Schwesternsohn des Paulus

Warum erfahren wir über den Schwesternsohn des Paulus nichts näheres, und was haben wir aus dieser Begebenheit zu lernen? (Apg. 23,16ff.)

Antwort

Aus dem Abschnitt Apg. 23,16ff. ersehen wir, wie der HERR Seinen Plan, den Er dem Apostel Paulus persönlich mitgeteilt hat (V. 11), auszuführen beginnt. Es war eine besondere göttliche Vorsehung, dass dem Neffen Pauli, dem Sohne seiner Schwester, der gemeine Mordplan einer jüdischen Verschwörerbande zu Ohren kam. Dieser Neffe Pauli gehört zu den sonst nicht bekannten und sogar nicht mit Namen genannten Personen des Neuen Testaments. Vielleicht hielt er sich des Studiums halber in Jerusalem auf wie einst Paulus. Vielleicht wohnten aber auch seine Eltern in Jerusalem. Ob er selbst ein Christ war, ist nicht gesagt. Eher kann man das Gegenteil annehmen. Die verwandtschaftliche Liebe, der bei den Juden so stark ausgebildete Familiensinn erklären genugsam den Beweggrund, der ihn in die Kaserne trieb, um seinem Onkel den Anschlag aufzudecken und ihn so vor dem sicheren Tode zu retten. Wie er sich den Eintritt in die Kaserne verschaffte, wird nicht berichtet. Vielleicht hatte Paulus, der ja kein Strafgefangener war, sich vielmehr nur in Schutzhaft befand, jedenfalls nur in der leichten custodia militaris (militärischen Bewachung), das Recht, den Besuch von Freunden zu empfangen. Warum sind uns diese „unbedeutenden” Einzelheiten so genau mitgeteilt? Mir scheint, dass wir vor allem dreierlei daraus lernen können:

1. Gottes Absicht war, dass Paulus in Rom das Evangelium bezeugen sollte. Dieses Bewußtsein hätte Paulus veranlassen können, nun ganz untätig den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten und zu sehen, wie Gott zu Seinem Ziele kommen würde. Aber Paulus handelt nicht so. Er überlässt sich nicht einer mystisch-quietistischen Untätigkeit, sondern, obgleich er sich sicherlich auf Gottes Vorsehung verläßt, sieht er in der Mitteilung seines Neffen einen Wink, die natürlichen Mittel und Wege benutzen zu dürfen und zu sollen. Und zwar handelt Paulus sofort. Ähnlich handelt er später auf dem Schiff. Auch da hatte er durch ein Gesicht die göttliche Zusicherung erhalten, dass zwar das Schiff untergehen werde, dass Gott ihm aber das Leben aller Mitfahrenden geschenkt habe (Apg. 27,23.24). Trotzdem erklärt Paulus dem Hauptmann und den Soldaten, als er bemerkte, dass die Matrosen entfliehen wollten: „Wenn diese nicht im Schiffe bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden.” (V. 31.) Damit wollte er sie zum Eingreifen veranlassen, was sie auch taten. Also auch hier kein untätiges Zuschauen auf Grund der göttlichen Zusicherung. Man könnte sagen: Paulus wußte doch, dass er nach Rom kommen sollte, hätte er da nicht alles Gott überlassen und das Weitere abwarten können? Muß nicht das, was Gott beschlossen hat, geschehen? Gewiß! Wenn aber Gott uns etwas zeigt, was zur Erreichung Seines Zieles mitwirken kann, sollten wir es dankbar annehmen. Wir beten um Bewahrung und befehlen uns in Gottes Schutz, aber sehen uns doch auf der Straße vor und achten auf die Signale der Kraftwagen und dergleichen. Wir befehlen unsere Kinder dem Schutze Gottes, aber ermahnen sie doch, achtzugeben und vorsichtig zu sein. Wir senden vielleicht einen Geldbrief fort und bitten den HERRN, dass Er ihn in die Hand des Empfängers gelangen lasse, benutzen aber doch die von der Postverwaltung gebotene Sicherheit, uns durch Wertangabe vor Verlust zu sichern. So gibt es hundert und tausend Fälle, wo wir etwas tun und tun sollen, auch wenn wir in vollem Gottvertrauen stehen. Meistens sind es scheinbar kleine Dinge.
2. Wir lernen auch das, dass die Menschen mithelfen müssen, Gottes Ratschläge zu verwirklichen, auch wenn sie selbst Gottes Sinn nicht haben. Ob der Neffe Pauli ein Christ war, erfahren wir, wie oben schon gesagt, nicht. Gott aber benutzt ihn. Und nun entwickelt sich alles nacheinander, fast möchte man sagen, lawinenartig. Viele müssen mitwirken. Zunächst ein junger Mann, dessen Name nichts zur Sache tut. Dann ein Soldat, der Pauli Bitte weitergibt. Dann ein Hauptmann, der sie annimmt und weitergibt. Dann der Oberst, der willig und freundlich darauf eingeht. Dann der Brief, ein wichtiges, jedenfalls lateinisch geschriebenes Akten-Stück. Dann werden 470 Soldaten aufgeboten zur Bedeckung. Dann wird Paulus der höchsten Instanz der Provinz, dem Statthalter, übergeben. In 24 Stunden ist Gott mit Seinem Plan ein großes Stück dem Ziele nähergekommen! Welche Gedanken die Menschen dabei hatten, ist einerlei. Pauli Neffe handelte aus verwandtschaftlicher Liebe. Der Oberst wahrscheinlich in eigenem Interesse, um die Verantwortung los zu werden und durch eine Ermordung Pauli nicht in den Verdacht zu kommen, als habe er sich von dessen Feinden bestechen lassen. Vielleicht hatte er auch eine gewisse Hochachtung vor dem gefangenen Paulus, den er zuGeißelhieben hatte verurteilen lassen (22,24ff.), ohne von seiner Schuld überzeugt zu sein. (Er stellt in dem Brief die Sache in einem für sich selbst günstigeren Lichte dar.) Die Hauptleute handeln einfach aus Gehorsam. Gott benutzt alles. Alle Dinge müssen zusammenwirken. (Röm. 8,28 wörtl.)

