrahams. Da ist Israel seiner Abtrünnigkeit wegen beiseite gesetzt, aus dem Genuss der Segnungen ausgeschaltet, und an seiner Stelle ist den Glaubenden aus den Nationen der Genuss der Segnungen Gottes zuteil geworden. Nun eröffnet Paulus hier als Warnung an die untreue Christenheit, dass sie, wenn sie wie Israel abtrünnig werde, auch wieder weggetan und Israel wieder eingesetzt werde. Das berührt wieder die Entrückung gar nicht. Es ist lediglich eine Warnung in ganz allgemeinem Sinne.