Antwort A
Die der Frage zugrunde liegende Schriftstelle bildet einen Teil der sogenannten „Bergpredigt” im Matthäusevangelium. Tun wir einen Blick auf das unserer Schriftstelle Vorangehende, so finden wir - ganz kurz zusammengefaßt - folgendes: In Kapitel 4 hat der HERR Seinen öffentlichen Dienst angetreten und angefangen, „das Evangelium des Reiches” zu predigen und durch Seine Werke Sich als Den zu legitimieren, der in diesem Reiche herrschen sollte, den verheißenen Messias, den König Israels. In Kap. 5zeigt Er in den V. 1-12 die Charakterzüge und das Teil derer, die in dieses Reich eingehen, und in V. 13-16 ihre Stellung und Berufung in der Welt, während sie auf das Reich warten. Das alles war für seine Hörer ganz neu, so dass sie wähnen konnten, Er sei gekommen, „das Gesetz und die Propheten aufzulösen”, d. h. aufzuheben, ungültig zu machen. Deshalb sagt Er in V. 17-18, dass Er nicht gekommen sei aufzulösen, sondern zu „erfüllen”, und daß, bis der Himmel und die Erde vergehen, nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem „Gesetz” vergehen solle, bis alles geschehen sei. Wenn das aber so ist, wie dürfte dann irgend jemand eines der in diesem Gesetz enthaltenen Gebote „auflösen” - für ungültig erklären - und also die Menschen lehren? Niemand hat das Recht dazu! Deshalb sagt Er, fortfahrend, in V. 19: „Wer irgend nun eines dieser geringsten Gebote auflöst und also die Menschen lehrt” usw. Wir sehen hieraus ganz deutlich, dass mit dem Wort „eines dieser geringsten Gebote” eines der Gebote des Gesetzes gemeint ist, von dem der HERR soeben gesprochen hat. Mithin sind „diese geringsten Gebote” die Gebote des Gesetzes, das dem Volke Israel gegeben war, und zwar handelt es sich hierbei um das sogenannte Sittengesetz - wie: „Du sollst nicht töten”, „du sollst nicht ehebrechen” usw. -, wie die V. 21-48 zeigen.
Ehe wir zu dem zweiten Teil der Frage übergehen, wollen wir versuchen, ganz kurz eine Frage zu beantworten, die sich bei vorstehender Betrachtung uns aufgedrängt hat: Warum bezeichnet der HERR diese Gebote als die „geringsten”? Diese Bezeichnung setzt voraus, dass etwas Besseres, viel Besseres, vorhanden ist. Und so ist es: Der HERR brachte eine neue Offenbarung des Willens Gottes, die das dem Volke Israel gegebene Gesetz nicht aufhob, aber weit, weit überragt! Das „Gesetz” mit seinen Geboten hat es lediglich mit dem Menschen im Fleische zu tun und trägt einen bloßen sittlichen und zeitlichen Charakter; das Neue dagegen, das Er brachte, hat es mit der neuen Schöpfung, dem Menschen in Christo, zu tun und trägt einen geistlichen und ewigen Charakter. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Darum sind die Gebote des Gesetzes die „geringsten” Gebote, in demselben Sinne, wie in Lk. 16 der HERR den ungerechten Mammon, also die vergänglichen irdischen Güter, das „Geringste” nennt gegenüber den ewigen Dingen, die Er das „Wahrhaftige” nennt (V. 10.11). (Das ist die Auffassung des Schreibers dieser Zeilen, die aber nicht maßgebend sein soll.)
Nun kommen wir zum zweiten Teil unserer Frage, dahingehend, auf wen das „wer irgend” sich bezieht.
Hierbei verdienen zwei Merkmale besondere Beachtung: die Form des Reiches der Himmel, in welcher dieses hier zu denken ist, und die Betonung des Gesetzes.