3. Wie wichtig war es, dass Paulus auch seine Überlegung gebrauchte und die von Gott gegebene Gelegenheit ausnutzte. Gott handelt für uns, aber oft gebraucht Er dazu unsere Mithilfe und nicht nur die anderer Menschen. In den natürlichsten Vorgängen - alles in dem Bericht klingt so natürlich und alltäglich - Gottes übernatürliches Walten und Regieren zu glauben und in allem Seine Hand und Führung zu erkennen macht das Herz still und getrost. ln minimus Deus maximus: In den kleinsten Dingen ist Gott am größten. Gefällt es Ihm, einen Engel zu senden wie zu dem gefangenen Petrus, so ist Gott wohl dazu imstande (Apg. 12,7ff.); sendet Gott aber einen Menschen, einen Verwandten, einen Neffen, d. h. bedient Sich Gott scheinbar natürlicher Mittel, so sollen wir sie nicht verachten und vernachlässigen und etwa Engel (Apg. 12) oder Erdbeben (Apg. 16) erwarten!
J. W.

Bemerkungen des Schriftleiters

Über diese ebenso klare wie nüchterne Antwort werden sich hoffentlich alle Leser freuen und ihren Gewinn aus derselben ziehen!
Man hat versucht, den Apostel Paulus - in ungeziemender Weise, meine ich - zu kritisieren, als sei sein Weg von Apg. 21 an ein eigener gewesen, weswegen Gott ihn nur durch Gefangenschaft habe nach Rom kommen lassen können. Aus diesen kritischen Erwägungen heraus kommt man dann zu dem Schluß, dass die natürlichen Wege, die Gott mit ihm hier in Kap. 23 gehe, ein Zeichen dafür seien, dass sein Verhalten Gott nicht wohlgefällig gewesen sei, denn sonst hätte der HERR Sich wohl erhabenerer Mittel bedient zum Schutze des Apostels. Ich kann mich diesen menschlichen Meinungen durchaus nicht anschließen, wenngleich ich glaube, dass wir aus den letzten Kapiteln der Apostelgeschichte mehr zu lernen haben als nur Dinge, die für jedermann an der Oberfläche liegen. Aber für haltlose, fast möchte ich sagen ehrfurchtslose Kritik steht mir der Apostel doch zu hoch, zumal die Schrift nichts dergleichen sagt. Mau hüte sich, zwischen die Zeilen etwas hineinzulegen, was der Würde eines der „Heiligen Männer Gottes” Abbruch tut (was man für sich selber auch alles lernen kann)!

