Antwort A
Meyer (Im Konversationslexikon) sagt: „Weissagen in der religiösen Auffassung ist die durch übernatürliche Eingebung bewirkte und durch den Erfolg bestätigte Vorherverkündigung einer zufälligen künftigen Begebenheit.” - Dieser Begriff würde sich mit dem Alten Testamente decken, wenn man für „übernatürliche Eingebung” „Mitteilung Gottes” setzt und „zufälligen” streicht.
Im Neuen Testament ist der Gedanke an die Zukunft nicht ausgeschlossen, aber auch nicht vorherrschend. Weissagen bezieht sich auf beides. Ich glaube, Paulus versteht darunter die Verkündigung des „Geheimnisses”, d. i. des „Ratschlusses Gottes”, welcher früher verborgen war, durch den HERRN Selbst, aber dann durch die Apostel der „Kirche” oder „Gemeinde”, kundgetan worden ist. Dies kennzeichnet insonderheit den Dienst Pauli. Er zeigt uns nicht allein unsere Errettung, sondern den Tempel Gottes, den Leib Christi und dann unser Teil in Verbindung mit dem Auferstandenen im Hause des Vaters; er zeigt uns die weitere Ausführung des Vorsatzes Gottes, dass Gott „alles unter ein Haupt zusammenbringen wird in dem Christus”, und dass schließlich „auch der Sohn Selbst Dem unterworfen sein wird, der Ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott alles in allem sei” (vergl. Off. 21,1-3). Den Ephesern sagte Paulus: „Ich habe nicht zurückgehalten, euch den ganzen Ratschluß Gottes zu verkündigen,” und den Korinthern schrieb er: „... dass ihr in allem reich gemacht worden seid, in allem Wort und aller Erkenntnis.”
Nun, dieses zu verkündigen ist weissagen.
Th.
Antwort B
Weissagen ist immer die Mitteilung einer Offenbarung (s. 1. Kor. 14,30), sei es, dass der Weissagende selbst den Sinn derselben versteht, mehr oder weniger (s. z. B. Joh. 12,38-41; 1. Petr. 1,10-12), oder dass er unbewußt lediglich als Werkzeug dient, wie dies z. B. in Joh. 11,49-51 der Fall ist.
Wenn von Weissagung die Rede ist, denken wir in erster Linie an die Offenbarung von Dingen, die zur Zeit ihrer Mitteilung noch zukünftig sind, wie wir solche im Alten Testament, dann in den Evangelien seitens unseres HERRN Selbst und besonders auch in der Offenbarung Johannes, ferner aber auch in verschiedenen Briefen finden (z. B. 1. Kor. 15,51.52; 1. Thess. 4,14-17; 1. Tim. 4,1-3; 2. Tim. 3,1-5; 2. Petr. 3,3.4.7.10.12). Das ist Weissagung, wie sie 1. Petr. 1,10.11 und 2. Petr. 1,21 gemeint ist. Von solchen Weissagungen, durch welche dem bis dahin vorhandenen Worte Gottes eine neue Offenbarung Gottes hinzugefügt wurde, war die Offenbarung Johannis die letzte. Seit dieser hat es weder eine solche wieder gegeben noch wird es je solche wieder geben, weil das Wort Gottes - diese wunderbare Offenbarung Gottes - vollendet ist in jeder Beziehung, sei es in bezug auf das Gesetz (s. 5. Mose 4,1-6 und 12,32) oder in bezug auf die Ratschlüsse Gottes (s. Kol. 1, 25.26 und Apg. 20,27) oder in bezug auf die Regierung Gottes mit und auf dieser Erde (s. Off.22,18). - Voraussagende Weissagung finden wir auch in Apg. 11,28 und 21,4.11. Diese trägt indessen einen anderen Charakter als die vorerwähnte und kann infolgedessen auch noch vorkommen, wiewohl es gut ist, angeblichen Weissagungen dieser Art immer mit Vorsicht zu begegnen.
