Antwort A
Viele Ausleger haben zwischen dem „Reich der Himmel” und dem „Reich Gottes” einen solchen Unterschied gesehen, als ob sie zwei ganz verschiedene, für sich abgeschlossene Begriffe darstellten. „Reich der Himmel” ist für die meisten ein jüdischer Ausdruck, der Gedankenwelt des Judentums entsprechend. Wir werden später sehen, dass wohl die Bezeichnung der alttestamentlichen Bibelsprache entnommen ist, aber darum keineswegs als rein jüdischer Gedanke bezeichnet werden kann. Wir glauben im Gegenteil auf Grund des Wortes Gottes annehmen zu müssen, dass diese Seite des Reiches mehr die Beiseitesetzung des Volkes Israel zur Voraussetzung hat. Wir brauchen uns nur die Mühe zu nehmen, die zehn Gleichnisse des „Reiches der Himmel” in Matthäus sorgfältig zu prüfen, so werden wir entdecken, dass sie erstens die Verwerfung des Messias von Seinem Volk voraussetzen, und zweitens in besonderer Weise die Heimsuchung Gottes in Gnade bezügl. der Nationen in sich schließen. Andere Ausleger sehen in diesen zwei Bezeichnungen überhaupt keinen Unterschied, weil, wie sie sagen, oft dieselben Dinge, Personen und Gleichnisse unter dem „Reich der Himmel” wie auch unter „Reich Gottes” uns vorgestellt werden. Nach unserer Auffassung ist dies nicht zutreffend. Wir fragen erstens: Warum gebraucht der HERR im Ev. Matthäus, wo wir allein das „Reich der Himmel” 32mal finden, 5mal den Ausdruck „Reich Gottes”? Wenn beide ganz gleiche Bezeichnungen sind, warum dann einen etwas anderen Ausdruck wählen? Ja, wir fragen weiter, warum nie der Ausdruck „Evangelium des Reiches der Himmel” gebraucht wird, obwohl wir von „Evangelium des Reiches Gottes” hören in den Evangelien und der Apostelgeschichte. Merkwürdig ist auch, um auf weitere bemerkenswerte Unterschiede hinzuweisen, dass Johannes der Täufer wohl das „Reich der Himmel” als nahegekommen verkündigt, aber nie das „Reich Gottes”. Wir finden es nicht ein einziges Mal von ihm genannt. Der HERR tut beides, nicht aber Sein Vorläufer. So könnten wir noch manche Frage an uns richten, um uns gegenseitig aufmerksam zu machen auf gewisse feine Unterschiede. Wir könnten auch fragen, warum „Reich der Himmel” nur im ersten Buche des Neuen Testaments gebraucht ist, sonst nie wieder. Wenn wir an die wörtliche Eingebung des Wortes Gottes glauben, haben uns diese Unterschiede etwas zu sagen, genau wie die verschiedenen Bezeichnungen und Namen des HERRN uns doch auch ganz bestimmte Herrlichkeiten und Offenbarungen von Ihm nahebringen.
Um zu einer gewissen Klarstellung dieser zwei Ausdrücke „Reich der Himmel” und „Reich Gottes” zu kommen, bedürfen wir eigentlich einer Einführung in das Wesen, den Zweck und Charakter des Ev. Matthäus und des Ev. Lukas. Denn in beiden sind die Ausdrücke vorherrschend. In Matthäus wird „Reich der Himmel” 32mal gebraucht, nebenbei bemerkt, ebenso viele Male „Sohn des Menschen”, und in Lukas wird „Reich Gottes” 32mal gebraucht. Es scheint uns, dass „Reich der Himmel” mehr den Gedanken der Autorität, der Macht und der Herrschaft der Himmel in sich schließt, hingegen „Reich Gottes” mehr die Macht der Gnade Gottes, Gottes und Seines Geistes (vgl. Röm. 14,17 und 1. Kor. 4,20) in den Heiligen auf Erden: eine innere Bildung durch Gott, die mit der Autorität des Himmels im Einklang steht. Dies ist klar ersichtlich in den fünf Stellen in Matthäus, wo der HERR statt „Reich der Himmel” „Reich Gottes” gebraucht (Mt. 6,33; 12,28; 19,24; 21,31.43). Wie das „Reich der Himmel” durch die Anwesenheit des Herrn Jesus als Sohn des Menschen im Himmel gekennzeichnet wird, denn alle Stellen tragen in Matthäus Zukunftscharakter, so war das „Reich Gottes” in Kraft des Heiligen Geistes im HERRN gegenwärtig, als Er auf Erden war (vgl. Mt. 12,28), einer Kraft, die stärker war als die Macht des Feindes.
