Antwort A
Nach Meyers Konversat.-Lexikon ist „Tugend” diejenige Tüchtigkeit, Ordnung und Harmonie des geistigen Lebens, die auf der zur Gewohnheit gewordenen Betätigung der sittlichen Freiheit und Tatkraft beruht. Der Begriff der Tugend entspricht durchaus dem Begriff des Sittengesetzes und der moralischen Pflicht.
Allein Erfahrung und das Wort Gottes lehren, dass der natürliche Mensch, biblisch ausgedrückt, es nicht fertig bringt, ganz nach dem Gesetze Gottes zu leben (Jak. 2,10). Der natürliche Mensch oder Unwiedergeborene, welcher unter dem Gesetze steht, bemüht sich oft, allerhand Tugenden auszuüben, aber er hat keine Kraft dazu (Röm. 8,3).
Bei dem Wiedergeborenen ist es ganz anders. Nach 2. Petr. 1,3 erhält er als geistlicher Mensch die Tüchtigkeit, Tatkraft oder Tugend von dem Herrn Jesu geschenkt. „Durch Seine göttliche Kraft” hat er „alles, was zum Leben und zur Gottseligkeit dient”. Er steht in der Freiheit des Geistes (Röm. 8,2), sein Sinn ist wie das Gesetz (Jer. 31,33; Hebr. 8,10; 10,16), daher tut er das Gute mit Freuden (Lk. 1,74) und unterlässt das Böse ohne Zwang (Spr. 16,6); er erkennt, dass das Gesetz nicht nur einen äußerlichen, sondern auch einen innerlichen Gehorsam erfordert (Röm. 12,2). Die Tugend ist nur dann eine wahre, wenn sie aus dem Glauben kommt (Gal. 5,6) und die Frucht des Geistes hervorbringt (Gal. 5,22ff.). Der Sinn von 2. Petr. 1,5 wird etwa der sein ... „so setzet nun zu dem hinzu allen euren Fleiß und lasset entstehen aus eurer Verbindung mit dem HERRN die christliche Tatkraft”, die auch in Eph. 6,14ff. gefordert wird, wenn der Christ dort mit einem Soldaten verglichen wird.
C. L.
Antwort B
Die Welt bezeichnet Menschen, welche äußerlich einen guten Wandel führen, mit dem Worte „tugendhaft”. Gewöhnlich handelt es sich hier um Menschen, die sich an gewisse Grundsätze gebunden fühlen und die nach denselben handeln und wandeln. Bei dem Gläubigen, der sich nach den Grundsätzen Gottes bilden läßt, ist diese Bezeichnung nicht etwas Äußerliches oder Anerzogenes, sondern etwas von dem Heiligen Geiste Gewirktes. Im 3. Vers des gleichen Abschnittes werden wir als Gläubige aufgefordert, durch die Berufung Gottes, der Herrlichkeit als unserem Ziele entgegenzueilen. Um dieses vorgesteckte Ziel zu erreichen, bedürfen wir der Tugend, oder mit anderen Worten, der geistlichen Energie oder der Tapferkeit. Diese Gabe aber nimmt der Gläubige nicht aus sich selbst, sondern sie wird ihm dargereicht aus der Fülle Gottes. Weil nun dem Gläubigen diese Gabe geschenkt oder durch Christus erworben ist, so soll er diese auch äußerlich darstellen oder ausleben, darum im 5. Vers die nochmalige Aufforderung an die, welche durch die Wirkung der göttlichen Kraft dem Verderben der Welt entflohen sind, diese Tugend darzureichen oder darzustellen. Es ist dies der sittliche Mut, welcher die Schwierigkeiten auf dem Wege durch die Wüste überwindet, das Herz regiert, die Tätigkeit der alten Natur im Zaume hält, etwa ähnlich wie wenn Paulus in Kol. 3 von dem Ausgezogenhaben des alten und dem Angezogenhaben des neuen Menschen redet. Diese Tugend ist eine Gabe vom HERRN und befähigt den Gläubigen, das Gute zu wählen und in Entschlossenheit mit dem HERRN voranzugehen. Wir können dies, wie schon oben gesagt, auch mit „Tapferkeit” bezeichnen, einer Tapferkeit, welche uns von der Kraft Gottes, die uns in Christo dargereicht wird, Gebrauch machen lässt und die sich in unserem Wandel widerspiegelt. Es ist eine wiederholte Aufforderung von 1. Petr. 2,9, „die Tugenden Dessen zu verkündigen, der uns aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Lichte berufen hat.” Sie ist aber auch eine Kraftquelle, welche uns Den erkennen läßt, der für uns streitet. In dieser Tugend erkennen wir die Dinge, die uns von Gott geschenkt sind (1. Kor. 2,12), und den Kampfpreis unserer Berufung (Phil. 3,14). So ist die Tugend die Verwirklichung der uns geschenkten göttlichen Kraft im täglichen Leben und Wandel, die Energie und Entschiedenheit, um jeden Preis den Christus im Leben darzustellen.
