Lukas 6,29-30 heute noch anwendbar?

Wie ist Luk. 6,29.30 ( im Zusammenhang von V. 27-38) aufzufassen und inwieweit auch heute anwendbar?

Antwort A

Lk. 6,27-29: In 1. Kor. 13 wird die Liebe vor Augen gestellt, welche durch den Heiligen Geist in die Herzen der Gläubigen ausgegossen ist; es handelt sich um die Liebe zum HERRN, die Liebe zu den Brüdern, die Liebe zu der verlorenen Welt. An dieser Stelle lernen wir, wie diese Liebe im praktischen Leben erprobt und bewährt wird. - Hast du Feinde? Weißt du Menschen, die dich wirklich hassen? Sage vor Gott, ob du sie lieben kannst, so dass du die Gelegenheiten mit Freuden ausnutzest, um ihnen wohlzutun! Bist du beleidigt worden, in deiner Ehre gekränkt? Erinnere dich, wer es war - hast du in Liebe für ihn gebetet? Nimm es ernst mit dieser Liebespflicht! Hat dir schon jemand geflucht, dir Schmerzliches zugefügt? Hat dein Herz ihm den Segen Gottes, das Gelingen und Gedeihen zu gewünscht? Das alles hat der HERR in Vollkommenheit vor unser Auge gestellt - Er ist unser göttliches Vorbild. - Es gibt nicht nur körperlich fühlbare Backenschläge - dieselben können auch in Worten oder Briefen oder verleumderischer Nachrede gegeben werden. Kind Gottes, halte in Demut still im Blick auf den HERRN, der für dich die Geißelhiebe, die Dornenkrone und den Speichel empfing! - Dies ist der Wille des HERRN für die Seinigen in ihren persönlichen Lebensbeziehungen zu den Menschen - aber es würde ganz verkehrt sein, diese Worte da anzuwenden, wo ein Christ in amtlicher Stellung die Würde und Autorität der Regierung zu wahren hat. Es ist nicht anwendbar auf einen Herrscher gegenüber aufrührerischen Untertanen, auf Eltern gegenüber der Anmaßung empörerischer Kinder, auf Lehrer, welche von ihren Schülern Ehrfurcht zu fordern haben, auf einen Offizier (oder Beamten! Anm. der Schriftl.), der in seiner Uniform das Ansehen der Obrigkeit repräsentiert. Überall, wo es sich um die Autorität, die Ordnung in Staat und Familie handelt, gilt das Wort: „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen” (Röm. 13,2).

