Hat Joseph wirklich aus dem Becher geweissagt?

Hat Joseph wirklich aus dem Becher (seinem Eigentum!) geweissagt? (1. Mose 44,5)

Antwort des Schriftleiters

Als ich kürzlich diese bei uns aus Norddeutschland eingegangene Frage ein paar Gläubigen vorlas, sagte eine Schwester sofort ohne Besinnen: „Ganz gewiß nicht! Nein!

Wenn wir es nun bei dieser Antwort bewenden ließen, so wäre der (die) Frageeinsender(in) wahrscheinlich so klug wie zuvor, denn diese Antwort wird man sich vermutlich selber schon gegeben haben. Aber damit sind wir der Frage nicht auf den Grund gekommen, und so sehr obige kurze Antwort die betreffende Schwester mit ihrer berechtigt hohen Meinung von Joseph auch ehrt, so wenig kann sie den befriedigen, dem die ganze Angelegenheit schwere Rätsel aufgibt.
Sehen wir uns den Tatbestand an! Vielleicht werden nachher manche Leser zugeben, dass in dieser Stelle des teuren Wortes Gottes mehr liegt, als sie bisher gemeint haben.

An die Spitze meiner Ausführungen, die mir der HERR gegeben hat, stelle ich das zweimal in der Schrift vorkommende Wort betreffs Josephs: „Der Abgesonderte unter seinen Brüdern.” (Im Segen Jakobs, 1. Mo. 49,26, und im Segen Moses, 5. Mo. 33,16. Welch ein Zeugnis aus zweier - und was für welcher! - Zeugen Mund!) Und warum dieses Wort zu Anfang? Weil es mehr als irgendeines imstande ist, unseren Blicken die rechte Richtung zu geben: wir sehen hinter dem schon wunderbaren, abgesonderten Joseph den unendlich viel wunderbareren „Abgesonderten unter Seinen Brüdern”, den Herrn Jesus, von dem jener Joseph ein so köstliches Vorbild ist, und zwar wie in seinen eigentümlichen Lebensführungen, so in seinem ebenso durchsichtig-klaren als auch tiefverborgenen, fast dunkel scheinenden Charakter. „Wer hat des HERRN Sinn erkannt?” (Röm. 11,34)

Joseph ist immer „der Abgesonderte”! lasst uns das fest im Auge behalten! Er ist „der Abgesonderte” nach Jakobs Worten - und da war das Gesetz noch nicht gegeben! - und er ist „der Abgesonderte” in Moses Worten - und da war das Gesetz da! Mit anderen Worten: Joseph verwirklichte in seinem Wandel das Gesetz Gottes, ohne es zu kennen noch es kennen zu können, da es noch nicht gegeben war (vgl. nur 1. Mo. 39,9 u. a.!), er wandelte so treu, dass auch ein Gesetzgeber, wie Mose es war, ihn nicht anders als „den Abgesonderten unter seinen Brüdern” nennen durfte.

Also: Wenn Joseph aus dem Becher geweissagt hätte - hätte er, der das Gesetz noch nicht hatte, dann etwas getan, was die Schrift eine ihm zuzurechnende Sünde genannt hätte („Übertretung”)? (Röm. 5 und Gal. 4) Gewiß nicht! Schon dieses darf als mit zur Beantwortung auf die Frage dienen! Man vergleiche hier das Verhalten der Rahab gegen ihr Volk, ein nach menschlichem Maßstab verräterisches, lügnerisches Verhalten, das aber von Gottes Seite noch hochbelohnt wird, da „aus Glauben” geschehen. (Jos. 2; Jak. 2,25; Hebr. 11,31) Was wußte denn Rahab von Gottes Geboten? aber sie handelte im Glauben! Denken wir nicht, dass Gott dem unheiligen Grundsatz huldige: „Der heilige Zweck heiligt die (unheiligen) Mittel!” Nein, sicher nicht, sondern: „wer da weiß, Rechtes zu tun und tut es nicht, dem ist es Sünde” (Jak. 4,17), aber ebenso: „Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde!” (Röm. 14,23) Also, noch einmal: selbst wenn Joseph aus dem Becher geweissagt hätte, so hätte er nicht das Gesetz übertreten; denn er kannte es noch nicht!

