Steinigung des Stephanus

Wie ist die Tat der Steinigung des Stephanus mit Evang. Joh. 18,31b in Einklang zu bringen, da doch die Juden nach dieser Stelle kein Recht hatten, jemand zu töten?

Antwort

Tatsächlich hatte sich Rom das ius gladii - das „Recht des Schwertes”, d. h. über Leben und Tod - vorbehalten, so dass das Synedrium der Juden wohl ein Todesurteil fällen, es aber nicht vollstrecken konnte. Es ist der Beachtung wert, dass im Falle Christi der römische Landpfleger unter Verletzung seiner Amtspflicht bereit war, die Vollstreckung des Todesurteils den Juden zu überlassen, dass sie aber keinen Gebrauch davon machten; im Falle des Stephanus aber taten sie es, ohne eine Erlaubnis dazu erhalten zu haben. Das hatte zur Folge, dass Stephanus auf ihre Gefahr hin „nach ihrem Gesetz gerichtet”, d. h. gesteinigt wurde, während Christus trotz der ihnen gegebenen Erlaubnis nicht als angeblicher Lästerer gesteinigt, sondern in übertrieben erscheinender Gewissenhaftigkeit und Unterwürfigkeit den Römern zur Kreuzigung ausgeliefert wurde. Warum? „Auf dass das Wort Jesu erfüllt würde, das Er sprach, andeutend, welches Todes Er sterben sollte.” (Joh. 18,31f.) Damit ist der tiefere Sinn der Verschiedenheit der beiden Hergänge von der göttlichen Seite dargelegt.

Der Fragesteller möchte aber auch etwas über die geschichtliche Möglichkeit des bei Stephanus geübten Verfahrens hören. Dazu ist zunächst zu sagen, dass der römische Landpfleger nicht ständig in Jerusalem, sondern in Cäsarea residierte; wir hören daher auch nichts von irgendeinem Auftreten oder Eingreifen dieses römischen Beamten. Der ganze Vorgang mag vor ihm dann als nicht zu verhindernder Akt der Volksjustiz hingestellt worden sein. Andere meinen, dass zu jener Zeit der Posten des Landpflegers gerade unbesetzt gewesen sei - die Annahme des Zeitpunkts der Steinigung des Stephanus schwankt zwischen den Jahren 34 bis 37, und Pilatus wurde 36 abberufen, worauf ein Interregnum von etwa acht Jahren gefolgt zu sein scheint. Damit wäre die Handlung der Juden, die Nichtachtung des römischen Gesetzes zugunsten des eigenen, noch verständlicher; allerdings soll daraufhin der Hohepriester Kajaphas im Jahre 37 abberufen worden sein. Damit hätte der syrische Statthalter also das eigenmächtige Vorgehen der Juden nachträglich geahndet. Aus späterer Zeit wird ein ähnlicher Vorgang berichtet: In einem gleichen solchen Interregnum (63 n. Chr.) soll Jakobus, der Bruder des HERRn, von den Juden gesteinigt worden sein; auch hier sei dann die Antwort der Römer die sofortige Absetzung des schuldigen Hohenpriesters gewesen. (Joseph. Altertümer, XX.9.1.) Bei Stephanus wäre gegen eine solche Annahme nur anzuführen, dass es nach dem Bericht der Apostelgeschichte nicht allzu wahrscheinlich ist, dass zwischen deren Beginn (Pfingsten des Jahres 30) und Kap. 7 ganze sechs oder sieben Jahre vergangen sein sollten.
v. Kietzell


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 23 (1938)