Lk. 6,30.31: „Gib jedem, der dich bittet”- dies Wort will göttlich nach dem Geiste, nicht menschlich nach dem Buchstaben verstanden sein. Gott gibt jedem, der Ihn bittet (vgl. Lk. 11,9.10). Aber Gott gibt nicht jedem das, war er bittet, wenn es ihm zum Unsegen ist. Wer einem Trinker oder Landstreicher auf seine lügnerischen Bittgesuche Geld gibt, welches dieser sofort in die Branntweinkneipe tragt, versündigt sich. (Vielleicht nicht immer! Es kann verschiedene Fälle geben, zumal heute, wo durch die Arbeitslosigkeit viele Menschen an unsere Türen klopfen, die nichts mit den sogenannten Landstreichern [„Monarchen”!] zu tun haben. Anmerkung der Schriftl.) Wer einem gewissenlosen, leichtfertigen, vergnügungssüchtigen Jüngling auf seine Bitte Geld borgt, bestärkt diesen in seiner leichtfertigen Verschwendung, er handelt nicht göttlich, sondern sündhaft. Eltern, die allen Wünschen ihrer weltlustigen Kinder Erfüllung gewähren, werden bittere Früchte ernten. Dies Wort will so verstanden sein: Wer es auch ist, der dir bittend naht, versetze dich in seine Lage und handle so an ihm, wie du wünschen würdest, dass man an dir handeln möchte, wenn du (oder dein eigener Sohn) an seinem Platze wärest (wäre). Der, welcher gebeten wird um eine Gabe, um ein Darlehen, um eine Barmherzigkeit, hat dadurch Gelegenheit, zu handeln nach dem Vorbilde Gottes, des großen Gebers. Ein Christ weiß: „Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, von dem Vater der Lichter” (Jak. 1,17). - Und: „Du tust Deine Hand auf und sättigst alles Lebendige nach Begehr” (Ps. 145,16). Aber bedenke: In derselben Bibel, in welcher steht: „Gib jedem, der dich bittet”, steht auch geschrieben: „Wenn jemand nicht arbeiten will, so soll er auch nicht essen!” (2. Thess. 3,10.) Sicherlich ist es gottgewollt, dass kein Hungernder ohne Speise zu empfangen von der Tür eines Gläubigen weggehen soll. Dabei aber ist zu bemerken, dass die wahre Liebe ein Wort des Erbarmens, der Ermahnung, der Warnung, der Zurechtweisung (vielleicht auch ein christliches Blatt! Die Schriftl.) hinzufügen wird. - Dies ist gewiß, dass ein Gläubiger für sich selbst nichts auf dem Wege des gerichtlichen Prozesses zurückfordern soll, was ihm zu Unrecht genommen wurde. Anders ist es da, wo ein Christ als Vormund Verantwortung trägt für den Besitz seiner Mündel.
Lk. 6,32-38: Gott liebt Seine Feinde. Auch wir waren Feinde Gottes (Röm. 5,10), aber Gott opferte Seinen eingeborenen Sohn für uns. Gott trägt und ernährt auch die Lästerer und Spötter. Welches Erbarmen! „Er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte” (Mt. 5,45). Er erhört auch das Flehen der undankbaren, gottfeindlichen Menschen. Wenn Gott alle Seine Wohltaten nur nach der Würdigkeit der Empfänger abmessen wollte oder nach dem Danke, den Er von ihnen zu erwarten hat - was würde aus dieser Erde, was würde aus uns selbst? - Kinder erkennt man daran, dass sie die Natur des Vaters offenbaren. Gottes, unseres Vaters, Natur ist Licht und Liebe, Gerechtigkeit und Gnade. Dieses Wesen sollen die Kinder Gottes offenbaren. Die Welt weiß wohl, dass sie ein Recht hat, dies zu erwarten. Alle Gläubigen sind berufene Zeugen der Gnade und Barmherzigkeit Gottes; deshalb sollten dieselben niemals unbarmherzig über die Menschen aburteilen. Natürlich ist hier nicht die Rede von Gläubigen, welche im richterlichen Amte oder als Geschworene dem Gesetz gemäß ein gerechtes Urteil sprechen sollen, sondern es handelt sich um unsere persönliche Herzensstellung und Hilfsbereitschaft gegenüber tief verschuldeten, undankbaren oder verachteten Menschen. Sicherlich darf ein Kind Gottes niemals den Ernst der Schuld, das Schreckliche der Sünde beschönigen; sondern es soll, was böse ist, böse nennen, es soll handeln nach Gottes Vorbild, der die Sünde haßt und die Sünder liebt. Auch die Gläubigen werden vor dem Richterstuhl des Christus Rechenschaft zu geben haben darüber, wie sie in diesem Stück gehandelt haben. Auch an ihnen wird erfüllt werden, was hier (V. 38) geschrieben steht - möchten wir uns mit Ernst prüfen.
G. v. V. †

Anmerkung des Schriftleiters

Wahrscheinlich haben nur wenige Leser der „Handreichung” den alten Bibellesezettelband, aus dem vorstehende Betrachtungen entnommen sind, und so können sie den praktischen Ernst derselben ganz so auf sich wirken lassen, wie wenn sie eine neue, d. h. noch nicht veröffentlicht gewesene Antwort eines unserer jetzt lebenden Mitarbeiter vor Augen hätten. Aber auch die, welche solche alten Jahrbücher der v. Viebahnschen Bibellesezettel besitzen, werden gewiß auch gern einmal im Rahmen der „Handreichungen” einige jener einstigen, so schönen, gesegneten Tagesbetrachtungen lesen! Möchten nur wir alle sie auch beherzigen!

Wieviel anders würde es in der Welt aussehen, wenn wir Gläubigen alle die Grundsätze dieses Schriftabschnittes beachten und befolgen würden! Es sind bekanntlich Grundsätze, wie sie besonders in der „Bergpredigt” bei Matthäus ausgeführt sind, und in dieser „finden wir”, wie unser lieber Mitarbeiter K. O. St. in Frg. 4, Jahrbuch 14, gesagt hat, „dass sie durchweg die Betonung auf die Gesinnung Christi legt, die uns als Seine Jünger, als Söhne Gottes in dieser Welt, kennzeichnen sollte” ... Christus steht in der Bergpredigt vor uns „als Lebenslehrer der Lebensgesetze”, der Grundgesetze wahren Lebens. - Der HERR gebe uns Gnade, in dem demgemäßen Handeln zu wachsen! Möglich ist es, sonst würde Er es uns nicht lehren!

