Antwort A
In Evangelium Matthäus, Markus und Lukas ist nicht gesagt, dass der HERR Sein Kreuz Selbst trug, aber alle drei Berichte lassen deutlich erkennen, dass Simon von Kyrene das Kreuz des HERRN nicht von Anfang an getragen hat, sondern dass der Zug mit dem Herrn Jesus auf dem Wege nach Golgatha war und dass auf diesem Wege, nachdem derselbe zu einem Teil zurückgelegt war, man dem Simon von Kyrene begegnete und ihn zwang, das Kreuz für den HERRN zu tragen; „... und sie führten ihn hin, um ihn zu kreuzigen. Als sie aber hinausgingen,Der Verf.> fanden sie einen Menschen von Kyrene, mit Namen Simon; diesen zwangen sie, dass er Sein Kreuz trügen (Mt. 27,31b.32)”; „... und sie führten ihn hinaus, auf dass sie ihn kreuzigten. Und sie zwingen einen Vorübergehenden, einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Felde kam, den Vater Alexanders und Rufus', dass er Sein Kreuz trüge” (Mk. 15,20b.21); „Und als sie Ihn wegführten, ergriffen sie einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Felde kam, und legten das Kreuz auf ihn, um es Jesu nachzutragen” (Lk. 23,26). Aus diesen drei Berichten ersieht man erstens bestimmt, dass Simon von Kyrene das Kreuz für den HERRN einen Teil des Weges nach Golgatha getragen hat, aber nur einen Teil, nicht gleich von Anfang an; und zweitens muss man nach diesen Berichten annehmen, dass er das Kreuz dann bis zum Ende des Weges getragen hat, denn es heißt einfach, dass er das Kreuz tragen musste - dass sie das Kreuz auf ihn legten, „um es Jesu nachzutragen”, und es wird nicht gesagt, dass dann noch jemand anders das Kreuz getragen habe. - Und wer hat das Kreuz den ersten Teil des Weges getragen bis dahin, wo Simon von Kyrene gezwungen wurde, es zu tragen? Die Antwort auf diese Frage ist uns sehr leicht gemacht: erstens steht geschichtlich fest, dass jeder zum Tode Verurteilte selbst das Kreuz tragen mußte, und zweitens sagt uns das Wort Gottes selbst ganz klar in der schon in der Frage hervorgehobenen Stelle Joh. 19,17, dass der HERR Selbst es getragen hat: „Und Sein Kreuz tragend, ging Er hinaus nach der Stätte, genannt Schädelstätte, die auf hebräisch Golgatha heißt ...” Diese Worte können gar nicht anders aufgefaßt und gedeutet werden, als dass der HERR tatsächlich das Kreuz, an dem Er dann gekreuzigt wurde, Selbst auf dem Wege nach Golgatha getragen hat. Dass Er es nicht den ganzen Weg getragen hat, sondern es einen Teil des Weges von Simon von Kyrene getragen worden ist, ist hier nicht erwähnt. Warum, wollen wir später betrachten.
Hiernach steht nach den vier Berichten fest, dass erst der HERR Selbst Sein Kreuz getragen hat und dann Simon von Kyrene, dieser jedenfalls bis zum Ende des Weges.
Konnte der Herr Jesus das Kreuz nicht mehr tragen - war es so, wie manche Bilder zum Ausdruck bringen und mündlich und schriftlich gesagt wird, dass der Herr Jesus unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen war? Das Wort Gottes sagt darüber nichts; aber der ebenerwähnten Annahme gegenüber ist zu bedenken, dass der durch die schwere Zimmermannsarbeit (s. Mk. 6,3) an Anstrengungen gewohnte Körper des HERRN nicht durch die Sünde geschwächt war wie der anderer Menschen und daher selbstverständlich viel widerstandsfähiger war als der eines anderen Menschen, wie auch aus dem Umstand geschlossen werden kann, dass der HERR am Kreuze am Ende der sechs Stunden unsagbarer körperlicher Leiden „mit lauter Stimme schrie” - „einen lauten Schrei von sich gab” -, ehe Er verschied (Mt. 27,50; Mk. 15,37; Lk. 23,46). Darum kann man wohl annehmen, dass der HERR das Kreuz noch weiter hätte tragen können. Aber wie dem auch sei - warum wurde gerade dieser Simon von Kyrene gezwungen, das Kreuz zu tragen? Wenn wir die Berichte lesen, berührt uns das vor uns gestellte Bild eigenartig; wir empfinden etwas wie einen großen Gegensatz zwischen dem Haufen, der den Herrn Jesus zur Kreuzigung nach Golgatha führt, und dem Simon von Kyrene, dem „Vorübergehenden”, der „vom Felde kam” - er hatte nicht mitgemacht, nicht mit geschrieen: „Hinweg mit diesem, gib uns aber den Barabbas los!” „Kreuzige, kreuzige ihn!”; er hatte sich davon ferngehalten -, und es will uns scheinen, als ob gerade darum der Haß der Menge sich gegen ihn wendete und sie gleichsam sagten: „So - nun sollst gerade du sein Kreuz tragen.” So kam es, dass dieser Mann, der so sonderbar vor unser Auge gestellt wird und über dessen inneres Empfinden uns das Wort Gottes nichts sagt - dass dieser Mann gegen seinen Willen dem HERRN in dieser schweren Stunde einen Dienst erweisen durfte, wie auch wir vielleicht manchmal erst durch Gottes Führung dazu gezwungen werden müssen, etwas für den HERRN zu tun. Aber das Tragen des Kreuzes des HERRN nach Golgatha durch Simon von Kyrene wird sicherlich auch eine sinnbildliche Bedeutung haben, die vielleicht dahin geht, dass der Mensch das Kreuz - das Gericht Gottes - verdient hat -wie durch das gezwungene Tragen des Kreuzes nach Golgatha zum Ausdruck kommt -, aber es nicht erleiden braucht, weil der Herr Jesus an seine Stelle trat und für ihn litt und starb.
