Antwort
Der Apostel geht von dem Zeitpunkt „jetzt” aus, V. 13. Rückschauend von dem „jetzt” aus, da das Einssein von Juden und Nationen schon in die Wege geleitet war, stellt er fest, dass das, was am Kreuze gleichermaßen zugunsten von Juden und Nationen geschah, einer Absicht diente: der, beide zu einem neuartigen Menschentypus zu schaffen. Was erst Absicht ist, liegt noch nicht vor. Daraus folgt, dass der zu schaffende neue Mensch nicht da war, solange der HERR am Kreuz hing, auch nicht, solange Er im Grabe lag. Erst nach Seiner Auferstehung konnte er da sein. Das Kreuz war nur das Mittel, durch welches Er in Seinem Fleische (Eph. 2,15) - oder nach Kol. 1,22 in dem Leibe Seines Fleisches - das tat, was nötig war, nämlich zunächst Sühnung. Die als Folge der Sühnung zustande kommende Versöhnung konnte erst nach Seiner Auferstehung in Wirksamkeit treten. *
Die Versöhnung zwischen Israel und Gott fand nicht dadurch statt, dass das Tier getötet und sein Blut am Altar ausgegossen wurde, sondern erst dadurch, dass das vergossene Blut durch den Hohenpriester im Allerheiligsten an den Thron Gottes und vor denselben hin gesprengt wurde. Am Altar geschah Sühnung durch Vollstreckung des Todesurteils an dem Tiere anstatt am Menschen.
Das Gegenstück ist: Am Kreuze geschah Sühnung; das Todesurteil über den Menschen wurde vollstreckt, indem Jesus nach dem Willen des Vaters Sich Selbst zum Opfer gab. Das Blut wurde vergossen; das Leben, die Seele, wurde ausgeschüttet in den Tod; der Sühneakt wurde vollzogen. Daraufhin erschien der Christus, der aus dem Opfer, das Er gewesen, nun Hoherpriester geworden war, mit dem Ergebnis Seines Opfers, in der Kraft Seines vergossenen Blutes im Allerheiligsten, d. i. in der Gegenwart Gottes, für das Volk, Hebr. 13,12, und die übrige Menschheit, Hebr. 9,24; 1. Joh. 2,2, d. i. die Nationen. Siehe noch Joh. 11,51.52 und 12,32.33.
So und da versöhnte Er die beiden mit Gott. Sie waren zwei, Er ist Einer in Seinem Leibe der Auferstehung. Da beide in Ihm sind, sind sie in Ihm in einem Leibe mit Gott versöhnt durch das Kreuz hindurch, nicht ohne dasselbe, weil an demselben der Unterschied zwischen beiden verschwand. In Seinem Fleische hat Er die Feindschaft hinweggetan, getötet. Danach war die Versöhnung da. Da war Er nicht mehr „im Fleische” oder „in Seinem Fleische”, so wenig als das getötete Tier noch in seinem Fleische war, als sein Blut im Allerheiligsten gesprengt und dadurch die Sühnung vollendet wurde.
Der Ausdruck „durch das Kreuz” soll klarmachen, dass ohne das Kreuz die beiden nie zusammengekommen wären. Das Kreuz wischt ihre frühere Stellung als Juden und Nationen aus und macht den Weg frei, dass sie in eins verschmolzen werden und als Verschmolzene Gott versöhnt sein können. Dem entspricht in Röm. 5,10 und Kol. 1,22 „durch den Tod”. Durch denselben hindurch musste es gehen. Das Schlachten des Opfertieres, das Kreuz, der Tod waren nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Der war die Versöhnung. Sühnung durch den Tod geschieht zur dadurch zustande kommenden Versöhnung.
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Hebr. 2,17: „Daher musste Er in allem den Brüdern gleich werden, auf dass Er in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werden möchte, um die Sünden des Volkes zu sühnen.”
