Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein.

Wie ist Phil. 2,6: „welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein“ (so Elb. Übers.) zu verstehen?

Antwort A

Die Schwierigkeit, die, im Sinne des Fragestellers, bei diesen Worten gewiß im Vordergrund steht, ist wohl zweifellos der Ausdruck „Raub”. Doch ehe wir dieses Wort des genaueren in unsere Betrachtung stellen, sei auf einige allgemeine Tatsachen hingewiesen, die mit diesem Verse der Heiligen Schrift und dem dazugehörigen Abschnitt in Verbindung stehen.

Warum spricht Paulus gerade im Philipperbrief von der Demut und der freien Selbsterniedrigung des Sohnes Gottes? Die Antwort ist unschwer aus dem Zusammenhang zu ersehen. Phil. 2 stellt deshalb die Demut Christi den Lesern als leuchtendes, nachzuahmendes Vorbild hin, weil diese zur Einigkeit ermahnt werden sollen (V. 1-4!) und weil Demut des einzelnen stets die Voraussetzung der Bruderliebe und der Einigkeit der Gesamtheit ist! Während die Kolosser in Gefahr standen, in bezug auf die im Epheserbrief gelehrte Wahrheit vom Leibe Christi, nicht mehr das Haupt festzuhalten (Kol. 2,19) und somit in Verirrungen der Lehre zu geraten (Kol. 2,8-23), waren die Philipper, wie aus den Ermahnungen in Phil. 1,27; 3,2; 4,2, besonders aber 2,1-4, hervorgeht, dahingekommen, dass das enge Band der inbrünstigen Bruderliebe sich lockern wollte, dass sich also die Glieder nicht mehr untereinander recht festhielten und damit in eine gefährliche Verirrung des Wandels und Lebens hineinzugeraten drohten. Und doch war es gerade einst die Philippergemeinde gewesen, welche die Wahrheit der Gemeinschaft der Heiligen mehr verstanden und praktischer erfaßt hatte als manche andere der ersten Christen! Dankt doch Paulus gerade dafür, dass sie alle „Mitteilnehmer” der ihm widerfahrenen „Gnade” gewesen waren (Phil. 1,7) und dass sie „Teilnahme am Evangelium” bewiesen hatten „vom ersten Tage an bis jetzt” (Kap. 1,5), und war es doch gerade die Philippergemeinde, welche „im Anfang des Evangeliums”, als Paulus aus Mazedonien wegging, ihm „in bezug auf Geben und Empfangen mitgeteilt” hatte (4,15), und zwar dies als damals einzige Gemeinde, noch ehe die anderen Versammlungen sich daran mitbeteiligten (2. Kor. 12,13; 11,8.9)! Praktische Gemeinschaft der Heiligen war also gerade die besondere Stärke im geistlichen Leben der Philipper gewesen, und darum war Satans Angriff auch mit besonderer Kraft gegen diesen Punkt gerichtet!

Das war die Veranlassung, warum der Apostel Phil. 2 schrieb. Er wußte, dass ein „Einerlei-Gesinntsein”, ein „dieselbe Liebe haben”, eine „Einmütigkeit” und Freiheit von aller „Parteisucht” nur da möglich ist, wo wahre Herzensdemut vorhanden ist. Wer aber selber hoch denkt von sich oder dem mit ihm in näherer Verbindung stehenden Kreise, mag dieser nun kirchlich, freikirchlich oder unorganisiert kirchenfrei sein, und sich dann noch mit den „anderen” vergleicht - wobei er natürlich stets zu dem Ergebnis kommt, dass er und „sein” Kreis mehr Klarheit, mehr Licht, mehr geistliches Leben habe als jene(!!) -, den wird sein Hochmut immer von neuem in Härte, Taktlosigkeit und Lieblosigkeit führen. Auch in Römer 12 finden wir dieses selbe Gesetz: Bevor der Apostel von der Bruderliebe redet - „die Liebe sei ungeheuchelt”, V. 9 und folgende -, sagt er zunächst: „Ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt” (V. 3).