Es gibt aber noch eine andere Art von Weissagung, und das ist die im 1. Korintherbrief erwähnte. Diese Weissagung oder „Prophezeiung” ist nach 1. Kor. 12,1-11 eine der verschiedenen Gnadengaben, durch welche der in den Gläubigen wohnende Heilige Geist Sich offenbart, kundtut oder betätigt. Von diesem Weissagen ist im erwähnten Briefe auch in Kap. 11,4.5 und 13,2.8.9, besonders aber auch in Kap. 14 die Rede. Wie wir dort aus V. 3.4.12.24.25 und 31 leicht ersehen können, ist dieses Weissagen ein Reden, durch welches die Zuhörer erbaut, ermahnt, ermuntert, getröstet, überführt und belehrt werden. Es ist also ein durch den Heiligen Geist gewirktes, lediglich auf dem Worte Gottes beruhendes Kundtun des Willens oder der Ratschlüsse oder der Gedanken und Absichten Gottes. Dessen bedürfen die Gläubigen selbstverständlich zu allen Zeiten, weshalb es auch die in 1. Kor. 12,28.29; 14,29.32 und Eph. 4,11 erwähnten „Propheten” immer gegeben hat, gibt und geben wird, solange die Heiligen der „Vollendung” bedürfen und der Leib Christi die „Auferbauung” nötig hat, also solange die Gemeinde sich hienieden befindet, wie Eph. 4, 11-16 uns klar sagt. - Nach 1. Kor. 14 geschieht dieses Weissagen in der „Versammlung” (s. V. 3.4.12.23-33), also wenn Kinder Gottes zusammenkommen, sei es, dass sie zur Anbetung versammelt sind und hierbei ein Bruder oder mehrere Brüder durch Vortrag dienen, oder dass sie zur gemeinsamen Besprechung des Wortes Gottes beisammen sind oder sonstwie. Wie der in 1. Kor. 14 mitgeteilte Charakter und Zweck dieser Weissagung ohne weiteres erkennen läßt, ist diese Weissagung von größter Wichtigkeit für uns. Deshalb werden wir ermuntert, um sie zu eifern (1. Kor. 14,1), und ermahnt, sie nicht zu verachten (1. Thess. 5,20). Unser HERR wolle uns auch hierin Gnade darreichen!
Th. K.
Antwort C
Weissagen ist einerseits das Voraussagen zukünftiger Dinge, andererseits die Offenbarung der Gedanken und Mitteilungen Gottes. Der Prophet war der Mund Gottes (Apg. 3,18). Wir haben in der Schrift die Propheten des Alten Bundes und die Propheten, die Gott der Gemeinde gegeben hat: Er hat in der Gemeinde gesetzt 1. Apostel, 2. Propheten usw. (1. Kor. 12,28; Eph. 4,11). Die Apostel und Propheten hatten einen grundlegenden Dienst. Die Gemeinde ist auferbaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten (Eph. 2,20). Wir haben hier nicht an die Propheten des Alten Bundes zu denken. Ihnen war das Geheimnis der Gemeinde verborgen, wie es jetzt den Aposteln und Propheten offenbart ist (Eph. 3,5). (Die Reihenfolge ist nicht „Propheten und Aposteln”.) Die Apostel und Propheten legten die Grundlage des neuen Baues, der Gemeinde. Gott richtete etwas ganz Neues durch sie auf. Natürlich sind nicht die Apostel, sondern Christus der Grund und Christus der Eckstein. Aber die Apostel und Propheten gaben nicht bloß Belehrungen, sondern sie legten in göttlicher Autorität Grenzen und Umfang des Baues - der Gemeinde - fest. Über diese durch sie gelegte Grundlage darf niemand hinausgehen. Heute haben wir die Apostel und Propheten in dem vollendeten Worte, aber nicht mehr in lebenden Personen. Sie waren grundlegend und wurden weggenommen und finden keine Fortsetzung, weil nicht zweimal Grund gelegt werden kann; und mit ihnen ist auch die Vollendung des inspirierten Wortes verbunden (Kol. 1,25.) Ich muss dies vorausschicken, um klar zu zeigen, dass wir beim Lesen des 1. Korintherbriefes Apostel und Propheten in ihrem grundlegenden Dienst finden zu einer Zeit, wo die Schrift noch nicht vollendet war und wir deshalb solchem begegnen, was wir heute nicht haben, z.B. grundlegenden Offenbarungen.