Darum finden wir im Ev. Lukas den Heiligen Geist oft wirksam. Gerade 12mal wird Er so bezeichnet; Er wird am häufigsten vor den anderen Evangelien im Ev. Lukas gebraucht. Außerdem noch ca. 6mal „Geist”. Im Ev. Johannes, wo Heiliger Geist nur 3mal vorkommt - Mt. 6mal, Mk. 4mal - (Joh. 1,33; 14,26; 20,22), als „Geist” am häufigsten gebraucht wird, als Geist des Lebens (vgl. 6,63!) in den ersten Kapiteln und als „Geist der Wahrheit” und als „Tröster” in den Heiligtumskapiteln 14-16, wird Er uns aber nicht in dem Charakter wie im Ev. Lukas gezeigt. In Lukas ist Er weniger Lebenserzeuger, als vielmehr Kraft, den Feind zu überwinden, und Bildung und Gestaltung nach dem Geist der Gnade, entsprechend der sittlichen Forderung des in der Person des HERRN gekommenen „Reiches Gottes”. Die erste öffentliche Rede des HERRN, wo Er die Direktiven Seines Dienstes darlegt, in Lk. 4, ist gekennzeichnet durch die Fülle, Kraft und Salbung des Geistes (V. 1.14.18) und durch die Verkündigung der Freiheit durch Ihn, der den Satan gebunden hat, d. h. in sein Reich eingedrungen ist, um jeden von der Macht des Feindes zu befreien, der da will (vgl. Lk. 4,13.14.18; 11,20-22), Dinge, die nie vom „Reich der Himmel” in dieser Weise gesagt werden; darum die bezeichneten Ausnahmen im Ev. Matthaus. „Reich der Himmel” trägt vielmehr einen Erfüllungscharakter des Alten Testaments; einen Verwaltungscharakter im Blick auf die Zeiten; einen Vorsehungscharakter im Blick auf Gestaltung und Personen.
In dem „Reich der Himmel” erkennen wir die Herrschaft des Himmels an, von welcher schon in 1. Mose 1,14-19 und besonders Daniel 2,18.37.44; 4,26.37 gesprochen wird. In enger Verbindung hiermit steht die Bezeichnung „Gott des Himmels”. Aber Anerkennung der Herrschaft des Himmels entspricht noch längst nicht der inneren Umgestaltung, Gabe des Heiligen Geistes und Lebensbeziehung zu dem lebendigen Gott.
„Reich Gottes” trägt einen sehr persönlichen Charakter, während „Reich der Himmel” mehr einen äußeren und allgemeinen Charakter hat. Man könnte es so fassen: „Reich der Himmel” erstreckt sich mehr auf die äußere Seite, hingegen „Reich Gottes” auf die innere Seite des Reiches, von welchem beide Ausdrücke zeugen. So ist Matthäus mehr das einführende Evangelium, das Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, Markus, wo wir „Reich Gottes” 15mal finden, mehr die Fortführung von Matthäus. Markus vertieft und ergänzt Matthäus. Wir müssen uns versagen, dies hier auszuführen. Lukas zeigt uns die persönliche Freiheit und die persönliche Aufnahme der Gnadenfülle, die in dem HERRN erschienen ist. Darum finden wir auch 4,18, wo von der Befreiung und Freiheit (im Griechischen dasselbe Wort) gesprochen wird, auch die Gnade erwähnt (V. 22). Gnade wird im Neuen Testament zuerst im Ev. Lukas genannt, wo auch die persönliche Freiheit erstmalig uns am klarsten gezeigt wird. Wir sehen in Lukas gleichsam einen neuen Anfang, der durch Johannes weitergeführt wird. Johannes, wo „Reich Gottes” nur zweimal erwähnt wird (3,3.5), stellt uns die Lebensbeziehungen zu Gott durch Seinen Sohn und untereinander vor.
Das „Reich Gottes” umfaßt alle anderen Bezeichnungen des Reiches. „Reich der Himmel” wird immer „Reich Gottes” sein, aber „Reich Gottes” nicht immer „Reich der Himmel”, wie uns Matthäus zeigt. Ferner finden wir „Reich des Vaters”, „Reich des Sohnes des Menschen”, „Reich des Sohnes Seiner Liebe”, „Reich Christi” (Eph. 5,5; vgl. auch Off. 11,15), „Reich Davids” (Mk. 11,10) und noch andere Bezeichnungen, wie „Reich”, „ewiges Reich” usw.
Zu beachten ist auch, dass nur der Apostel Paulus in seinen Briefen vom „Reich Gottes” außerhalb der vier Evangelien und der Apostelgeschichte geschrieben hat, es sei denn, dass wir Off. 12,10 mit einbeziehen. Doch erwähnen alle acht Schreiber des Neuen Testamentes ohne Ausnahme das Reich in irgendeiner Form. Dies zeigt die Wichtigkeit des Reiches, dessen Bürger und Erben wir sind,- und dass wir von der Macht des Reiches des Satans und der Finsternis befreit worden sind, versetzt in das „Reich des Sohnes Seiner Liebe”, wo Seine Macht, Sein Licht, Seine Liebe und Sein Geist herrschen (vgl. Apg. 26,18; Kol. 1,13). Es kommt aber der Augenblick, wo dieses Reich, das dem Geiste Gottes nach gegenwärtig ist, in himmlischer, ewiger Herrlichkeit geoffenbart werden wird und wir nicht nur innerlich und sittlich, sondern auch äußerlich der Herrlichkeit des ewigen Reiches unseres Gottes und des Herrn Jesus - durch die Umgestaltung unseres Leibes der Niedrigkeit zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit (Phil. 3,21) - entsprechen werden. Dies wird allein Herrlichkeit sein, wenn in dem Reiche der ewige Sieg des Herrn Jesus über alles Gottfeindliche für immer gefeiert wird! Ihm sei
ewig Dank!
K. O. St.