Antwort A
Diese Frage ist sehr berechtigt, und bei tieferem Nachdenken muss man zu dem Schlusse kommen, dass die Übersetzung, auf Grund deren die Frage gestellt ist (wohl die „Elberfelder”), mit der Interpunktion, die sie hat, nicht den Urtext seinem wahren Sinne gemäß wiedergibt (wie auch die von Luther nicht und jede andere nicht, die in gleicher oder ähnlicher Weise übersetzt), denn es ist nicht so und kann nicht so sein, dass wir uns gegenseitig mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern lehren und ermahnen. Das Lehren und Ermahnen hat vielmehr das Wort Gottes (oder wie hier gesagt ist, das „Wort des Christus”) zur Grundlage und zum Ausgangspunkt, während die Psalmen, Loblieder und geistlichen Lieder zum Singen da sind. Zwar gehören die Psalmen auch zum Wort Gottes, und auch sie können unter Umständen dazu benutzt werden, uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen; hier aber sind sie in Verbindung mit „Lobliedern und geistlichen Liedern” genannt, also von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, und „Loblieder und geistliche Lieder” sind doch nicht dazu da, uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen - letzterer Gedanke findet hier um so weniger Raum, wenn man beachtet, dass das im Urtext gebrauchte Wort, welches hier mit „ermahnen” übersetzt ist, nicht den Sinn von „trösten”, „ermuntern”, „stärken” in sich schließt wie ein anderes mit „ermahnen” übersetztes Wort an manchen anderen Stellen (z. B. Röm. 12,8; 1. Kor. 14,31 usw.), sondern die Bedeutung von „mahnen”, „warnen”, „zurechtweisen” hat -, sondern dazu, das zum Ausdruck zu bringen, was in unseren Herzen ist für Gott! Hiernach kommen wir zu dem Ergebnis, dass der Text im richtigen Wortlaut bzw. mit richtiger Interpunktion gar nicht sagt, dass wir uns gegenseitig „mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern lehren und ermahnen” sollen, sondern dass wir „das Wort des Christus reichlich in uns wohnen lassen sollen, indem wir in aller Weisheit uns gegenseitig lehren und ermahnen” - das ist der erste Teil des Verses -, und dann - gleichsam als notwendige Begleiterscheinung zu dem eben Gesagten -, dass wir „mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern Gott singen sollen in unseren Herzen in Gnade”. In diesem Sinne hat Dr. Heinrich Wiese übersetzt: „Das Wort des Christus soll reichlich bei euch wohnen: in aller Weisheit belehret und weiset einander zurecht, mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singet ob der Gnade Gott in eurem Herzen.” Denselben Sinn erreicht man in der „Elberfelder” Übersetzung (aber nicht in der von Luther) durch eine Änderung lediglich der Interpunktion in der Weise, dass man hinter „ermahnet” ein Komma setzt und das hinter „geistlichen Liedern” befindliche Komma beseitigt. Das entspricht auch ganz dem vor unserem Verse Gesagten (V. 12-15) und dem Wesen der Sache: Um das vorher Gesagte zu verwirklichen, bed ürfen wir dessen, dass „das Wort des Christus” reichlich in uns wohnt; dadurch empfangen wir Weisheit, indem uns durch das Wort Christus mitgeteilt wird, „der uns geworden ist Weisheit von Gott” (1. Kor. 1,30), und in dieser Weisheit sind wir fähig, einander zu lehren und zu ermahnen. Aber nicht nur das, sondern unsere Herzen werden auch angestimmt zum Lobpreis Gottes, so dass wir „mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern Gott singen”, nicht nur mit dem Munde, sondern „in unseren Herzen”, und zwar „in Gnade”, d. h.: Seine Gnade erfüllt unsere Herzen und herrscht in unseren Herzen. Und gerade dann, wenn es so ist in unseren Herzen, sind wir in dem rechten Zustande, uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen (zurechtzuweisen)!
Möchte es dem Geiste Gottes gelingen, auch in uns und unter uns das zu wirken, was wir in diesem eben betrachteten herrlichen Worte finden!
Th. K.
Antwort des Schriftleiters
Diese kurze, klare Antwort wird dem Frager (in der Schweiz!) und allen, denen die besprochene Sache schon Bedenken bereitet hat, helfen, „das Wort der Wahrheit richtig zu teilen” (2. Tim. 2,15) im unmittelbaren Sinne des Wortes, indem die Satzzeichen richtig gesetzt werden!
Woher kommen hier die verschiedenen Übersetzungen? Lediglich von verschiedenen Lesarten! Die Lesart meines Nestleschen griechischen Neuen Testamentes, das ich, zur Zeit unterwegs auf Reisen, stets mit mir führe, gibt der Auslegung unseres Mitarbeiters recht, während unter den in dem gleichen griechischen Neuen Testament befindlichen Fußnoten (andere Lesarten!) die den betreffenden Übersetzungen zugrunde liegende Lesart, welche unser Mitarbeiter bekämpft, auch enthalten ist. Es kommt also lediglich auf das jeweilige geistliche Verständnis an, ob man dieser oder jener Anschauung recht gibt. Ich entscheide mich für die gleiche, die obige Antwort vertritt. Das spreche ich gern aus.