Wir finden in diesem Kapitel 14 einen Unterschied zwischen „Propheten” und „weissagen”. Paulus spricht von Aposteln, von Propheten und auch von solchen, die weissagen. Kap. 12,29 fragt er: Sind alle Propheten? Sicher nicht. Aber hier (14,1) ermahnt er alle, sich auszustrecken zu weissagen: „Eifert ... dass ihr weissagt.” „Brüder, eifert danach zu weissagen” (V. 39, auch 24). Wenn der Apostel wünscht, dass alle weissagen und danach eifern sollen, so glaube ich nicht, dass hier die Propheten-„Gabe” gemeint ist, sonst wären ja die Verschiedenheiten der „Gaben”, die gerade den Dienst aller Gaben notwendig machen, aufgehoben. Wohl sollen wir, wie um „weissagen”, auch um die „geistlichen Gaben” eifern, und der HERR kann in dem Geben einer oder mehrerer Gaben einem solchen Verlangen entsprechen. „Vielmehr aber” (Vers 1) zeigt uns, dass es sich hier bei „weissagen” um etwas anderes als um eine „geistliche Gabe” handelt. Es ist das Wirken Gottes in der Seele, das Aussprechen dessen, was man von Gott Selbst empfangen hat - das Mitteilen der Unterweisungen, die das eigene Herz in der Nähe des HERRN vom HERRN empfing. Dazu bedarf es keiner besonderen „Gabe”, aber es bedarf des geistlichen Sinnes - des „geistlich”-Seiens (1. Kor. 2,15). Die Ermahnung ist, zu „eifern”, so in des HERRN Nähe zu sein, um Seine Gedanken zu empfangen. Wenn solche zur rechten Zeit und am rechten Orte mitgeteilt werden, so wird die Wirkung Erbauung, Ermahnung und Tröstung sein.
Weissagen finden wir in Verbindung mit Männern und Weibern. Gottes Gegenwart und Gottes Gedanken werden niemand vorenthalten, der danach eifert, sie zu empfangen. Aber Er, der Seine Gedanken offenbart, hat auch das Recht, zu bestimmen, wann, wo und wie sie mitgeteilt werden sollen. Und Er hat dem Weibe den öffentlichen Platz nicht bestimmt.
So glaube ich, ist weissagen in 1. Kor. 14 das Aussprechen dessen, was man selbst von Gott empfangen hat als eine Unterweisung des eigenen Herzens in der Gemeinschaft mit Ihm. Wenn solches der versammelten Gemeinde ans Herz gelegt wird, so wird auch ein Ungläubiger, wenn er hereinkommt, Gottes Kraft spürbar empfinden, sein Gewissen wird erreicht werden, so dass er anerkennen muß: Gott ist da (V. 23-25). Wie wichtig ist die Ermahnung heute für uns: „Strebet nach der Liebe - eifert, dass ihr weissaget!” Hat die Liebe unser Herz erfüllt, so wird das Wohl der Gemeinde uns anliegen, und wir werden eifern nach dem, was zur Auferbauung dient. Wer weissagt, erbaut die Versammlung (1. Kor. 14,4).
v. d. K.
Anmerkung des Herausgebers
Es liegen in den vorstehenden Antworten Gegensätze, indem die eine Propheten in der Gegenwart als vorhanden, die andere sie als nicht vorhanden ansieht. Wir bitten unsere Leser, an der Hand der Schrift zu prüfen, wie es Wahrheit ist. Vielleicht werden manche mit uns zu dem Ergebnis kommen, anzuerkennen, dass im Epheserbrief von Propheten in grundlegender Hinsicht geredet ist, dass aber im Korintherbrief von Propheten als von in prophetischer Weise Redenden gesprochen wird. Die Schwierigkeit kommt daher, weil in allen Fällen das griechische Wort dasselbe ist; erst der Zusammenhang, in dem es im Einzelfall steht, macht klar, wie es gemeint ist. Und in dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen 1. Kor. 12-14 und Eph. 4 zu beachten: In letzterem handelt es sich um die Auferbauungde Leibes. Zur Auferbauung gehört aber eine Grundlage, und von dieser ist Kap. 2 die Rede: Die Propheten, d. h. die des Neuen Testamentes (vgl. 3,5), gehören mit zu dieser Grundlage. In 1. Kor. 12-14 aber handelt es sich um die verschiedenen Geistes- oder Gnadengaben und -dienfte und Geisteswirkungen in bezug auf den Dienst, zunächst innerhalb der einzelnen Versammlung. Hier ist die Weissagung, besser (wörtlich) „prophetische Rede”, allen empfohlen, da durch sie Erbauung bewirkt wird, und die dort genannten Propheten sind solche, die an diesem Dienst teilhaben, also mit prophetischer Rede Begabte sind; und diese sollen stets bleiben!