Aber nun: hat er es getan? Und wenn er es getan hätte, was hätte er dann getan? Nichts anderes, nichts Schlimmeres, als die lieben „Christen” von heute tun, wenn sie - etwa in der Silvesternacht! - „Blei gießen”! Die Formen, die das flüssige Blei im Wasser annimmt, werden gedeutet - und der Teufel steht dahinter und freut sich, die lachenden und scherzenden oder auch geheimnisvoll tuenden „guten Christen” so recht an seinem Gängelband zu haben! Ja, die Formen der Zauberei mögen in den Jahrtausenden wechseln, das Wesen bleibt das gleiche. Hier ist aber nicht einmal die Form wesentlich verändert! Die „Christen” sind bei den Ägyptern, jenen alten Zauberern, in die Schule gegangen (vgl. 2. Tim. 3,8!!). Jene hatten kostbare Trinkgefäße (und der wertvolle silberne Eigentumsbecher des Joseph, vielleicht ein Geschenk Pharaos, mochte sich in den Augen des Haushofmeisters gut für diese Zwecke eignen!) und bedienten sich kleiner Steine, gar Edelsteine, die sie ins Wasser taten, und aus den Formen- und Figurenbildungen auf der Oberfläche des Wassers oder aus sonstigem, etwa Spiegelungen und Schattierungen, deuteten oder ließen sie sich deuten ihr Leben, ihre und der Ihren Zukunft und ihr Glück!

Und solchen „Hokuspokus” sollte Joseph mitgemacht haben? Meine teuren Leser, wenn wir die Augen aufmachen, so begegnen wir Zaubereien bei den „Christen” auf Schritt und Tritt, ebenso den mannigfachsten Formen des Aberglaubens (von der 13-Furcht bis zum „unberufen” mit dem dreimaligen Klopfen unter der Tischplatte usw.), aber ein Joseph - ein Abgesonderter! - zaubert nicht, ruft nicht den Teufel an! „So glauben wir, und so reden wir!” Also mit anderen Worten: er wäre, wenn er es nicht getan hätte, unseren heutigen sogenannten Christen weit voraus gewesen! Ja, aber - es steht doch da! Wirklich?

Was wollte Joseph mit seinen Brüdern erreichen? O, er stand vielleicht doch gleichsam an Gottes Statt (vgl. 50,19), und er wollte sie „zur Buße leiten” (Röm. 2,4), zur Erkenntnis ihrer Sünde, und auf keine Art schien es diesem Weisen - weise fast wie ein Salomo! - besser möglich, als wenn er den Benjamin in eine ähnliche Lage brächte wie die, in der er einst vor mehr als 20 Jahren (1. Mo. 37) von seinen Brüdern schnöde verstoßen, verkauft, ja sozusagen dem Tode überliefert worden war. Würde er nun den Benjamin durch ein besonderes Tun isolieren, den anderen gegenüberstellen, ihrem Urteil, ihrer Handlungsweise preisgeben, dann würde er an der Art, wie sie ihn behandeln würden, sehen, ob ihre Gesinnung noch ähnlich jener, die sie einst ihm gegenüber zur Schau stellten, sein würde. Man hat gewagt, den Joseph zu kritisieren (wie man sich auch nicht entblödet hat, des Paulus Verhalten in Apg. 21 zu tadeln!!), als sei dies Experiment zu gewagt gewesen und der Erfolg zu unsicher, ja, man hat sogar gesagt (wie oben erwähnt: „der Zweck heiligt die Mittel”), sein Verfahren sei moralisch nicht einwandfrei gewesen! O über die Superklugen! Er kannte seine Brüder von einst (die ihn für 20 Silberlinge verkauft hatten!!), und sie hatten keine Liebe verdient, und doch liebt er sie und sucht ihre Herzen für die Erkenntnis ihrer Sünde von einst zu gewinnen durch Leidenserziehung vom ersten Augenblick an, wo er sie erkannt - und mit welch wachsendem Erfolg zeigt Kap. 42,21.22 und Kap. 44! Sind seine Wege mit ihnen nicht Wege der Liebe? Und muss Liebe nicht oft strafen, wenn ihr auch selbst das Herz blutet? Und welche Wege musste Gott mit Seinem Sohne gehen, und danach welche Wege mit uns, damit das Ende gut sei?! (Vgl. auch 1. Mo. 22!)