Wie ganz anders der HERR! Er erniedrigte Sich Selbst! Er leerte Sich Selbst aus. Wohl hat Er nie das „Gott-gleich-sein” drangegeben! Auch als der menschgewordene Gottessohn war Er „Gott geoffenbart im Fleisch”, und insofern sind fast alle modernen Übersetzungen in einem der wichtigsten Punkte der neutestamentlichen Heilslehre nicht ganz glücklich und korrekt; dennoch aber hat Er Sein „Auf-dieselbe-Weise-wie-Gott-Sein”, das heißt, Seine gottgleiche Stellung, Seine weltregierende gottgleiche Königs- und Himmelsmajestät nicht als einen „Raub” angesehen, sondern sie für die Zeit Seiner Erniedrigung drangegeben, um uns zu erhöhen und zu erretten.
(In Phil. 2,6 ist die Übersetzung: „Er (Christus) achtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein” (vgl. Luther, Elb., Min., Wiese) - sprachlich genau genommen - unklar. Der Sohn Gottes hat nie das Gottgleichsein, d. h. die innere Wesensgleichheit mit dem Vater, aufgegeben. Auch „in der Annehmung des Fleisches blieb Er das, was Er war” (Cyrill von Alexandria um 432). Wessen Er Sich entäußerte, war „das auf die gleiche Weise wie Gott Sein (Existieren)”, d. h. die göttliche Glorie Seiner ewigkeitlichen Präexistenz. Was das Griechische betrifft, so sei bemerkt: Paulus sagt nicht, das Christus aufgehört habe ísos theó zu sein, sondern ísa theó. Isa (gleich) ist aber adverbielles Neutrum wie auch sonst oft im späteren Griechisch, auch in der Septuaginta (Hiob 5,14; 10,10; 13,12 u. a.): folglich ist eínai (sein) hier nicht als bloßes verbum substantivum (= „sein”) zu fassen, sondern bedeutet „existieren”, so dass to eínai ísa theó nicht heißt „das Gott gleich Sein” (das wäre to eínai íson theó!), sondern „das gottgleiche Sein, das Sein auf gottgleiche Weise, die gottgleiche Existenzform” (vgl. Dr. Meyer))

Was aber soll nun der Ausdruck „Raub” besagen? Diese Frage ist durchaus sehr verschieden beantwortet worden. Die Schwierigkeit wird dadurch vermehrt, dass das hier gebrauchte Wort harpagmós im außerbiblischen Griechisch äußerst selten, im Neuen Testament nur an dieser Stelle und in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes überhaupt nicht vorkommt. Dadurch wird ein Vergleichen mit anderen Stellen und das Erkennen eines „Sprachgebrauchs” unmöglich gemacht. Dazu kommt noch ein Zweites: Das Wort harpagmós kommt zwar her vondem Zeitwort harpázo,welches sehroft mit „rauben” zu übersetzen ist (z. B. Joh. 10,12; Mt. 12,29); doch bedeutet das Wort durchaus nicht notwendig immer „rauben”, sondern besagt überhaupt ganz allgemein jedes energische „erraffen”, weshalb es von der „Entrückung” der Gläubigen (1. Thess. 4,17), von der Verzückung Pauli in den dritten Himmel (2. Kor. 12,2.4.), vom Herausreißen eines Menschen aus Feuersgefahr (Judas 23) usw. gebraucht wird; überhaupt muss festgehalten werden, dass die Entstehung (Ableitung, Etymologie) eines Wortes durchaus nicht hinreichend ist, um zuverlässig den Sinn (die Definition) klarzustellen. Das vermag allein der Sprachgebrauch, und der steht in bezug auf unser Wort eben nicht recht zur Verfügung. Ferner kann man nicht mit Sicherheit feststellen, ob hier eine Sache (einegeraubte bzw. erraffte Sache) oder eine Handlung (eine Tätigkeit des Raubens bzw. Erraffens) gemeint ist. Vom sprachwissenschaftlichen Standpunktsind folglich alle die folgenden Übersetzungenund Erklärungen möglich:

Christus sah Seine gottgleiche Stellung nicht an als

1. etwas, was geraubt werden muß, dem es eigentümlich ist, dass es durch ein „Rauben” oder energisches Erraffen angeeignet wird (so Dächsel), oder als

2. einen guten Fund, einen unverhofften Gewinn, eine gute Beute, die Er festgehalten habe, wie ein Räuber seinen Raub zähe festzuhalten pflegt (so der Kirchenvater Ambrosius, auch Prof. Tholuck, Prof. Ebrard), oder

3. Christus habe die gottgleiche Stellung nicht, wie ein Sieger seinen Raub, wie Triumphe zur Schau tragen wollen (so Luther), oder

4. „Christus hielt das gottgleiche Sein nicht für ein Rauben, d. h. Er sah die gottgleiche Existenzweise, welche Er hatte, nicht so an, als solle sie Ihm ein Verhältnis es Beutemachens werden; Er dachte in Seiner vorweltlichen Existenzweise nicht, in die Welt gekommen, vermöge Seiner Gottgleichheit die Macht, Herrschaft und Herrlichkeit der Welt an Sich reißen zu wollen” (Dr. Meyer), sondern, anstatt in der Art des Beutemachens die Welt an Sich zu reißen, entleerte Er Sich Selbst und ward gehorsam bis zum Tode am Kreuz.