Wie kostbar und ernst ist die Gegenüberstellung des viermaligen „Glückselig” in V. 20 und 21 mit dem viermaligen „Wehe” in V. 25 und 26! Und dann das große „Aber” von V. 27! (Vgl. das „Doch” in V. 35.) Sind wir solche „Aber”- Menschen, Menschen solchen göttlichen „Abers”? In diesem „Aber” liegt die Möglichkeit des Handelns danach!” Nun wolle man bitte beachten, dass V. 27.28 und 31-38 allgemeiner Natur sind und dass wir selber (was wir für uns wünschen, wie oben gesagt) unser Maßstab zu diesem Handeln für uns sind (V. 31 vgl. Mt. 7,12). In allen diesen Versen ist von der verallgemeinernden Mehrzahl der Handelnden die Rede („ihr”, „euch”), und auch das zeigt die Allgemeingültigkeit dieser Ermahnungen, ebenso vor allem das vergleichende „Wie” in V. 36, das nicht die gleiche Stärke unserer Barmherzigkeit, wohl aber das gleiche Wesen derselben bezeichnet. Jedoch die insonderheit angefragten Verse 29.30 sind durchaus persönlicher Natur, d. h. nicht, wie der ganze Abschnitt sich überhaupt (vgl. die Schlußausführungen von Antwort A!) mit persönlichen Stellungnahmen (und nicht amtlichen, obrigkeitlichen) beschäftigt, sondern „persönlich” in dem Sinne, dass diese Verse nicht allgemein von „ihr” reden, sondern von „dir”! Mit anderen Worten: Es gehört eine ganz besondere innere Herzensstellung dazu, vielleicht auch eine besondere göttliche Führung und Erkenntnis, um solch sicher oft schweres Verhalten zu offenbaren, wie es diese Verse zeigen. Man kann nicht von „jedermann”, nicht von jedem Gläubigen fordern, dass er so handelt; man muss auch die tragen, die aus inneren Hemmungen heraus oder aus sonstigen ernsten Gründen beispielsweise V. 30 nicht verwirklichen können (in heutiger Zeit!!). Außerdem gab es z. B. im Leben des HERRN einen Fall, wo wir sehen, dass V. 29 unbedingt wörtlich zu erfüllen nicht Gottes Wille ist: Joh. 18,21-23! Und noch eine andere, höchst bemerkenswerte Stelle der Schrift, wo Paulus um des Ansehens und der Anerkennung willen einer jungen Gemeinde seitens der Welt ganz anders als etwa wörtlich nach jenem Worte des HERRN handelt: Apg. 16,36.37- zeigt ebenso wie die genannte Joh. 18,21-23, dass sicherlich von Fall zu Fall geistlich zu unterscheiden und zu entscheiden ist, wie man sinngemäß nach des HERRN Wort Lk. 6,29.30 zu handeln hat, wenn es sich um etwas dreht, wo gleichsam „meine eigene” Angelegenheit in Frage kommt. Aber stets muss die Gesinnung des Herzens der Dessen ähnlich sein, „Der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern Sich Dem übergab, der recht richtet” (1. Petri 2,23). Der aber immer, wo es darauf ankam, der Gebende war und Der gesagt hat: „Geben ist seliger als nehmen” (Apg. 20,35).

Wie also im einzelnen Falle auch dementsprechend einschränkend zu handeln sein mag - nichts kann und darf den Ernst des Grundsatzes und der Frage abschwächen, was werden würde, wenn wir Gläubigen alle (nicht nur einzelne) nicht nur mehr, sondern überhaupt in der Gesinnung Christi (vgl. auch Phil. 2,5ff.) bewußt handeln würden nach dieser und der ganzen Lukasstelle oder nach der Bergpredigt! Möglich ist's, wie gesagt, und der HERR wünscht es, und die Gnade genügt auch dazu! Kostbare Ergebnisse würden gezeitigt werden, und das (echte) Christentum würde sicher der Welt eine größere Hochachtung abnötigen, als ihm gegenwärtig im allgemeinen zuteil wird! Nicht dass wir solche suchen sollten, aber - was uns trifft (so oder so), das trifft Ihn- das lasst uns nie außer Acht lassen! Wir sollen „Seine Zeugen” (auch in der Gesinnung!) sein (Apg. 1,8).

So lasst uns denn „Gnade haben” (nach Hebr. 12,28), um durch sie auch in diesem Stück mehr „Gott wohlgefällig” zu leben, Ihm zur Ehre!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 15 (1930)