Eine Zwischenfrage: Hat der Haushofmeister wohl gewußt, was Joseph vorhatte? Ich glaube, zum Teil ja, wie die Engel auch um unsere Erlösung wissen, aber die Beweggründe seines Herzens hat er nicht gekannt, er mochte sich sehr wundern darüber, dass sein Herr solches fortgesetztes Interesse an diesen Leuten hatte. Schickt der HERR nicht auch oft „Menschen, um über unser Haupt zu fahren”, ohne ihnen zu sagen, was Er mit uns vorhat, und in anderen Fällen beauftragt Er sogar Menschen oder erlaubt sogar dem Satan, uns zu quälen (Hiob 1 u. 2; 2. Kor. 12,7ff.), um etwa diesen anderen einen Anschauungsunterricht zu geben? Nein, das geschieht wohl auch (1. Kor. 4,9!!), sondern vielmehr um mit uns Bestimmtes, ewigkeitlich Großes zu erreichen! Und so hat er seine Brüder dem Hausmeister überlassen und hat diesem Anweisungen gegeben, die ganz im Rahmen der damaligen Anschauungen standen und die jener Ägypter wohl verstand.
Was trägt nun Joseph dem Haushalter auf zu sagen? Es gibt da verschiedene Übersetzungen der Stelle, und die bei Menge mit dem Zusatz (d. h. der zweiten Frage: „Warum habt ihr den silbernen Becher gestohlen?”) ist nach der „Septuaginta” (d. h. der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes aus dem Jahre 280 bis 130 v. Chr.) angeführt; auch die lateinische Übersetzung (die „Vulgata”) aus dem vierten Jahrhundert nach Chr. hat diese Lesart. Ich persönlich kann mich für diesen Zusatz, der etwas später unverständlich Scheinendes erklären sollte, durchaus nicht erwärmen. Ich glaube vielmehr, dass Joseph sich absichtlich unklar ausdrückt und vielleicht sogar seinem Haushalter die genauere Formulierung der Anklage und ihrer Aufdeckung überläßt. Der Zweck war, die Brüder innerlich zu zerbrechen, das sollte aber auch nur von innen heraus kommen. (Sonst hätte Joseph ja ganz anders verfahren können, das bedenke man wohl! Er hatte die Macht dazu, aber was wäre dann in den Gewissen seiner Brüder erreicht? nichts!!) - Läßt Gott uns nicht oft „ins Feuer oder ins Wasser” kommen? Sind es nicht gerade von Ihm zugelassene, für Ihn natürlich ganz durchsichtige, für uns aber völlig verwirrte Zustände, Verdächtigungen (für die kein wahrer Grund vorliegt), Nebenursachen aller Art usw., die uns zur Einsicht über uns selbst und zum Zusammenbruch bringen? Nachher ist uns dann alles klar! - Wunderbar ist diese dunkle Redeweise, in der für die Brüder alles liegen konnte und lag, wie die Frucht (Frucht kommt organisch von innen heraus!) nachher zeigt! „Ist es nicht der, aus welchem mein Herr trinkt und aus dem er zu wahrsagen pflegt?” Auch wenn Joseph diese Worte buchstäblich zu sagen aufgetragen hat, so muss man nicht daraus schließen, dass er wirklich dieses getan habe, sondern sie sollen dazu dienen, den Brüdern zu zeigen, mit was für einem Mann sie es zu tun haben: ihm bleibt nichts verborgen! Und wenn Joseph nachher, gewissermaßen des Haushalters Worte berichtigend, sagt: „Wußtet ihr nicht, dass ein Mann wie ich wahrsagen (oder ‚es erraten‘) kann?” (V. 15), so soll es wieder nur den Brüdern zeigen, dass ihm gegenüber alles Leugnen zwecklos sei. Leugnen? Aber sie hatten dies doch nicht getan? Nein, sie waren weder „Kundschafter” (Kap. 42) - und zerbrachen innerlich doch schon fast völlig an dieser Anschuldigung (V. 21ff.) - noch waren sie Diebe - und doch brachte dieser Verdacht sie zur Offenbarmachung ihrer einstigen Missetat, d. h. zum völligen Zusammenbruch, zugleich aber auch zur Bloßlegung ihrer Herzen, nämlich ihrer Liebe zu Benjamin und zu ihrem Vater! (44,16!) Wie wunderbar ist Gott, unser Gott! Er vermag durch Wege Seiner Vorsehung Menschen völlig zu überführen. Wahrlich - Joseph konnte wahrsagen, aber durch Gottes Macht, seine Traumdeutungen hatten es zur Genüge gezeigt, und man kannte ihn in Ägypten als einen Mann, in dem der Geist Gottes ist. (41,38, vgl. Daniel!) Er legte nicht durch Wahrsagerei, sondern durch den Geist Gottes das Innere der Herzen bloß! Wenn der Haushofmeister seines Herrn Fähigkeiten mit dem ihm geläufigen Becherwahrsagen verbinden soll, so war das kein Tun nach dem falschen Grundsatz, den ich schon mehrfach anführte, dass der Zweck die Mittel heilige, und es war auch nicht nur eine experimentierende List - wie sehr tut man mit solcher abfälligen Denkweise dem „Abgesonderten unter seinen Brüdern” Unrecht! -, sondern es war der Gipfelpunkt seiner Erziehungswege mit seinen Brüdern, es war Vorsehung im wahrsten Sinne des Wortes! Die Wege der Vorsehung Gottes finden wir am gewaltigsten geschildert im Buche Esther, jenem biblischen Buche, in dem Gott noch nicht einmal genannt wird! Und doch ein geisteingehauchtes (inspiriertes) Buch? Ja! Dem Glauben erkennbar und kostbar!