Welche von all diesen Erklärungsmöglichkeiten die passendste ist, kann nicht mit Hilfe der Grammatik und des Wörterbuches entschieden werden, sondern hier muss der Zusammenhang der Stelle und die paulinische Gesamtdenkweise die Antwort geben; und da scheint uns persönlich die Auffassung 2 oder vielleicht auch 4 die günstigste zu sein. Möglicherweise klingt auch die Parallele von Adam mit hindurch. Während der erste Mensch sein Herrlichkeitsziel sich durch unrechtmäßiges, gewaltsames Ansichreißen aneignen wollte, hat der zweite Mensch nicht einmal Seine ewigkeitliche gottgleiche Stellung als einen Grund angesehen, der Ihn dahin gebracht hätte, Sich mit Berufung auf ihn die Welt in der Art sieghaften Ergreifens und gewalthaften Beutemachens, d. h. durch Anwendung äußerer Macht und Kraft, an Sich zu reißen. Nur ist vielleicht doch mit dieser ganzen Erklärung 4 zuviel in den Text hineingetragen. (Wieso? Der Schriftl.)

Am meisten befriedigt uns persönlich immer noch die Erklärung, dass es sich um das Festhalten eines hochgeschätzten Besitzes handelt, oder, um es in die Worte Prof. Ebrards zu kleiden: „Etwas als ‚Raub‘ betrachten ist ein potenzierter, doppelter Gegensatz gegen: etwas rechtmäßig Besessenes freiwillig hergeben. Die Gesinnung der Selbstsucht betrachtet selbst fremdes Gut als willkommene Beute, wieviel mehr das, was sie mit Recht beanspruchen darf. Die Gesinnung der Liebe betrachtet nicht einmal das, was sie rechtmäßig besitzt, so, wie der Räuber seinen Raub betrachtet, sondern gibt es freiwillig hin.

Im übrigen wird das ganze Problem stets weitere Fragen offen lassen. Das sittliche und praktische Verständnis der Stelle wird aber dadurch nicht beeinträchtigt. Die Hauptsache ist: Die wunderbare Demut Jesu wird uns vor Augen gestellt, ganz gleich, ob der Entschluß zu dieser Demut nun im Augenblick der Menschwerdung liegt und somit noch den letzten Momenten Seiner vor-irdischen Hoheit angehört, oder ob der Apostel auf die Demut im Erdenleben des HERRN zurückblickt, kraft derer Er „in den Tagen Seines Fleisches” die gottgleiche Hoheitsstellung nur auf dem Wege der freien Selbsterniedrigung zu gewinnen bereit war. Die Hauptlehre ist für uns: „Alle aber seid gegeneinander mit Demut fest umhüllt” (1. Petri 5,5); denn Demut ist Weg und Voraussetzung der Liebe!

Zum Schluß noch etwas Allgemeines über den ganzen Abschnitt Phil. 2,5-11. Es ist überraschend zu sehen, wie dieser, in umgekehrter Reihenfolge, genau die vier Charakterbilder des HERRN enthält, die uns vom Geiste Gottes in den vier Evangelien gegeben werden.

1. Er war in göttlicher Gestalt. Er war Der, welcher von Gott, von oben, vom Himmel, vom Vater gekommen ist: Das ist der Kerngedanke des Johannes evangeliums (Adler, „Siehe”: Jes. 40,10; Zemach (Sproß): Jes. 4,2.).

2. Er macht Sich Selbst zu nichts, wurde in Gleichheit der Menschen und in Seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden: das ist das Jesusbild bei Lukas, der menschgewordene Heiland der Menschheit (Menschensymbol, „Siehe”: Sach. 6,12; Zemach: Sach. 6,12).

3. Und als Er in Seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden war, also „in den Tagen Seines Fleisches”, erniedrigte Er Sich noch weiter. Er, der in Knechtsgestalt war, erniedrigte Sich noch unter die Menschen und ward gehorsam bis zum Tode am Kreuz. Hier haben wir das Bild des HERRN als des vollkommensten Knechtes Jehovas, wie es der Evangelist Markus uns zeichnet (Stier, „Siehe”: Jes. 42,1; Sach. 3,8; Zemach: Sach. 3,8).

