kann man denn vor seiner Geburt sündigen?

Durch einen Theosophen bin ich auf Joh. 9,1-3 aufmerksam gemacht; kann man denn vor seiner Geburt sündigen? und warum wiederholt Jesus in V. 3 die Redeweise von V. 2?

Antwort A

Soviel ich weiß, gibt es in der Schrift keine Stelle, die meinen lassen könnte, es sei möglich, vor seiner Geburt zu sündigen, und die angeführte Stelle scheint mir auch nicht diesen Sinn zu haben, vielmehr eine verneinende Antwort zu sein.

Als die Jünger den HERRN fragten, waren sie noch durch den Gedanken beeinflußt, welchen die Pharisäer in V. 34 ausdrücken, wonach man annehmen darf, dass dieser Gedanke ziemlich verbreitet war: dass die Blindheit dieses Menschen (V. 1) die Folge einer von ihm oder seinen Eltern begangenen Sünde gewesen sei. Der HERR aber braucht in Seiner Antwort die Redeweise Seiner Jünger eben, um ihr mehr Wichtigkeit zu geben. Nein, das Wort Gottes lässt nie denken, man könne vor seiner Geburt sündigen, und wäre es der Fall, so würden die Theosophen die Gelegenheit nicht vergehen lassen, andere Schriftstellen anzuführen.

Es ist klar, dass die, welche denken, der Mensch wäre in Eden nicht gefallen, einen Ausweg suchen, um die Verantwortlichkeit der Sünde wegzuschaffen und „Ungerechtigkeit in Gott” zu finden (Röm. 9,14).
R. W. D.

Antwort B

Wenn dieser Theosoph die Aufmerksamkeit auf diese Verse richtete, um dadurch, wie es scheint, ein Sündigen vor der Geburt zu begründen, dann verstehe ich nicht, wie er dies aufrecht zu halten wagt im Blick auf die verneinende Antwort des HERRN! Es scheint, dass er in dem HERRN nicht „Gott geoffenbart im Fleische” sieht und darum Seinen Worten so wenig Wert beilegt, sondern vielmehr die neugierige Frage der Jünger für seine unbiblische Anschauung ausbeutet. Dass die erste Frage zu verneinen ist, wird kaum nötig sein zu sagen. Die Sünde war freilich die Ursache, dass er blind war, insoweit Sünde als solche in Frage kommt. Blindheit würde es sicher nicht geben, wenn nicht Sünde in die Welt gekommen wäre. Doch hier antwortet der HERR, wie es scheint, auf das, was die Jünger darunter verstanden. Sie dachten vielleicht an Schriftstellen wie 2. Mose 15,26; 34,7; 5. Mose 28,28, wo Krankheiten als Strafe von Gott angesehen wurden, hingegen Wohlergehen als eine Bevorzugung von Gott. Haben sie aber die Sünde vor der Geburt gemeint, so hat der HERR diese Frage für alle Zeiten beantwortet, erledigt und für immer beseitigt. Dadurch waren die Jünger nicht nur in Gefahr, den armen Blinden zu verurteilen, etwas zu tun, woran der HERR weder Teil noch Gemeinschaft gehabt hätte, da Er in Seiner Gnade sich anschickte, das Gegenteil zu tun, sondern auch sich zu erheben, wozu sie weder Recht noch Grund hatten.

Wenn der HERR die Redeweise von V. 2 wiederholt, tut Er es nur, um zu zeigen, dass es sich hier nicht einerseits um die Gerechtigkeit des Waltens Gottes handelt noch um die Schuld des Menschen, sondern „auf dass die Werke Gottes an ihm geoffenbart würden.” Gott war in Christo gegenwärtig in Gnade. Krankheiten waren mithin nur willkommene Gelegenheiten für Gott, Sich in Gnade zu verherrlichen. Welche wunderbaren Gedanken der Gnade hat Gott in bezug auf uns, und wie wenig gehen wir auf Seine Gedanken ein, leider aber zu viel auf die unserigen! Der HERR gebe uns in diesen dürren Zeiten Gnade, dass unsere Augen mehr und mehr für die Herrlichkeit und alles überwältigende Gnade unseres HERRN geöffnet werden!
K. O. St.