Und nun komme ich zum Ende mit meinen Darlegungen über unsere Stelle. Mehr wollte ich zeigen, als nur ein „ja” oder „nein” geben als Antwort auf die Frage - das wird jedem aufmerksamen Leser nun wohl klar sein! Es kommt mir gar nicht auf eine solche Antwort an! Wir könnten „ja” sagen im Blick darauf, dass Joseph das Gesetz noch nicht hatte - und wir würden der Stelle doch nicht gerecht! Wir können und dürfen „nein” sagen nach allem Dargelegten, und es blieben doch Rätsel übrig! Aber wenn wir weder „ja” noch „nein” sagen - sondern uns leiten lassen zu sehen, dass es darauf ganz und gar nicht ankommt, sondern auf die Vorsehungswege Gottes, der Joseph als den treuesten der Treuen benutzt, um die Stammväter Seines auserwählten Volkes Israel innerlich und äußerlich zu bilden für ihre höchsten Aufgaben, dann verschwinden diese kleinen Schwierigleiten, und wir sehen, wie alles dem einen großen Zweck dienen muss und kann, selbst etwas, was wir nach unserer Erkenntnis der Schrift als unmöglich verwerfen und auch verwerfen dürfen (zumal doch auch die Schrift nirgends sagt und zeigt, dass Joseph sich wirklich dieser ägyptischen und modernen Wahrsagerei bedient habe! Der Geist Gottes vermischt Sich ja nicht mit dem Geist von unten.).

Ja, die Wege Gottes waren zum Ziel gekommen: Joseph war und blieb der „Abgesonderte unter seinen Brüdern”, die einst im Traum (Kap. 37,7) aufgerichtete Garbe Josephs - ein Bild von seinem auf Christus Jesus vorbildlichen Herrlichkeitsweg, der durch Leiden und Erniedrigung jeder Art zur Höhe ging! - ward jetzt in Wahrheit völlig aufgerichtet und stand, das Ziel war erreicht, die anderen Garben taten, wie einst im Traum geschehen, aber es war kein Schatten mehr zwischen ihren und seiner Garbe wie damals, als er ihnen den Traum erzählte, kein Schatten blieb mehr zwischen ihm und ihnen - die göttlichen Erziehungswege, die er mit ihnen ging, beseitigt, war das Ende Herrlichkeit! Dunkle, verschlungene Wege führten zu diesem Ziel - und ist es bei uns anders? Verstehen doch auch wir oft das Tun unseres Gottes nicht, zweifeln gar an Ihm. Und doch, das Ende ist Herrlichkeit, bei Ihm droben im Licht! Gepriesen sei Sein herrlicher Name und Dank sei Ihm für Sein köstliches Wort wie für alle Seine „Wunderwege”! „Hernach” werden wir alles verstehen! (Joh. 13,7!)
Ihm in allem die Ehre!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 18 (1933)