4. Und zuletzt wird Er erhöht und hat den Namen, der über alle Namen ist, und dann beugen sich in Seinem Namen alle Knie. Da steht der König vor uns, der König, wie Ihn Matthäus schildert, nur noch größer und herrlicher: nicht nur als der König Israels, sondern als der HERR der Welt (Löwe, „Siehe”: Sach. 9,9; Zemach: Jer. 23,5).
Das ist der Weg, den Christus ging. Mögen wir Seinen Fußspuren nachfolgen! Christus ist nicht nur der Mittler unserer Rechtfertigung, sondern auch und zugleich das personhaft lebendige Prinzip unserer Heiligung. „Wie ihr nun den Christus Jesus, den HERRN, empfangen habt, so wandelt in Ihm.” (Kol. 2,6)
Er. Sr.

Ergänzender Zusatz des Schriftleiters

Diese ausführliche klare Beantwortung unseres neugewonnenen Mitarbeiters wird uns die kostbare Stelle Phil. 2,5ff. noch lieber machen, als sie uns ohnehin schon ist. Wir haben Ursache genug, dem HERRN für diese Arbeit zu danken. Einigen Lesern wird sie freilich ein wenig zu wissenschaftlich erscheinen, andere werden sich aber auch gerade an diesem gleichsam granitnen Unterbau für die Beweisführung freuen, wenn sie auch nicht alles nachprüfen können. Als Hauptsache sind ja auch die Ergebnisse jener wissenschaftlichen Forschung für jeden Leser klar und übersichtlich, wenn man sich die Mühe des Durcharbeitens der Antwort macht.
Da nun ja, wie ich selber aus meiner Kenntnis der Grundsprache zugeben muß, die Bedeutung dieses im Neuen Testament nur einmal vorkommenden griechischen Wortes für „Raub” nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, so darf man sich aus der Untersuchung die Erklärung herauswählen, die einem am meisten dem Zusammenhang Rechnung zu tragen scheint. Auf diesen kommt hier alles an! Ich möchte dazu noch eine mir sehr zusagende Bedeutung anfügen, wobei ich auszugsweise Untersuchungen des vor einigen Jahren heimgegangenen gläubigen Prof. d. Theol. J. Kögel (dessen Schüler ich vor 25 Jahren auf der Universität in Greifswald sein durfte!) zu bringen mir erlaube.

In dem Wort für „Raub” (harpagmós) sei nicht so sehr das Festhalten zu sehen (nach Haupt!), sondern vielmehr der Sinn des „Raffens”, „Packens”. In der weltlichen Literatur sei das Verbum (Tätigkeitswort) gebraucht in der Bedeutung von „auskaufen”, „ausnutzen” (z. B. die Zeit) oder auch ... im Sinne von „die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen”. Daraus folgernd meint Kögel: „Sollten wir da nicht das Recht haben, harpagmós ganz allgemein zu deuten im Sinne der selbstsüchtigen Verwertung? ... (Vgl. den Geizhals oder den Emporkömmling) ... Es ist der Inbegriff des habsüchtigen Ansichraffens dessen, was einem geschenkt ist, mit der Absicht, es bis in das letzte hinein und zum eigenen Besten auszubeuten”. ... So hielt Jesus das „Gottgleichsein” (oder besser, wie unser Mitarbeiter es deutet: „das Sein auf gottgleiche Weise”) nicht für einen Gegenstand, der gierig zum eigenen Besten ausgeschlachtet und in diesem Sinne ergriffen wird, Er hielt es nicht für einen Gegenstand des Ausbeutens ..., sondern Er entäußerte sich in königlicher Machtvollkommenheit und freier Selbstbestimmung dieses Besitzes ...”

In dieser Weise den Punkt, auf den es ankommt, angesehen, haben die Philipper ein Vorbild in der Gesinnung (V. 5) vor sich (vgl. Frg. 3 d. J.), das imstande ist, ihre geistliche Verbindung mit den Brüdern in einer Weise zu regeln, welche Selbstsucht und Sichselbstgefallen ausschließt. Und hierauf kommt es ja in der ganzen Stelle hauptsächlich an. Welcher Übersetzung man dann auch den Vorzug geben zu müssen meint - wenn man nur der Stelle selbst gerecht wird! Vielmehr: wenn man nur die ganze unübertreffliche Erhabenheit des Vorbilds erkennt und wertet und danach das eigene Verhalten einrichtet, dann versteht man die Stelle praktisch im rechten Sinne! Und dazu gebe der HERR uns Gnade durch Seinen Geist, damit wir Ihn verherrlichen durch einen Wandel vor Ihm und untereinander im Licht und in der Liebe!
Sein „Name, der über jeden Namen ist” (V. 9), sei ewig hoch gepriesen!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 15 (1930)