Nein, ich glaube vielmehr, wir haben in diesen Kapiteln deutliche Anzeichen göttlichen Wohlgefallens genug, zumal die Leiden des Apostels doch nur die Erfüllung der ihm vordem mehrfach zuteil gewordenen Prophezeiungen waren, derentwegen er selber das an Klarheit nicht zu überbietende eigene prophetische Wort Apg. 21,13 gesagt hat, dessen Echo Vers 14 ist: „Der Wille des HERRN geschehe!

Und der Wille des HERRN geschah, wer auch immer mithelfen mußte. Und in der Kette göttlicher Gnadenerweise, um das Ziel 23,11 zu erreichen, bildete der Neffe des Paulus ein wichtiges Glied. Der Verfasser obiger Antwort hält ihn für wohl nicht gläubig; ich möchte eher annehmen, er sei es gewesen; aber wenn nicht, so hat er jedenfalls nicht zu denen gehört, die dem Evangelium feindlich waren und auch nicht zu solchen Verwandten nach dem Fleisch, welche die Feinde ihrer gläubigen Angehörigen waren, was der Herr Jesus verheißt. (Vgl. Mt. 10,36.) Gewiß ist es merkwürdig, dass wir sonst nichts von ihm hören! Gerade weil er ein so naher Verwandter des Paulus ist, hörten wir gerne sonst von ihm. Gott hat nicht für gut befunden, uns näheres zu sagen, also warum danach fragen?! Seien wir sicher: Gott vergißt es dem mutigen jungen Mann nicht, dass er es gewagt hat, für das leidende Volk Gottes (in der Person des Apostels) einzutreten, und hat Er uns auch seinen Namen nicht gesagt, so lässt Er seine treffliche Tat um so lauter reden. Paulus wird selber mit Freuden dem Chronisten Lukas Mitteilung davon gemacht haben.
Was wir aus dieser Begebenheit zu lernen haben, ist uns oben klar vor Augen geführt. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Geschichte uns sicher auch dazu berichtet ist, dass wir lernen, uns mutig auf die Seite des Volkes Gottes zu stellen, auch wenn es möglichenfalls Schwierigkeiten und Gefahren mit sich bringt. Hierzu möchte ich an ein Kapitel erinnern, in dem auch eine Fülle von Ereignissen zusammentreffen mußten, um einem Gläubigen (David) große Gnade zu vermitteln: 2. Sam. 17. Hier sind auch Personen genannt, die von der göttlichen Vorsehung gebraucht werden zum Segen für andere, unter anderem auch zwei Frauen, die nicht mit Namen angeführt sind - aber Gott vergißt sie nicht! - in V. 17 u. 19ff.

Alles muss unserem großen Gott dienen zur Erreichung Seiner Ziele. Wie deutlich ist das z. B. in dem Buche der Vorsehung zu sehen: in Esther! Und noch vieles ließe sich nennen. - Was zagen wir in persönlichen Nöten? Unser Gott hat Mittel und Wege genug, uns zu segnen, wenn Er will, und lässt Er uns warten, wie den Joseph noch zwei Jahre (1. Mose 40,14ff. u. 41,2.9ff.) - um ihn dann auf dem von ihm gewünschten Wege zu befreien, aber noch dazu auch zu erhöhen - lässt Er uns warten, dennoch! Er kommt nie zu spät!

Wie kostbar ist sowohl dieses letztere als auch jenes, von Ihm in Seinen verschlungenen Wegen gebraucht zu werden, den Seinen irgendwie einmal in wunderbarer Weise dienen zu dürfen, wo wir's uns nicht so ausgesucht hätten! Sein Name sei gerühmt und gepriesen!
F. K.

"Hab Ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?" Joh. 11,40.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 13 (1928)