Antwort
Wenn man die Frage so stellt und diesen aus der „Elberfelder Ubersetzung” stammenden Ausdruck in Anführungsstriche setzt, so könnte man tatsächlich zu der Meinung gelangen, dass mit dem „Vorzüglicheren” irgend etwas Besonderes, Bestimmtes gemeint sei. Dem ist aber keineswegs so, auch haben die Übersetzer der „Elberfelder Bibel” kaum daran gedacht, dass dieser unbeabsichtigte Eindruck erweckt werden könnte, zumal doch eine Komparativform (eine Steigerungsform) stets einen Vergleich in sich birgt (hier also „vorzüglicher als etwas anderes”). Wenn man nun gar die Stelle aus dem griechischen Grundtext übersetzen kann oder auch andere Übersetzungen hinzuzieht, dann wird einem sofort klar, was der Apostel, inspiriert durch den Heiligen Geist, meint und den Philippern ans Herz legen will. Gewiß nicht - noch einmal sei's betont -, dass sie irgend etwas Besonderes, Hervorragendes, äußerlich in die Augen Fallendes vollbringen sollten, sondern dass sie eben prüfen möchten, was vorzüglicher sei, nämlich in jedem Falle so oder so zu handeln. Weiter unten darf ich noch weiter darauf eingehen, was diese Stelle auch uns zu sagen hat; zunächst hier einige andere Übersetzungen und danach meine eigene:
Luther: „prüfen, was das Beste sei”.
Miniatur: „prüfen ... die Unterschiede”.
Wiese: „zur Prüfung der Unterschiede”.
Weizsäcker: „richtiges Gefühl zu sittlicher Unterscheidung”.
Menge: „zur Prüfung dessen, was in jedem Fall das Richtige ist”.
Allioli: „damit ihr das Bessere prüfen könnt”.
van Eß: „unterscheiden, was das Beste sei” usw.
Wir sehen, die neueren Übersetzungen wie Wiese, Miniatur, Menge u. a. geben mit derselben gleich eine Auslegung, und die liegt auch ganz auf der Hand. Ich habe seit langem diese Stelle, wenn ich sie irgendwo gebrauchte, folgendermaßen wiedergegeben: „auf dass ihr zu prüfen imstande seid, was das Unterscheidende oder die Unterschiede (in den mancherlei Fällen des Lebens) sei (seien)”. Diese Übertragung scheint mir dem Sinn des Grundtextes am nächsten zu kommen, sie deckt sich ja auch im wesentlichen mit obigen neueren Übersetzungen.
Es handelt sich also in der Stelle darum, in den verschiedenen Dingen des Lebens sich richtig entschließen zu können, um unter mehreren Möglichkeiten des Verhaltens eines solchen sich zu befleißigen, das am meisten, menschlich gesagt: dem „Ideal” - geistlich geurteilt: dem Gottgemäßen entspricht. Das ist wohl, soweit ich verstehe, die Bedeutung dieser Stelle an sich, aber um sie in ihrer ganzen Wichtigkeit zu erfassen, besonders für uns selber, müssen wir kurz hinweisen auf den Zusammenhang, in den sie gestellt ist.
Der „Rahmen” gleichsam unserer Stelle ist „die Liebe” (V. 9) und „der Tag Christi” (V. 10f.). Das ist Grundlage und Zielpunkt für unser Verhalten in dem angefragten Wort! Von dem „Tage Christi” ist schon V. 6 die Rede, ihre Liebe, um deren geistliche Erweiterung Paulus betet, kommt schon in V. 5 und 7 zur Sprache, (wenn auch das Wort „Liebe” selber nicht dasteht). Die Philipper waren sehr tätige, praktische Christen; wie vor allem für den Apostel war auch gewissermaßen für sie das Leben Christus (1,21). Darum darf Paulus sie hinweisen auf die Beurteilung, die ihr Wandel finden würde am Tage Christi, an dem sie „lauter und ohne Anstoß” dastehen sollten. Möchten und sollten wir alle dies nicht auch, Geliebte?! Was ist dazu zu tun, dass es so sei? Es muss vor allem Liebe da sein, Liebe zu Gott und zum HERRN, und darum Liebe zu Seinem Wort und - an diesem Maßstab gemessen! - auch zu den Brüdern (wie bei den Philippern zu Paulus, vgl. Joh. 14,21.23 mit 1. Joh. 5,2.3 und dazu Jahrb. 10, Frage 10!). Diese Liebe aber muss wachsen und überströmen in „Erkenntnis und Einsicht” (in objektiver, d. i. sachlicher Erkenntnis und subjektiver, d. i. persönlicher Einsicht), damit die Gläubigen in den jeweiligen Umständen und praktischen Beziehungen, Verhältnissen und Fragen des Lebens geleitet sind von einer geistlichen Beurteilungsfähigkeit, die das Verkehrte, und nicht nur dieses, sondern auch das minder Gute, relativ Unvollkommene von vornherein auszuscheiden und beiseite zu lassen imstande sein würde, ohne sich erst unnötiger- und zeitraubenderweise damit einzulassen. Geistliches Unterscheidungsvermögen sollte die Philipper, soll uns kennzeichnen, auf dass wir zu sehen und zu handeln wissen im Lichte jenes vor uns liegenden „Tages Christi”. Viele Möglichkeiten, strahlenförmig ausgehende Wege und Pfade mögen vor uns liegen - lassen wir das Licht der Ewigkeit auf sie fallen, so werden wir in jedem Augenblick befähigt, das „Vorzüglichere” von diesem Vielerlei zu erkennen und zu tun. Die Liebe zu Ihm und zu Seinem Wort, die Liebe auch zu den Seinen, der Wunsch, ihnen nicht durch „Anstöße” zu schaden, sondern vielmehr zum ungehemmten Segen zu sein, wird uns leiten, schnell und entschlossen unter den jeweiligen Entscheidungen die zu treffen, die - vielleicht oder wohl unserem Fleische entgegengesetzt - jemandem geziemt, der gottgemäß zu leben trachtet, der „erfüllt” zu sein strebt „mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes” (V. 11). Wie verantwortungsvoll ist diese Stelle, nicht wahr? Wie oft mögen wir darin nicht „auf der Höhe” gewesen oder nachlässig gehandelt haben, wie leicht mögen Gläubige - auf die Stimme des Fleisches horchend, statt auf die des Geistes (Gal. 5,17) - sich mit etwas Geringerem (als dem „Besten”) zufrieden gegeben haben, weil sie meinten, es käme „nicht so genau” darauf an (!) und die betreffende Sache sei ja „ nicht so schlimm”(!) oder (gar) ja nicht „direkt” verboten in der Schrift”(!!), und was solche Entschuldigungsgründe für Laxheiten und Lauheiten noch mehr sein mögen! O, dass wir das Licht jenes Tages und den liebenden Wunsch des Herzens des HERRN, der für uns Sein Leben darlegte, liebend beachten möchten, dass wir durchdrungen wären von dem Gedanken, „lauter und unanstößig” erfunden zu werden, wenn heute der HERR käme! Dann würden wir überströmender werden in solcher Liebe, die Einsicht bekommt und besitzt in die Fähigkeit, zur rechten Zeit sich in Lehre und Leben für das zu entscheiden, was in Seinen Augen das für uns Vorzüglichere, Bessere oder Beste, jedenfalls das Richtige, Geziemende, Gesegnete, zu Seiner Ehre Dienende ist! Er schenke uns Gnade dazu, zum Preis Seines Namens! Amen.
F. K.