Antwort
Ehe wir es versuchen, diese Frage zu beantworten, müssen wir das Schriftwort selbst zu uns reden lassen. In der Hoffnung, dass jeder seine Bibel beim Lesen dieser Zeilen zur Hand und vor sich haben wird, gebe ich der Deutlichkeit halber eine sich streng an den Wortlaut haltende eigene Übersetzung: „Und ich sah die Lebewesen und siehe: ein Rad auf der Erde an jeder der vier Vorderseiten neben den Lebewesen. Das Aussehen der Räder und ihre Zusammensetzung war wie der Anblick eines Chrysoliths; und allen vieren war gleiche Gestalt eigen, so dass ihr Aussehen und ihre Zusammensetzung erschien, als wäre ein Rad in das andere gestellt. Auf allen vier Seiten ihrer Verteilung bewegten sie sich während ihres Gehens; sie wandten sich nicht bei ihrem Gang. Und ihre Felgen waren von einem Reifen gehalten und hatten Sehvermögen, da ihre Felgen von allen vier Seiten ringsherum voller Augen waren. Und beim Gehen der Lebewesen gingen auch die Räder neben ihnen, und erhoben sich die Lebewesen von der Erde, erhoben sich auch die Räder neben ihnen. Überallhin bestimmte der Geist den Gang, und sie gingen, wohin der Geist das Gehen lenkte. Und gleichlaufend mit den Lebewesen erhoben sich die Räder; denn der Geist der Lebewesen war in den Rädern. Mit ihrem Gehen gingen auch sie, und wenn sie Halt machten, blieben auch sie stehen; wenn sie sich aber erhoben, so stiegen gleichlaufend mit ihnen auch die Räder empor. Denn der Geist der Lebewesen war in ihnen.”
Das erste, worauf wir zu achten haben, ist die Zusammengehörigkeit des Räderwerkes mit den vier Lebewesen. Das Räderwerk bildet an allen vier Außen- oder Vorderseiten eine Umfriedung für die Lebewesen; nicht außerhalb des Räderwerkes, sondern innerhalb seiner Grenzen stehen die Lebewesen. Ferner sind die Räder nicht bloß äußerlich angehängt, so dass sie abgenommen oder abgestreift werden könnten, sie zeigen vielmehr eine innere Zusammengehörigkeit mit den Lebewesen und sind durch die Einheit des sie regierenden Geistes verbunden. Unzertrennlich mit den Lebewesen bewegen sie sich auf Erden und steigen neben ihnen und gleichlaufend mit ihnen zum Himmel. Der Thronwagen Gottes ist ein Werk aus einem Guß, wo keine fremden Elemente geduldet und keine Zufälligkeit zugelassen sind.
Endlich ist auf das Aussehen des Räderwerkes zu achten. Es erstrahlt in dem Farbenschmelz des Tarschith, eines Chrysoliths mit goldglänzender Färbung, und voller Augen.
Die Verbindung der Lebewesen, die, wie wir später aus demselben Propheten erfahren (10,18-20), Cherubim sind, mit den Rädern ist auffallend und kommt nur hier bei Hesekiel vor. überall in der Schrift erscheinen die Cherubim ohne Räder und treten auf als Hüter und Bewahrer göttlicher Lebens- und Machtfülle. So der Cherub mit kreisendem Schwert am Eingang des Paradieses, um den Baum des Lebens von der sündigen Menschenhand fernzuhalten (1. Mo. 3,24), an dem Sühndeckel im Allerheiligsten (2. Mo. 37,6-9 u. a.), um anbetend das Lebensgeheimnis der Versöhnung anzudeuten usw. Die Cherubim vereinigen in sich die Herrlichkeits- und Lebensfülle der mit dem göttlichen Thron verbundenen Kreatur. Was bedeuten die Räder? Sind sie in diesem wunderbaren Bilde nur eine bildlicherweise dargestellte Sache? Oder umgekehrt, durch ein dingliches Bild dargestellte Geisteswesen: Engel?