Zum ersten Punkte: Im Matthäusevangelium wird uns der HERR als der Sohn Davids, des Sohnes Abrahams, gezeigt (1,1), also als der, dem der Thron Davids gehört - der König Israels -und in dem die dem Abraham gegebenen Verheißungen ihre Erfüllung finden. Das ist der im Alten Testament angekündigte Messias. Mit diesem war der Gedanke an das verheißene Friedens- und Segensreich verbunden. Dieses Reich war die Erwartung der Juden nach den Schriften des Alten Testaments. An diese Schriften und die darauf gegründete Erwartung knüpft das Matthäus-Evangelium an. Darum war es das messianische Reich, das der HERR verkündigte, als Er Seinen öffentlichen Dienst antrat und sagte: „Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen” (4,17.23). In dieser Gestalt ist das Reich der Himmel auch noch in der „Bergpredigt” vor uns, wenn auch bereits der Gedanke der Verwerfung des Königs dieses Reiches, des HERRN, und - als Folge dieser Verwerfung - der Hinausschiebung der Aufrichtung dieses Reiches damit verbunden ist. Dass es hier noch diese Form - das sichtbare Friedens- und Segensreich - ist, zeigt auch die Seligpreisung in V. 5: „Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben”, denn „das Land” - Palästina - war und ist der Gegenstand der Hoffnung Israels im Blick auf das messianische Reich (vergl. 2. Mo. 3,8; 1. Chr. 28,8; Ps. 37,9.11.22.29.34; Jes. 57,13b; Dan. 11,16.41), und in V. 6: „Glückselig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden”, denn in dem „Reich” unter der Herrschaft des Messias wird Recht und Gerechtigkeit herrschen, wie das Work vielfach sagt (s. Ps. 72,1-4; Jes. 2,2-4; 11,1-5 u. a. m.). Dass aber die Verwerfung des Messias und die Hinausschiebung der Aufrichtung Seines Reiches hier schon vorausgesetzt ist, zeigen uns die V. 10-12, denn sonst würde es keine Verfolgung um der Gerechtigkeit willen und kein Schmähen usw. der Seinen um Seinetwillen geben und brauchte nicht von Lohn „in den Himmeln” - anstatt im „Reich” - gesprochen werden. - Es ist also hier nicht das Reich der Himmel in der gegenwärtigen, unsichtbaren Form - diese finden wir erst in Kap. 13 eingeführt, nachdem die Verwerfung völlig ans Licht getreten ist -, sondern, wie schon gesagt, noch in der sichtbaren als das messianische Friedens- und Segensreich, wenn auch infolge des vorhandenen Widerstandes in die entfernteste Zukunft gerückt. Daraus ergibt sich, dass mit dem „wer irgend” Menschen gemeint sein müssen, die zu diesem Reich in Beziehung stehen, in der Zeit des Wartens auf dieses Reich leben. Auf jene Zeit bezieht sich V. 19; in jener Zeit kann es geschehen, dass jemand „eines dieser geringsten Gebote auflöst und also die Menschen lehrt”, ein anderer aber „sie tut und lehrt”; und nachdem das „Reich der Himmel” in Erscheinung getreten sein wird, wird das Urteil darüber gesprochen werden: der eine „wird der Geringste heißen im Reiche der Himmel”, und der andere „wird groß heißen im Reiche der Himmel”. - Und zum anderen Punkte, das Gesetz betreffend: Der HERR sagt, dass Er nicht gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, und stellt fest, dass das Gesetz auch im kleinsten bestehen bleibt, bis der Himmel und die Erde vergehen, und zeigt dann die Bedeutung des Verhaltens eines Menschen zu dem Gesetz: „Wer irgend nun eines dieser geringsten Gebote auflöst und also die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Reiche der Himmel; wer irgend aber sie tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reiche der Himmel.” Wie könnte dieses sich auf uns beziehen, die wir mit dem „Gesetz” nichts zu tun haben? Wir können doch weder das Gesetz „auflösen und also die Menschen lehren”, noch können wir es „tun und lehren”. Besonders letzteres zeigt deutlich, was wir sagen wollen: Wie können wir, die wir nicht unter Gesetz sind, das Gesetz „tun” und das Gesetz „lehren”?! Das können doch nur Menschen, die unter dem Gesetz sind!