Damit kommen wir zur Antwort auf den letzten Teil der Frage: „Welche praktische Bedeutung haben diese verschiedenen Berichte für uns?” Wie wir schon gesehen haben, ist von dem Tragen des Kreuzes des HERRN durch Simon von Kyrene nur in den drei Evangelien Matthäus, Markus und Lukas gesprochen, und dieses erklärt sich, wenn der eben ausgesprochene Gedanke über die sinnbildliche Bedeutung dieses Tragens des Kreuzes durch Simon von Kyrene zutrifft, daraus, dass diese drei Evangelien uns das Opfer des HERRN am Kreuze von der Seite aus zeigen, die unsere Reinigung von unseren Sünden als unserer Schuld und von der Sünde als unserem Zustand vor Gott und unsere Versöhnung mit Ihm betrifft, und zwar im Evangelium Matthäus als das Schuldopfer, im Evangelium Markus als das Sündopfer und im Evangelium Lukas als das Friedensopfer (und als das Speisopfer). Hierzu s. 3. Mose 2-5. Da sehen wir, was Sein Opfer am Kreuze für uns ist. Unsere Sündenschuld und unser sündiger Zustand mußten vor Gott weggeräumt und eine gottgemäße Grundlage für unseren Frieden und unsere Gemeinschaft mit Gott musste geschaffen werden, und dieses alles geschah allein durch das Kreuz. Bis dahin seufzten wir unter dieser Last - wie Simon von Kyrene unter der Last des Kreuzes auf dem Wege nach Golgatha -, aber am Kreuze litt und starb Er an unserer Statt und räumte damit für uns alle Schuld und Sünde weg und versöhnte uns mit Gott, so dass wir Frieden und Gemeinschaft mit Ihm haben, - In dem Evangelium Johannes aber ist uns eine andere Seite des Opfers des HERRN gezeigt. Da sehen wir Ihn in besonderer Weise als den Sohn Gottes - als den „Sohn, den niemand erkennt, als nur der Vaters” (Mt. 11,27) -, dessen „Speise” es war, den Willen des Vaters zu tun (Joh. 4,34), und dessen erstes Ziel es war, den Vater zu verherrlichen (Joh. 17,4), und darum erblicken wir Ihn hier als das Brandopfer, das ganz und allein für Gott war. (3. Mose 1) Bei dem Brandopfer handelt es sich nicht um das Wegräumen unserer Sünden an uns und der Sünde in uns, auch nicht um unseren Frieden und um unsere Gemeinschaft mit Gott, sondern um die vollkommene Befriedigung Gottes im Blick auf den Menschen überhaupt; der HERR hat das Herz Gottes vollkommen und in jeder Beziehung befriedigt, indem Er Sich „hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftendem Wohlgeruch” (Eph. 5,2), so dass Gott den Glaubenden nicht mehr dem alten Menschen nach sieht, sondern in Christo nach Seiner Vortrefflichkeit und Annehmlichkeit: Wir sind „begnadigt (oder „angenehm gemacht”) in dem Geliebten” (Eph. 1,6), und darum konnte der HERR uns die herrliche Versicherung geben, dass Gott unser Vater ist und uns liebt und wir dort sein werden, wo Er ist. (Joh. 14,3; 16,27; 17,24; 20,17b) So sehen wir Ihn im Johannesevangelium. Daher wäre es durchaus nicht am Platze, wenn hier von dem Tragen des Kreuzes durch Simon von Kyrene die Rede wäre; Er trug es - der schuldige, sündige, versöhnungs- und friedebedürftige Mensch hat hierbei nichts zu tun! Wie erhaben ist das, was die wenigen Worte vor unsere Seele stellen: „Und Sein Kreuz tragend, ging Er hinaus nach der Stätte, ...”. Nur Gott, der Vater, vermag völlig zu schätzen, was das ist; möchten auch wir es mehr und mehr erkennen und schätzen lernen!