Ph. W.
Anmerkung des Herausgebers
Ohne das, was die beiden vorstehenden Antworten besagen, irgendwie anfechten zu wollen - im Gegenteil, wir bestätigen sie -, glauben wir, dass sich das Wort, das im griechischen Urtext für das leicht mißverständliche Wort „Tugend” steht (άρετή), vielleicht noch klarer übertragen lässt mit „Güte”, d. h. Gutsein in Wesen und Tat, in jeder Hinsicht (vgl. die Ausdrucksweise „Güte” eines Stoffes). Es ist das vollkommene, ganze, heilige, wesenhafte Gutsein, wie es Dem eigen ist, der uns berufen hat, das Gutsein, die Güte, aus der alles das hervorquillt, was in den jeweiligen Lebensbeziehungen mit ihrem Wesen zusammenstimmt. Nur viermal kommt dies Wort im Neuen Testament vor, und immer scheint uns der dem tiefen Wort am meisten entsprechende Sinn der zu sein, der in dem deutschen Wort Güte (= Gutsein) liegt. Die Stellen sind Phil. 4,8; 1. Petr. 2,9 und die beiden aus 2. Petr. 1 (V. 3 u. 5). Güte (Gutsein) in Wesen und Werk sollte aus unserem Glauben hervorkommen, Vortrefflichkeit in unserem Handeln und Betragen, in allen Beweggründen zu unserem Tun, eine Vollkommenheit in unserem Wesen und Wirken, wie sie allein in unserer Lebensverbindung durch den Geist mit dem einzig Vollkommenen begründet ist (vgl. Mt. 5,48!). Aus dieser wachsen dann die verschiedensten Züge hervor, wie der sittliche Mut, die christliche Tapferkeit, d. h. eine Entschiedenheit, wie sie z. B. Abraham gegenüber Lot besaß, und viele andere „Tugenden” (Züge des Gutseins) mehr. Aber der Grund dazu ist die Herrlichkeit und die vollkommene Güte (das Gutsein) des HERRN, durch welche uns erst die Möglichkeit geschenkt ist, ein Leben nach V. 5ff. zu führen. - Wie wunderbar ist diese vollkommene wesenhafte Güte des Herrn Jesus auf Golgatha erstrahlt, und dort ist die Quelle für unser eigenes Gutsein, unsere Vortrefflichkeit in Wesen, Wort und Werk!
Anbetungswürdiger Gott und HERR! wie reich hat „Seine göttliche Kraft” uns gemacht! welche Verheißungen (V. 4) sind uns geschenkt in Ihm! (vgl. 2. Kor. 1,20). Er gebe uns Gnade, wahrhaft, „wie Er ist, zu sein in dieser Welt” (1. Joh. 4,17), d. h. nach 1. Petr. 2,9 Seine „Tugenden”, Seine wesenhafte Güte, Seine Vortrefflichkeiten zu verkündigen! Gelobt sei der HERR! Er hat gesagt - und das gilt überall:
„Meine Gnade genügt dir!” (2. Kor. 12,9.)