Dass Matthäus falsch zitiert habe, ist gänzlich undenkbar.
Wenn es uns schon auffällt, daß betreffendes Zitat nicht in Jeremia steht, dann hat das ein Jude wie Matthäus erst recht gewußt. Darum haben auch verschiedene jüdische Gelehrte, die das Werk von Matthäus im Ansinnen angegriffen haben, seine Beweisführungen zur Identität Jesu von Nazareth als den Messias zu widerlegen, alle nur denkbaren Einwände gegen Matthäus aufgegriffen, sich aber nicht am erwähnten Zitat gestoßen. Warum nicht? Weil Matthäus offensichtlich gänzlich im Einklang mit jüdischer Praxis zitiert, und diese ist nicht ganz so pedantisch wie unsere heutige.
So konnte man beispielsweise ein Zitat David zuschreiben, wenn es aus dem Buch der Psalmen stammte, ohne dort aber ausdrücklich als Psalm Davids gekennzeichnet zu sein (Apg 4,25; Ps. 2; Hebr. 4,7; Ps. 95).
Gesetz, Propheten und Schriften:
Hier liegt die Sache ähnlich: Nach jüdischer Tradition wird das Alte Testament in drei große Teile unterteilt, wie noch auf jeder hebräischen Bibelausgabe zu sehen ist, nämlich in Gesetz, Propheten und Schriften. Unser Herr hat die Einteilung selbst berücksichtigt (Luk. 24,27). Die Propheten nun werden in die zwei Untergruppen vordere und hintere Propheten eingeteilt, wobei die vorderen die historischen Bücher, die hinteren die eigentlichen prophetischen Bücher sind. Nun konnte man aus einem Propheten zitieren und sagen, es stehe "in Jeremia", weil man häufig die gesamten hinteren Propheten nach dem ersten Buch derselben nannte; und das erste Buch war bei den Juden hier nicht wie bei uns Jesaja, sondern Jeremia. Man vergleiche dazu die Antwort der Jünger auf die Frage des Herrn in Matth. 16,14, wonach etliche meinten, Jesus sei "Jeremia oder einer der Propheten": Auch hier hat Jeremia diese prominente Stellung. Im Talmud steht Jeremia in der Reihenfolge der prophetischen Bücher ebenfalls an erster Stelle.
Als nun Matthäus in Anlehnung an jüdische Gepflogenheiten in unserer Stelle schrieb "wie durch den Propheten Jeremia geredet ist", wußten seine Leser genau, welchen Propheten er meinte. Es liegt also kein "Gedächtnisfehler" vor, den u.a. ein so geachteter Ausleger wie Th. Zahn unserem Evangelisten unterstellt. Nein, auch hier bleibt das Wort Gottes das von ihm inspirierte, vollkommene Wort.
Quelle: Aus dem Buch 3 x 100 Fragen zur Bibel (Schwengeler Verlag, 2003)