Viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte

Ich bitte um Hilfe für das Verständnis des Wortes des Herrn: „Viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte.“ (Matth. 20,16; 22,14.)

Antwort A

Das angeführte Wort des Herrn wird meist so erklärt: Berufene sind alle diejenigen, an welche der Ruf des Evangeliums ergangen ist, Auserwählte aber die, welche dem Rufe wirklich gefolgt sind. Das ist jedoch nicht ganz zutreffend, wie man bei einer genaueren Betrachtung der beiden Gleichnisse findet, deren Schluß die erwähnten Worte bilden.

Das Gleichnis Mt. 20,1-16 zeigt uns, dass Gott es liebt, nach Seiner Unumschränktheit und Liebe in Gnade zu handeln, und dass nicht die Werke, sondern das Vertrauen auf Seine Güte die Betätigung derselben hervorrufen.

Die zuerst Gedungenen - die „Ersten” - hatten auf Grund ihrer Vereinbarung mit dem Hausherrn (Vers 12) gearbeitet und stützten sich auf das, was sie getan hatten; hierauf allein gründeten sich alle ihre Ansprüche und Erwartungen, selbst dann, als sie meinten, mehr als vereinbart empfangen zu müssen (Vers 10-12). Sie kannten nichts von der Güte des Hausherrn und hatten auch kein Bedürfnis nach solcher, sondern meinten, dass es nur recht und billig sei, ihnen mehr zu geben als den „Letzten, die nur wenig gearbeitet hatten”. Darum handelt der Hausherr mit ihnen auch lediglich von dem Standpunkte des Rechts aus, auf den sie sich selbst stellten: „Nimm das Deine und gehe hin!” (Vers 14.) Das ist Israel, und das ist der selbstgerechte Mensch.

Anders aber ist es mit den „Letzten”. Sie waren noch in letzter Stunde dem Rufe des Hausherrn gefolgt und hatten angefangen zu arbeiten, als bereits nur noch wenig Zeit übrig war; sie konnten also nicht auf ihre Arbeit ihre Hoffnung setzen, sondern nur auf die Güte dessen rechnen, der sie gedungen hatte, und im Vertrauen auf dieselbe folgten sie dem Rufe. Und diesem Vertrauen gemäß erfahren sie die unumschränkte Güte des Hausherrn. Das ist der wahrhaft Gläubige - ob aus Israel oder aus den Nationen -, der als verlorener Sünder die Gnade in Christo annimmt, „um die im Fleische noch übrige Zeit ... dem Willen Gottes zu leben” (1. Petr. 4,2).
Um diese verschiedenen Klassen von Arbeitern im Weinberge handelt es sich in Vers 16. Alle Arbeiter im Weinberge waren dem Rufe des Hausherrn gefolgt - sie alle - „viele” - waren „Berufene”. Aber nicht allen konnte der Hausherr seine Güte erweisen, sondern nur denen, welche ein Bedürfnis nach derselben hatten und auf dieselbe vertrauten; das waren nur „wenige”, und nur diese waren „Auserwählte”.

Das andere Gleichnis (Mt. 22,1-14) zeigt uns, dass Israel - die „Geladenen” (Vers 3.4.8) - die Gnade, das Heil in Christo, nicht annahm und deshalb beiseite gesetzt wurde (Vers 3-7), und dass infolgedessen das Heil zu den Nationen kam (Vers 8 und 9), aus denen viele dem Rufe folgten (Vers 10). Es zeigt uns weiter aber auch, dass nicht alle, die dem Rufe folgten - das sind die „Gäste” (Vers 11) -, die Gnade wirklich angenommen haben und nun in Christo vor Gott sind, passend für die Herrlichkeit, sondern, dass darunter solche sind, die den nicht kennen, der den Ruf hat ergehen lassen, weder in Seiner Heiligkeit noch in Seiner Liebe. Diese haben sich das Hochzeitskleid - das ist Christus selbst - nicht schenken lassen, sondern ihren eigenen Gedanken, anstatt Gottes untrüglichem Worte folgend, meinen sie, ihr eigenes Kleid (die eigene Gerechtigkeit) sei gut genug. Es sind solche, die „eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen” (2. Tim. 3,5). Diese sind, da ein Zustand, ein Verhältnis und ein Los in Frage kommt, dargestellt durch den einen Gast, der nicht mit einem Hochzeitskleide bekleidet war und in die äußere Finsternis geworfen wird (Vers 11-13).