Das Rad war von jeher ein Sinnbild der Ewigkeit, wovon noch sprachlich im Hebräischen die Bezeichnung Ewigkeit mit dòr (Kreis) und des „Lebens” zeugt, was aus Jakobi 3,6 zu ersehen ist, wo der Urtext „das Rad des Seins” hat. Also das Rad als die Umrahmung des Seins, des Entstehens, des Werdens, d. i. des Lebens. Danach bilden die Räder die nach unten und in die Welt hinein ausstrahlende Herrlichkeit Gottes, deren Träger die Cherubim für die verklärte Schöpfung sind. Mit anderen Worten: um zum Leben zu kommen, das in Verbindung mit dem Throne steht, muss man sich erst in das Räderwerk einstellen. Es vermittelt und stellt auf der Erde das Leben dar. Das Räderwerk ist voller Augen. Um keine fremde Deutung in das Heiligtum der Schrift einzuführen, wollen wir uns umsehen, was das Auge nach der Schrift bedeutet und darstellt. Das Auge ist die Allgegenwart Gottes und Sein in Liebe nach den Menschenseelen stets ausspähender Retterwille, der nach Glauben und Treue sucht. Seine Augen aber sehen auch das, wovon sie sich abwenden müssen (2. Chr. 16,9; Jer. 5,3; Hab. 1,13; Sprüche 15,3). [Die gegenwärtige Fülle des Lebens.] Die Augen oder das Auge stellt die höchste Intelligenz und die tiefste Einsicht in das Wesen der Dinge dar: die Weisheit (Sprüche 22,12; Pred. 2,14).
Die goldglänzende Chrysolith- oder Jaspisfarbe ist m. E. Sinnbild der Treue und des Glaubens. In diesem Glanze erscheint der Engel dem Daniel (10,5-15), um ihm die Annahme seines gläubigen Gebets mitzuteilen - und Geheimnisse, die der Zukunft angehören.
Aus diesen Andeutungen und Winken für die Bedeutung der „Räder” entnehmen wir: 1. das Räderwerk” schließt in sich das himmlische Leben und stellt seinen Kreislauf dar; 2. es lässt dieses Leben auf Erden leuchten und lockt zur Himmelfahrt: „und sie erhoben sich”; 3. es spiegelt die große, reiche Fülle der göttlichen Weisheit von geistig-geistlichen Wesen in leiblicher Gestalt wider; 4. der Hauch und Schmelz dieser Wesen ist das Goldartige des Glaubens und der Treue. (Off. 3,18a.)
So sehe ich für mich in diesem „Räderwerk” das Sinn- und Vorbild des Leibes Christi, der Gemeinde, auf Erden. Dass wir ein Recht dazu haben, ergibt sich aus folgenden Stellen, die ich nur kurz andeute: 1. Sach. 3,9 heißt es: „Denn sehet diesen Stein, den ich vor Josua gelegt, auf diesen einen Stein sind sieben Augen gerichtet”. Dieser Stein ist die Grundlage der neuentstandenen Gemeinde, die der HERR aus der Verbannung zurückgeführt hat. Denn in Kapitel 4 desselben Propheten, wo die zukünftige Gemeinde unter dem Bilde des goldenen Leuchters gezeigt wird, ist in zwiefacher Weise von den Augen des HERRN, die die ganze Welt durchleuchten, die Rede. - Die mit Geschenken nach Jerusalem gekommenen Glieder der Verbannten (7,2-4 und 6,9-12), diese Jerusalems Wohl und die Ehre des HERRN suchenden Israeliten, sind gleichsam Augen des HERRN. In ihnen spiegelt sich die wunderbare Kraft göttlicher Macht, Weisheit und Liebe, wie das Leben der Seele im Auge des Menschen, wider, wie die himmlischen Kräfte in Gottes leuchtendem Auge.
2. Nach dem ausdrücklichen Wort des Apostels ist die Gemeinde nicht allein die Trägerin des göttlichen Lebens, sondern auch die Werkstätte der göttlichen Weisheit, die millionenfach in den Felgen der Räder voller Augen, der Glieder Seines Leibes, hervorstrahlt. Es ist nur notwendig, in stiller Sammlung Epheser 1,8-23 zu lesen und das Bild der Räder am Thronwagen sich zu vergegenwärtigen, so wird man vielleicht sofort herausfühlen, dass die Worte des Apostels ein in klarer, erleuchteter Sprache aufgelöstes Geheimnis von den himmlischen Rädern (hebr. Ophanim) sind. Man müßte noch auf den geraden, alle Hindernisse überwindenden Gang der Räder hinweisen usw. Auch könnte noch, was ich leicht andeutete, gesagt werden, dass die späteren Juden die Räder als eine besondere Engelklasse (der „Ophanim”) betrachteten.
Mehr lässt sich über diesen Gegenstand in einer kurzen Antwort nicht geben. Der Geist aber, der in den Rädern und Lebewesen war und der im Wunderwerk des Leibes Jesu Christi ist, wolle uns weiter führen und noch größere Herrlichkeiten zeigen.
N. Rudn.