Antwort A
„Wunde” meint hier eine Wunde durch Bruch. Z. B. 3. Mo. 21,19: „ein Bruch an der Hand”. Jes. 30,13: Mauer, deren (Zusammen-) Bruch plötzlich kommt. Jes. 1,28: (Zer-) Bruch (oder: Zerschmetterung) der Sünder. Ps. 60,2: „Du hast das Land erschüttert, hast es zerrissen; heile seine Bruch (-stellen).” Jer. 6,1: „Unglück ragt herein von Norden her und großer (Ein-) Bruch (oder Zerschmetterung).”
„Joseph” steht für „Ephraim”, und dieses seit der Zweiteilung des Reiches für das Zehnstämmereich, weil Ephraim der stärkste der zehn Stämme war. Siehe z. B. Obadja 18; Hes. 37,16.17; Sach. 10,6.
„Sich über die Wunde Josephs nicht grämen” bedeutet also: gleichgültig sein gegen das Übel, welches über das Zehnstämmereich schon gekommen war und im Begriff stand, es weiter zu treffen; siehe Kap. 1 und das zweite Buch der Könige bis Kap. 17. Und das steht in Verbindung mit den mißachtete Bitten, Ermahnungen, Drohungen Gottes wegen fernerer, grober und gröbster Sünden jeder Art seit Jerobeams I. Tagen, der den Kälberdienst eingeführt hatte. Auch die Güte Gottes durch gewährte Siege und gewaltige Gebietserweiterungen unter Jerobeam II., dem Zeitgenossen Amos', leitete nicht zur Buße, vielmehr zu Sorglosigkeit, als ob es immer so bliebe, zu ungezügelter Genußsucht und Gewalttätigkeiten gegen Unterjochte, gegen Schwache und Arme. Die gegenwärtige Zeit macht die Anwendung der sich aus der Lektüre der Propheten ergebenden Lehren auf uns selber sowohl leicht als auch eindringlich. Achten wir darauf!
F. Kpp.
Antwort des Schriftleiters
Keiner, der ein wenig Verständnis für die oft geheimnisvolle Sprache der Propheten hat, wird bezweifeln, dass die oben ausgesprochene Deutung der Stelle die richtige ist. Stellen, aus denen hervorgeht, dass „Joseph” für Ephraim gesagt ist, finden sich noch öfter in der Schrift. So z. B. auch in Ps. 78,67f., einer Stelle, die von der Erwählung Davids spricht; und wenn es auch von alters her feststand, dass Juda der von Jehova erwählte Stamm für das Königtum sein sollte (vgl. den Segen Jacobs 1. Mo. 49,10!), so ist es doch angesichts der erhabenen Worte über Joseph (im Segen Jakobs 1. Mo. 49 und im Segen Moses in 5. Mo. 33), sehr bemerkenswert, dass dieser Stamm, dargestellt in den Söhnen Josephs, Ephraim und Manasse, bei weitem nicht auf der Höhe jener Segnungen blieb: er vermischte sich mit den Nationen (Hosea 6,8 u. a.) - d. h. er, der in jenen Segenssprüchen „der Abgesonderte unter seinen Brüdern” genannt wird!
Ja, Joseph - Ephraim - „blutete gleichsam aus tausend Wunden”, und dieser Zustand sollte für Israel ein Gegenstand inniger Trauer gewesen sein, aber in Sorglosigkeit und Sicherheit (Amos 6,1) ging man über diese - unbequemen! - Dinge hinweg. Und wenn unser Mitarbeiter die Stelle mit einem kurzen Satz auf den heutigen Zustand des Volkes Gottes anwendet, so sehen wir uns sofort den Verwüstungen durch Trennungen usw. innerhalb desselben gegenübergestellt und wir klagen mit dem Dichter:
„Ganz zertrennt die Heil'gen stehen - Herr Jesu, komm!
Einheit ist nicht mehr zu sehen - Herr Jesu, komm!
Satans List hat sie zerstöret, Sünd' und Welt manch Herz betöret -
Ach, wie sehr wirst du entehret, Herr Jesu, komm!”
Was ist zu tun? Sorglos drüber hinzugehen? Sich etwa nicht grämen? O im Gegenteil, vielmehr sollte die Gesinnung Nehemias und seines Bruders Hanani (Neh. 1) uns beseelen oder die von Ps. 102,14 u. a. oder die von Jes. 62,6.7 und 64,10ff.; Dan. 9 u. ä.! - Joh. 17!
Doch will ich nicht weiter auf diese Vorbilder von wahrer gottgemäßer Trauer über den Zustand des (jeweiligen) Volkes Gottes eingehen. Aber es liegt mir auf dem Herzen, noch dessen Erwähnung zu tun, daß, wenn man obige richtige Deutung der Stelle sich zu eigen gemacht hat, man auch die rein wortgetreue überlegen könnte, wie ich sie als Anwendung gebraucht habe vor einigen Jahren in einem „O Land”-Blatt: „Wehe den Sorglosen!” (Amos 6,1) Da erinnerte ich mit V. 6 an die Brüder Josephs in ihrem bösen und danach gleichgültigen Verhalten gegen ihren Bruder. (1. Mo. 37) Und ich glaube, dass wir in unserer Stelle Amos 6,6 in diesem Sinne einen ernsten Hinweis haben auf die Gefahr, der wir so leicht erliegen: wenn selbst im Glück, derer zu vergessen, die - vielleicht gar mit durch unsere Schuld - in Leidestiefen geraten sind, in denen ihnen ein wahres Mitleiden nach Gal. 6,2 u. a. not wäre und helfen könnte ... In weiterer Konsequenz dieser Deutung kämen wir auf das gleiche, wie oben gesagt, hinaus: die Bruchwunde Josephs, also des am Boden liegenden Volkes, nicht gleichgültig zu übergehen, sondern in echtem Sichgrämen darüber die Umstände jener zu den unseren zu machen, um auf diese Weise zur Auferbauung Seiner vielfach in Trümmer liegenden Gemeinde zu dienen. (Eph. 4; Kol. 2! 1. Kor. 12ff.) Genug davon! Der HERR möge uns aus aller Sorglosigkeit bezüglich Seiner Sache aufwecken, damit wir an unserem Teile wirken, „solange es Tag ist”, zur Heilung der „Wunde Josephs”, d. i. aber im Sinne des Neuen Testamentes unter anderem auch der so leicht einreißende praktische Gemeindezustand von „Laodizea”! „Sei nun eifrig und tue Buße!” (Off. 3,19)
Wie ernst ist doch Sein Wort, und wie wichtig für uns, dieses allein „unseres Fußes Leuchte und ein Licht für unseren Pfad sein zu lassen”! (Ps. 119,105) „Das Wort des HERRN bleibt in Ewigkeit!” (1. Petr. 1,23) Ihm sei Ehre!
F. K.