Wir haben hier wieder zwei verschiedene Klassen vor uns, die das eine gemein haben, dass sie beide dem Rufe gefolgt sind, im übrigen aber durch ein entscheidendes Merkmal von einander unterschieden werden: Die eine Klasse ist bekleidet mit dem Hochzeitskleide, das sind die wahrhaft Gläubigen; die andere aber ist nicht damit bekleidet - das ist die Masse der bloßen Bekenner. Und auf diese zwei Klassen beziehen sich die Worte in V. 14: „Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte.” Auch hier ist es so wie bei dem vorigen Gleichnisse: Alle Gäste waren dem Rufe zur Hochzeit gefolgt - sie waren daher alle „Berufene”; aber nicht alle konnten wirklich an der Hochzeit teilnehmen, sondern nur die, welche mit einem Hochzeitskleide bekleidet waren - nur diese waren „Auserwählte”.

Wir sehen, dass in beiden Gleichnissen in den Worten: „Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte” von den zwei verschiedenen Klassen von Menschen die Rede ist, die wir in jedem dieser Gleichnisse vor uns haben. Also sind mit den „vielen Berufenen” alle die gemeint, die - gleichviel aus welchen Beweggründen und mit welchem Herzen - dem Rufe gefolgt sind. Das sind alle die Vielen, welche dem Äußeren nach das Volk Gottes darstellten und darstellen - sei es, dass sie es wirklich oder nur dem äußeren Scheine nach waren bzw. sind. Mit den „wenigen Auserwählten” aber sind die gemeint, welche die Güte des Hausherrn erfahren haben und mit einem Hochzeitskleide bekleidet sind. Es sind also die Wenigen, welche wirklich „glaubend Leben haben in Seinem Namen” (Joh. 20,31).

Der Unterschied zwischen den beiden Schriftstellen ist der, dass in der ersten der Hauptzug die Gnade ist, und wir daher dem Grundsatze begegnen, dass alles allein aus Gnade ist, nicht aus Werken. In der zweiten ist es im Grunde die Herrlichkeit des Königs, die in Frage steht, und in Übereinstimmung hiermit kommt in ausgeprägtester Weise der Grundsatz zum Ausdruck, dass wir nur in Christo passend für Seine Herrlichkeit sind. In beiden Beziehungen gibt es „viele Berufene”, aber nur „wenige Auserwählte”, und beides ist sehr kostbar für ein Herz, welches sich der Gewißheit erfreut, zu den „wenigen Auserwählten” zu gehören.
Th. K.

Antwort B

Mt. 20,16 steht noch im Zusammenhang mit der Frage Petri: „Was wird uns nun werden?” (Mt. 19,27.) Der Herr zeigt, dass in der Lohnfrage menschliche Gedanken und Vorteile einst gänzlich über den Haufen geworfen werden, und nur das göttliche Wohlgefallen gilt.
Das Wort des Herrn: „Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinigen zu tun, was ich will” erklärt die Stelle.

Die Ersten sind die, mit denen die Frage „Was wird uns dafür?” geordnet wurde. (Wenn sie den Herrn in Seiner Gnade gekannt hätten, würden sie kein Lohn-Übereinkommen getroffen haben.) Diese werden später als solche mit „bösen” Augen offenbar. Des Herrn Güte offenbart auch heute noch das böse Auge des Menschen, der in Gottes Tun und Walten Unrecht findet.

Dann folgen die, denen gesagt wird: „Was recht ist, werde ich euch geben.” Danach folgen die Letzten (Vers 6), die nur gerufen werden - ohne Versprechung. (Der Nachsatz ist zweifelhaft und fehlt in den alten Handschriften. S. Elberfelder Übers. und Wiese Übers.) Diese gehen und arbeiten im Vertrauen auf Seine Güte. Diese Letzten werden Erste. Sie erfahren, dass sie nicht nur berufen sind, sondern nach der Unumschränktheit Seines Willens auserwählt sind, die Empfänger Seiner größten Gnade zu sein. An dem Lohntage werden wir große Überraschungen erleben. Erste werden Letzte und Letzte Erste sein. Die Ersten, am frühen Morgen Berufenen, empfangen das Festgestellte. Die Letzten, am späten Abend Berufenen, sind erwählt, die Gefäße zur Verherrlichung Seiner Gnade zu sein. In dieser Verbindung ist zu beachten, dass dies Gleichnis, wie auch das in Mt. 22,1-14, Gleichnisse vom Reich des Himmels sind. Dies ist höchst wichtig. Der Herr zeigt uns das Reich, d. h. von verschiedenen Gesichtspunkten und in verschiedenen Stadien. (Die Juden z. B. waren Erste und wurden Letzte.)

Der Herr ruft, wen Er will, und wählt aus ihnen aus, wen Er will, um aus ihnen in Seiner Gnade zu machen, was Er will. lasst uns das tun, wozu
Gott uns berufen, und unser Auge nicht böse sein, wenn Er in Seiner Souveränität andere erwählt, an ihnen Seine Gnade besonders groß zu machen - sei dies im Einzelnen, in den persönlichen Wegen, oder in den Wegen der Verwaltung Gottes.
v. d. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 1 (1913)