Prophetischen Schriften durch Geheimnis offenbart

Römer 16,26: Welches sind die prophetischen Schriften, durch die das verschwiegen gewesene Geheimnis jetzt geoffenbart ist? Wenn es nicht alttestamentliche Schriften sind, welche neutestamentlichen? Und wenn alttestamentliche, wie kann es erst jetzt geoffenbart sein? (vgl. Eph. 3,2-11; Eph. 5,32; Kol. 1,25-27; 1,23). Ich stoße darauf beim Studium einer Offenbarungs-Auslegung von Bullinger, in der es unter anderem in einem Unterabschnitt „Die Kirche ist nicht Gegenstand alttestamentlicher Weissagung“ heißt: „Es finden sich im Alten Testament Stellen, die zur Veranschaulichung dessen gebraucht werden können, was später offenbart worden ist; aber nur als Anwendung, nicht als Lehre oder Auslegung sind sie zu benutzen. Von dem Geheimnis, die christliche Kirche (Gemeinde, Versammlung) betreffend, wird uns gesagt, dass es von der Welt her verschwiegen gewesen ist (Röm. 16,25)“ usw.

Antwort A

Wenn auch in dem Bullingerschen Buche über die Offenbarung manche Auslegungen, die sich auf dessen Sonderideen gründen, entschieden abgelehnt werden müssen, so ist der angeführte Ausspruch, dass die Gemeinde nicht Gegenstand der alttestamentlichen Weissagung ist usw., eine allgemein anerkannte Wahrheit, mit der Römer 16,26 nicht in Widerspruch steht; denn die Schrift kennt nicht nur Propheten des Alten Testamentes, sondern auch Propheten der Gemeinde. Gott hat der Gemeinde gegeben: Apostel, Propheten, Lehrer usw. (1. Kor. 12,28; Eph.4,11; Eph. 2,20.)

Paulus schreibt den Ephesern (Eph. 3,3-11), dass das Geheimnis (des Leibes Christi - Seiner Gemeinde) in anderen Geschlechtern nicht kundgetan worden ist, wie es jetzt Seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geiste geoffenbart worden ist, und in dieser Schriftstelle, Röm. 16,26, sagt er klar und deutlich, dass das Geheimnis in den Zeiten der Zeitalter verschwiegen war, aber jetzt geoffenbart sei. Wie kann er, wenn er in dem gleichen Zusammenhang von „prophetischen Schriften” redet, etwas anderes meinen als die Schriften der Apostel und Propheten, die der HERR jetzt Seiner Gemeinde gegeben hatte und auf deren Grundlage Seine Gemeinde jetzt auferbaut wurde?

Die Schriften der Apostel sowohl wie auch die Schriften der Propheten der Gemeinde sind insofern prophetische Schriften, als sie den Menschen jetzt die neuen Wege und Pläne Gottes offenbaren. Die Schriften von Männern wie Markus, Lukas usw., die nicht Apostel waren in dem Sinne wie die Zwölfe, sind wohl als prophetische Schriften anzusprechen.

An welche prophetischen Schriften Paulus in seinem Briefe an die Römer dachte, vermögen wir nicht zu sagen. Aus den Worten aber scheint hervorzugehen, dass die Gläubigen in Rom solche kannten. Nicht alles, was die Apostel und Propheten geschrieben haben, ist uns aufbewahrt geblieben, wie wir das z. B. aus Kol. 4,16 ersehen. Aber die Schriften, die (nachdem die Gemeinde durch die Apostel und neutestamentlichen Propheten ihre Gründung erhalten hatte) für die weitere Auferbauung der Gemeinde nötig waren, hat Gott uns in Seinem heiligen Buche zugeteilt.
v. d. K.