Gleichwohl verstehe ich auch die andere, derzufolge also die Gläubigen sich „mit Psalmen (alt- und neutestamentlichen!), Hymnen und geistlichen Liedern gegenseitig lehren und zurechtweisen” sollen, während sie „in ihren Herzen (dem) Gott singen in Gnade”. Denn obwohl ich dem Frageeinsender recht geben muß, wenn er in seinem Begleitbriefe meint, durch Gesang würden oft (nur) Gefühle berührt, sonderlich durch Solo- und Chorgesang, und Tränen flössen, die vielleicht nicht immer echte Bußtränen seien, so muss ich doch aus Erfahrung sagen, dass Lieder, auch Chöre und Solos, oft eine gewaltige Wirkung auf manchen Hörer ausgeübt und auch wahre Bekehrungen gewirkt haben, und letzteres um so eher, wenn es sich nicht um ausgesprochenen Kunstgesang, sondern um schlichte, eben nicht nur die Seele, das Gefühl berührende, sondern zu Herzen gehende Darbietungen gesungenen Evangeliums handelte und handelt. Denn „der Glaube kommt aus der Verkündigung, die Verkündigung aus Gottes Wort” (Röm. 10), und da kann es unter Umständen ebensogut gesungenes wie gesprochenes Wort sein, was so tief wirkt, dass Menschen darunter zusammenbrechen. Hierüber ließe sich viel sagen, auch über die Stellungnahme der örtlichen christlichen Gemeinden zu Chor- und Sologesang, aber es führt hier zu weit; nur das sei gesagt, daß, wie über jegliche Wortdarbietung gewacht werden muss in der Gemeinde, und zwar seitens der Ältesten zuerst, so auch über die Wortdarbietungen der Chöre, deren Teilnehmer auch nur wahrhaft bekehrte Glieder der örtlichen Gemeinde sein dürfen, denn wie könnten Unbekehrte überhaupt zum Segen sowie Zeugen der (erfahrenen) Gnade sein? (Apg. 1,8) Doch genug hiervon!
Vorstehendes bezieht sich aber ja nicht auf unsere Stelle, in der doch nicht Evangeliumslieder für Unbekehrte gemeint sind, sondern geistliche Lieder, mit denen - wenn also die Stelle in dieser Lesart übersetzt wird! - sich die Gläubigen untereinander lehren und zurechtweisen sollen. Ist dies überhaupt möglich? Unser Mitarbeiter verneint es, und ich gebe ihm ja auch im ganzen recht. Dennoch glaube ich doch, dass auch die Übersetzung jener abzulehnenden Lesart eine Bedeutung haben kann, haben muß; denn wer nur jene Übersetzung hat (wie Luther, Elberf.), muss sich doch auch etwas dabei denken können, nicht wahr? Und da meine ich - unverbindlich! -, daß, wenn wir Gläubige wirklich „(für) Gott singen in unseren Herzen in Gnade”, dann auch andere Gläubige nicht nur erquickt und ermuntert, sondern auch belehrt und zurechtgebracht werden können. Es gibt sonderlich in den Stunden, wo lediglich die örtliche Gemeinde zusammenkommt, doch so kostbar-ernste Lieder allein schon in unseren jeweiligen Liederbüchern, dass durch manche von ihnen eine tiefe Wirkung auf betend singende Herzen ausgeübt werden kann. Ich denke z. B. an solche Lieder, die gleich „Lehrgedichten” - man vgl. die sieben Lieder des Alten Testaments oder das neutestamentliche Neue Lied, das Lied des Lammes, Off. 5! - die Dinge enthalten, die bei uns „völlig geglaubt” werden (Lk. 1,1), wie: „Fest stehet die Gemeinde allein auf Jesum Christ” („Die Kirche steht gegründet”), noch mehr: „Durch alle Länder schreitet siegreich der Geist des HERRN” u. dgl. m. Wenn - noch einmal betone ich's - solche Lieder, besonders aber Lieder, in denen wir den HERRN anreden, ja, anbetend preisen, wirklich betend gesungen werden, so werden sie eine belehrende, aufbauende, nötigenfalls auch strafend-zurechtweisende, ermahnende Wirkung haben und Fragen auslösen, die dann bei ihrer Beantwortung eine entscheidende Bedeutung auf aufrichtige Herzen haben werden. Das ist meine unmaßgebliche Meinung auf Grund jener Übersetzung.
Dennoch ziehe auch ich die Übersetzung, d. h. die Kommasetzung, vor, die unseren Mitarbeiter zu seiner einleuchtenden Antwort veranlasst hat. Lassen wir demgemäß „das Wort des Christus” reichlicher unter uns wohnen, damit wir in aller Weisheit uns gegenseitig zu lehren und zurechtzuweisen vermögen und damit wir befähigter werden, mit Psalmen, Hymnen und geistlichen, lieblichen Liedern in der Gnade unserem Gott in unseren Herzen zu singen! Von dem „Worte des Christus” hängt das eine wie das andere ab, d. h. von unserer Stellung zu demselben, nämlich ob wir es reichlich in uns wohnen lassen oder nicht. Möchte es so sein, dass es „reichlich in uns wohne” - zu unserer Auferbauung und zu Seiner Ehre! Amen.
F. K.