Antwort C

Die Frage berührt einen viel tieferen Gegenstand und ist viel wichtiger, als es zunächst scheint.
Wie wäre es möglich, dass der Mensch vor seiner Geburt sündigen könnte? Wenn sein Dasein erst mit seiner Zeugung seinen Anfang nimmt und er bis zu seiner Geburt erst im Werden begriffen ist, erscheint jene Möglichkeit völlig ausgeschlossen. Dieselbe setzt folglich unbedingt ein Vor-Dasein voraus, d. h. also, dass der Mensch bereits vor seiner Zeugung in einem geistigen Zustande besteht. Das ist es denn auch, was jene behaupten, welche sagen, dass der Mensch vor seiner Geburt sündigen könne. Diese Behauptung bildet also den eigentlichen Kern der Frage. Entscheidend hierüber kann für uns allein das Wort Gottes sein, die einzige Quelle der Wahrheit. Dasselbe kennt aber etwas derartiges durchaus nicht, sondern spricht im Gegenteil vom Menschen in einer Weise, die ein Vor-Dasein desselben in irgendwelcher Form gänzlich ausschließt. Nur vom Herrn Jesus spricht es anders (s. z. B. Joh. 1,1-3 verb. mit V. 14; 1. Joh. 4,2.3a). Jene irren also, indem sie sich nicht in den Grenzen und Linien des Wortes Gottes bewegen, sondern ihren eigenen Gedanken folgen. Darum ist es auch gar nicht zu verwundern, wenn solche Menschen andererseits den Herrn Jesus, den Sohn Gottes, welcher Gott ist, über alles gepriesen in Ewigkeit (Röm. 9,5), nicht als solchen anerkennen, sondern Ihn nur als einen Menschen betrachten, wie ihre Einbildung Ihn sich schafft. - Wie schrecklich irrt doch der Mensch, wenn er nicht glaubend sich durch Gottes Wort und Geist unterweisen läßt, sondern das Wort Gottes nur zu dem Zwecke benützt, seine eigenen, irrenden Gedanken zu begründen. So ist es im vorliegenden Falle. Liegt in der Frage der Jünger in V. 2 überhaupt der Gedanke, dass jener Mensch blind geboren sein könne infolge von Sünde, die er vor seiner Geburt getan habe? Nein. Das zeigt die Antwort des Herrn Jesu in V, 3. Wenn die Jünger bei ihrer Frage jenen irrigen Gedanken gehabt hätten, hätte der HERR in keiner Antwort nicht ihre eigene, solchen irrigen Gedanken ausdrückende Redeweise einfach benützen können, wie Er es getan hat, da Er sie damit doch nicht nur in ihrem Irrtum belassen, sondern sie sogar darin bestärkt hätte. Solches hätte dem Wesen und der Gewohnheit des HERRN völlig widersprochen. Die Jünger brauchten aber auch gar nicht einen solchen verkehrten Gedanken zu haben: Sie hatten den Blindgeborenen vor sich, er war alt genug, um in mancherlei Weise gesündigt zu haben, und hatte selbstverständlich gesündigt, und Gott kannte auch das Leben und alle Sünden dieses Menschen, ehe er war, ebenso genau wie nachher; daher konnte sein Blindgeborensein ihm in den weisen Wegen Gottes sehr wohl wegen Sünde auferlegt sein, die er in seinem Leben begangen hatte, während es aber auch die Folge von Sünde der Eltern sein konnte. Das ist es, was die Jünger mit ihrer Frage V. 2 meinten und was der HERR in Seiner Antwort gerade durch die Wiederholung der Redeweise in V. 2 durchaus als eine Möglichkeit anerkennt, wiewohl er für den vorliegenden Fall eine Schuld des Blindgeborenen sowohl als auch seiner Eltern verneint und zeigt, dass Gott einen anderen Zweck im Auge hatte. -

Das Wort Gottes verneint also die Frage, ob ein Mensch vor seiner Geburt sündigen könne, ganz entschieden. Wohl sagt es uns, dass der Mensch „in Ungerechtigkeit geboren” und „in Sünde empfangen” (Ps. 51,5), also von allem Anbeginn an sündig ist, aber das ist eine ganz andere Sache. Dafür trifft keinen Menschen eine Schuld, und dafür wird er infolgedessen auch von Gott nicht verantwortlich gemacht. Gott ist ein gerechter Richter, und Er legt niemandem etwas zur Last, wofür er gar nicht Schuld trägt. Deshalb gab Er Seinen Sohn nicht nur dahin, um unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holze zu tragen (1. Petr. 2,24), sondern auch, um die Sünde der Welt wegzunehmen (Joh. 1,29). Die Sünde - die Quelle der Sünden - ist daher für jeden Menschen in Christo am Kreuze gerichtet; kein Mensch, auch der Ungläubige nicht, wird wegen der „Sünde” gerichtet und gestraft werden, sondern die, welche nicht errettet sind durch den persönlichen Glauben an Jesus Christus, werden gerichtet werden nach ihren Werken (Off. 20,11-15); für diese ist der Mensch verantwortlich. - Der HERR bewahre uns, auch nicht um Haaresbreite von Seinem Worte abzuweichen!
Th. K.

Anmerkung des Herausgebers

Obwohl auch in A und B wichtige Fingerzeige liegen, so scheint uns doch erst Antwort C, die sich mit unserer Auffassung völlig deckt, den Kern der Stelle zu treffen. Gott sieht die Menschheit und die Menschheitsgeschichte gewissermaßen nicht so, wie wenn wir etwa von einem Berge aus weit in die Ferne sehen, und je weiter, desto undeutlicher. Er sieht sie also nicht vorgeschichtlich, sondern von oben (übergeschichtlich) - etwa wie Johannes in der Offenbarung die Gerichte Gottes. - Gott überschaut der Menschen ganzes Tun, das der geborenen wie der ungeborenen; Er sieht, ob sie nach ihrem eigenen Willen sich betätigen oder ob sie gläubig werden usw., und handelt demgemäß! Und so wäre es denkbar gewesen, dass Er hier diesem Manne die Blindheit gegeben haben könnte etwa als Strafe oder Erziehungsmittel für etwas, was er in Gottes Augen schon getan hatte, obwohl es von vor seiner Geburt aus gesehen noch in der Zukunft lag. Die Frage der Jünger war also nicht gar so töricht. Aber ebensowohl ist zu beachten, dass die Schuldfrage in diesem Falle gar nicht in Betracht kommt. Vielmehr sollen die „Werke Gottes” an diesem Manne offenbar werden (V. 3). Und unter diesem Gesichtspunkt wird manches Leiden auch in der Jetztzeit aufzufassen sein!


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 2 (1914)