Antwort des Schriftleiters

Der genaue Wortlaut dieser Stelle nötigt zunächst nicht dazu, hier an das im Epheserbrief genannte Geheimnis von der Gemeinde zu denken, denn 1. fehlt im griechischen Grundtext vor den beiden Worten „Offenbarung” und „Geheimnis” der Artikel, der in der Elberfelder Übersetzung (aber z. B. nicht bei Wiese) steht; 2. deutet der Ausdruck „Glaubensgehorsam” in nichts auf den Epheserbrief hin, wohl aber auf Röm. 1,5, wo unleugbar von dem sich auf alle Nationen erstreckenden Evangeliumspredigtdienst Pauli die Rede ist; 3. ist der sich auf die Nationen erstreckende Heilsratschluß in Christo doch auch ein Geheimnis (vgl. das Geheimnis des Evangeliums Eph. 6,19), für das es in den prophetischen Schriften des Alten Testaments wohl viele Andeutungen gab (siehe z. B. Jes. 49,5.6 u. vgl. Röm. 11,25 u. Röm. 15,9-12), aber doch durchaus keine so klaren Enthüllungen wie in den neutestam. prophet. Schriften; 4. kann der in der Elberf. Übers. mit „Zeiten der Zeitalter” übersetzte Ausdruck ebensogut mit „in ewigen Zeiten” wiedergegeben werden, wobei er sich gar nicht auf das Alte Testament zu beziehen braucht, sondern es handelt sich um ein Geheimnis, welches in ewigen Zeiten verschwiegen war, dann aber schon durch alttestamentliche prophetische Schriften angedeutet wurde und jetzt durch neutestamentliche prophetische Schriften enthüllt ist.

Ich habe diese vier Punkte nur angeführt, um denen zu helfen, denen die Frage nach den neutestamentlichen prophetischen Schriften größere Schwierigkeiten macht, da sie wissen, dass bei der Abfassung des Römerbriefes der Epheserbrief noch nicht vorlag. An Briefen Pauli waren erst die beiden Thessalonicher- und allerdings auch die beiden Korintherbriefe geschrieben, in welch letzteren ja auch viel von der Gemeinde, dem Leibe des HERRN die Rede ist (siehe aber auch im Römerbrief Kap. 12,4.5!). Wenn man aber trotz dieser prophetischen, d. h. die Aussprüche und den Willen Gottes verkündenden Schriften und trotz der Tatsache, die auch Antwort A berührt, dass einige Schriften verloren gegangen sind, hier nicht an neutestamentliche Schriften denken zu können glaubt, so geben obige vier Punkte auch die Möglichkeit, hier ein anderes Geheimnis, einfach das des Evangeliums für alle, zu sehen, das bis zu seiner Enthüllung und Kundmachung unvordenklich lange Zeiten verschwiegen geblieben war. (Das Hineinschauenwollen der Engel in diese Dinge wird dann m. E. auch noch verständlicher, 1. Petr. 1,12.) Übrigens kannman (muss man sogar vielleicht) im Geheimnis des Heilsratschlusses, wie es durch Paulus enthüllt ist (Römerbrief usw.), das Geheimnis des Leibes Christi, aus Juden und Nationen gebildet, stets eingeschlossen sehen. Der Römerbrief gab mehr die Grundlage der Gemeinde, der Epheserbrief die Ausgestaltung. Und so hat sicher die in Antwort A vertretene Anschauung wenigstens ebensoviel für sich, oder sie ist gar die richtige und verdient jedenfalls gründlichste Prüfung.

Ich empfinde bei dem Forschen über dieser Stelle, wie „unser Wissen und Verstehen Stückwerk” ist, und schon diese Empfindung allein lässt mich das Kommen des Vollkommenen und Aufhören des Stückwerks herbeisehnen (1. Kor. 13). Dann werden wir hineinschauen in jene ungeahnten Ratschlüsse Gottes von Ewigkeit her (Eph. 1,3), und Staunen und Anbetung wird unsere Herzen erfüllen, mehr noch, ja viel völliger, als einst des Paulus Herz erfüllt war am Schluß des kostbaren Römerbriefes (V. 27).

Gepriesen sei Gott, der uns Sein Wort in die Hand gab und uns nicht im Dunkel lassen wollte über Seine Gedanken, die so unendlich viel höher sind als die unseren!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 9 (1923/24)