Frage: Hat Er Sich am Kreuze als Opfer für das Volk gegeben? Antwort: Ja.
Frage: Ist Er nach vollendeter Hingabe als Hoherpriester ins Allerheiligste hineingegangen? Antwort: Ja.
Frage: Ist gegenwärtig die Sühnung in ihrem Ergebnis als Versöhnung des Volkes mit Gott zu Ende gebracht? Antwort: Nein.
Frage: Wann wird das Ergebnis in Erscheinung treten? Antwort: Erst wenn Christus als Melchisedek-König und -Priester aus dem Himmel für sie herauskommt, wie das Vorbildpaar Mose, der König (5. Mose 33,5.), und Aaron, der Hohepriester, in 3. Mose 9,22-24 aus dem Allerheiligsten herauskamen. Dann werden sie als Nation den Beweis haben, dass das Opfer angenommen, ihre Sünden als Nation gesühnt, sie wohlgefällig angenommen, mit Gott versöhnt sind.
Dies, um erneut zu zeigen, dass die Versöhnung am Kreuze wohl begonnen, aber erst nach Christi Auferstehung und Himmelfahrt vollendet worden ist. Für uns, anders als für das Volk, ist an Christi Statt der Heilige Geist aus dem Himmel gekommen, um es zu bezeugen; Hebr. 10,15. Daher auch, Röm. 3,25, Christus jetzt im Himmel als Gnadenstuhl, wie der im Allerheiligsten, und 1. Joh. 2,2 Jesus Christus der Gerechte im Himmel beim Vater als Sühnung für unsere Sünden. Immer ist festzuhalten: Die Versöhnung, das Versöhntsein, kommt als zweiter Teil eines einheitlichen Geschehens: Aus geschehener Sühnung wird Versöhnung.
Daher weiter Röm. 5,10.11: „Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod Seines Sohnes [in Verbindung mit demselben als ersten Teil eines Geschehens], viel mehr werden wir, Versöhnte, die wir sind, in der Kraft Seines Lebens [als zweiten Teil eines einheitlichen Geschehens] gerettet werden. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir jetzt [da Er lebt] die Versöhnung empfangen haben.” - *
Diese Ausführungen, so wichtig sie sind, wären überflüssig, wenn unser deutsches Denken in bezug auf „versöhnen” nicht ein Hindernis wäre. Der Grieche denkt und sagt nämlich: jemand jemandem ausgleichen oder versöhnen. So dass sich leichtfaßlich von V. 14 ab ergibt: Der Christus hat beide Teile in eins zusammengebracht, hat die Scheidewand, die Anlass zur Feindschaft war, umgelegt, so dass die zugrunde liegende Absicht jetzt Wirklichkeit geworden ist: In Ihm Selbst ist jetzt durch das Kreuz ein neuer Mensch da, in welchem beide aufgegangen und also ein Leib sind. In dem einen Leibe dieses neuen Menschen präsentiert Er Gott den Ausgleich, die Stellungsveränderung, die mit beiden als Folge Seiner Hingabe für sie am Kreuze vorgegangen ist, oder wie wir sagen: die Versöhnung.
Wohl wird anderwärts von dem Leibe als von Seinem Leibe gesprochen und schon Kap. 1,22.23 gesagt, derselbe sei die Ekklesia, sei Seine Fülle; es ist aber geraten, den Gedankengang hier nicht weiter zu spinnen, als der Apostel es selbst tut. Er will einfach die für die damalige Zeit unglaubwürdig scheinende Tatsache einprägen, dass Juden und Nationen in dem Christus dergestalt ein Organismus sind, wie der menschliche Körper ein Organismus ist. Über das hinaus sollen auch wir nicht gehen. Man lese nur einmal so: „... und die beiden in der Gemeinde mit Gott versöhnte durch das Kreuz ...”, und man wird fühlen, dass das nicht genau das sagen würde, was er sagen will.
Franz Kaupp