Th. K.
Antwort des Schriftleiters
Man könnte es bei der vorstehenden sehr schönen, klaren und für viele durchaus einleuchtenden Antwort bewenden lassen, und ich würde es auch tun, wenn ich nicht den inneren Trieb spürte, auch die andere Meinung zu Worte kommen zu lassen. Freilich wird dadurch die Beantwortung zweifelhafter, aber es ist doch immerhin von Vorteil, wenn jeder Leser veranlasst wird, sich selbst ein Urteil zu bilden auf Grund verschiedener Anschauungen. Denn wo das Wort Gottes uns nichts Genaues sagt, sind wir darauf angewiesen, auf Grund vorhandener Andeutungen das zu finden, was uns, d. h, jedem einzelnen das Wahrscheinlichere zu sein scheint.
Das Johannesevangelium stellt alle Dinge sozusagen an den rechten Platz, es sieht die Dinge gewissermaßen nicht von unten, von menschlichen Gesichtspunkten, sondern von oben, von göttlicher Warte aus an. In ihm ist gezeigt, „wer es ist” (4,10), von dem die Rede ist: der Sohn, der Ewige, das Wort, der Eingeborene, die Wahrheit usw. Darum könnte es m. E. sein, dass Er, der natürlich nimmermehr, wie auch oben gesagt, unter Seinem Kreuze zusammengebrochen ist (die sogen. christliche Kunst irrt sich oft!) - dass Er das Kreuz gerade den zweiten Teil des Weges getragen habe! Ich behaupte dies nicht, stelle es nur zur Erwägung. Aber die Worte, die Simon von Kyrene betreffen: Mt. 27,31b.32; Mk. 15,20b.21; Lk. 23,26 - was ist dann mit denen?! Nun, es ist nicht gesagt, dass es sich bei dem „Hinausgehen” um das aus der Stadt bezieht, es kann auch das gemeint sein aus dem Prätorium! Nach dem Lukasevangelium ist es m. E. auch gar nicht schwer, so zu urteilen. Aber behaupten will und kann ich es nicht. Doch stelle ich noch eins zur Betrachtung. Zugegeben: es war Sitte, dass der Verurteilte selbst sein Kreuz tragen mußte, aber könnten nicht die in obiger Antwort so fein ausgeführten Gedanken betr. Simons gerade zu Anfang, als sie ihn vorbeigehen sahen, in den Hirnen der fanatisierten Menge entstanden sein, so dass sie gleichsam, wie einer plötzlichen Eingebung folgend, ihn zum unfreiwilligen Kreuzträger machten? Und ist es nicht denkbar, dass er, gerade er, vielleicht von morgendlicher Arbeit auf dem Felde ermüdet, als gezwungener Kreuzträger schwach wurde und nicht imstande war, das Kreuz (das wir uns übrigens nicht so schwer denken müssen, wie es auf manchen Bildern aussieht!) den ganzen - vielleicht den Überlieferungen betr. des in seiner Lage umstrittenen Golgathas nach - ca. 600 Meter langen Weg zu tragen? Womöglich ist er unter der Last zusammengebrochen, so dass dann derjenige das Kreuz zu tragen bekam, dem es gebührte, wie es sich für Gott „geziemte, den Anführer unserer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen” (Hebr. 2,10)?! Gezwungene Kreuzträger halten selten aus - ich meine es in geistlicher Hinsicht! Der HERR aber - nach dem Johannesevangelium - tat in Gemeinschaft mit dem Vater (vgl. 10,15-18) alles freiwillig, und zwar bis hin zu Seinem herrlichen „Es ist vollbracht!” (19,30). Er hielt durch, Er blieb Er Selbst!
Es sind keine Behauptungen über die Frage, nur Erwägungen, die ich anstelle und die uns vielleicht auch zeigen, daß, wo die Schrift schweigt, wir auch nichts weiter können als sinnen und wiederum sinnen! Und das scheint mir so gut zu sein. „Wir erkennen stückweise!” (1. Kor. 13,9) Genug davon! Die übrigen kostbaren Ausführungen obiger Antwort (die Anwendungen!) werden nicht durch meine Worte berührt, sie behalten ihre ganze Gültigkeit und können mit vollstem Recht beanspruchen, gründlich betrachtet und angenommen zu werden!
lasst uns zum Schluß zu diesen praktischen Gedanken noch den hinzunehmen, dass wir Gläubigen auf Grund Seines Kreuzes keine gezwungenen Kreuzträger mehr sind, sondern dass es unser herrliches Vorrecht ist, in Seiner Kraft und in Gemeinschaft mit Ihm unser Kreuz zu tragen (vgl. Mt. 10,38; 16,24; Mk. 8,34; Lk. 9,23;
14,27), d. i. aber - zu wandeln nach Gal. 6,12.14 u. a., bis wir am Ziele sind! Denn auch uns gilt:
„Euch ist es in Bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden.” (Phil. 1,29) Sein Name sei gelobt!
F. K.