Aus vorstehendem sehen wir, dass das „wer irgend” sich nicht auf die Gläubigen der gegenwärtigen Zeit, d. h. der Zeit von Pfingsten Apg. 2,1 an bis zur Entrückung nach 1. Thess. 4,14-17, bezieht, sondern auf Menschen, die das kommende messianische Friedens- und Segensreich verkündigen, was in der Zeit nach der Entrückung der Versammlung bis zum Eintritt dieses Reiches durch gläubige Juden und solche, die ihre Botschaft angenommen haben, geschehen wird. Auf diese bezieht sich - nach unserer Auffassung - das „wer irgend”. -
Eine geistliche Anwendung auf uns kann wohl aus Mt. 5,19 gemacht werden; das ist aber eben nur eine Anwendung und nicht der Gedanke dieser Schriftstelle. -
Th. K.
Ergänzungen des Schriftleiters
Die Feststellungen der vorstehenden Antwort sind sehr wichtig, zumal heute, wo unter Gläubigen aller möglichen Richtungen immer wieder Fragen auftauchen und Schwierigkeiten machen, die seitens solcher aufgerollt und verbreitet werden, die sich „unter Gesetz” gestellt haben, besonders seitens der Sabbatarier - Adventisten. Dem Feinde liegt daran, Verwirrung anzurichten, und das gelingt ihm mit am besten dadurch, dass er verhindert, „das Wort recht zu teilen” (2. Tim. 2,15); er hat seine Leute dazu, die es verstehen, unbefestigte Gläubige in ihr Garn zu locken. Paulus hatte auch schon mit solchen Verführern und Verführten zu tun, wie es vor allem der Galaterbrief uns zeigt. In früheren Jahrbüchern der „Handr.” haben wir uns schon oft mit diesem Gebiet zu beschäftigen gehabt, wie die Inhaltsverzeichnisse es künden. - Warum gelingt dem Feinde sein Zerstörungswerk bei vielen so gut? Weil es dem natürlichen Menschen schmeichelt, etwas tun zu können, was vor Gott - vermeintlich - Anerkennung findet. Und so wird eine menschliche Gerechtigkeit aufgerichtet, die sich aus dem Tun des Gesetzes und aus der Gnade Christi (für die eintretenden Lücken in der Gesetzesbeobachtung) zusammensetzt, und die armen Betrogenen wissen gar nicht, wie sehr sie Den entehren, der in Vollkommenheit das tat, was „dem Gesetz unmöglich ist” (vergl. Röm. 8,1ff.). Möchte sich doch keiner beunruhigen lassen durch solche, die neben den Glauben an Christus noch die Erfüllung des Gesetzes oder „dieser geringsten Gebote” als erforderlich zu einem Gott wohlgefälligen Christenleben stellen. „Wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz” (Gal. 3,21). Beachte: „wenn ... wäre - dann wäre!” Aber es ist nicht!!
Es ist auch nötig, einmal wieder darauf hinzuweisen, dass „diese geringsten Gebote” - so nennt der HERR sie!! - also die des Gesetzes, nicht zu verwechseln sind mit den „Geboten des HERRN”, die Er den Seinen (nicht also Menschen im Fleisch!) gab, bevor Er aus dieser Welt schied (vergl. Joh. 13,34.35; 14,15.21; 15,10.12; 1. Joh. 2,3.4.7.8; 3,22.24; 4,21; 5,2.3 u. a.). Diese neuen „Gebote”, die dem „Worte” des HERRN gleichgestellt werden (vgl. Joh. 14,23 mit 21), stehen stets mit dem neuen Boden in Verbindung, auf den Er die Seinen gebracht hat, mit dem der Liebe, wie man beim Nachlesen der Stellen leicht ersehen kann. Sie sind auch nur denen gegeben, die sich geliebt wissen von Ihm, nicht etwa solchen, die sich erst durch das Halten der Gebote Sein Wohlgefallen erwerben zu können hoffen. Die Gebote des HERRN, die Er den Seinen gab, sind nirgends in Beziehung gebracht zum „Gesetz in Satzungen”, wie aber jene „geringsten Gebote”!, sondern zu der Tatsache des Geistbesitzes (vergl. z. B. Joh. 14); ohne durch den Geist könnten wir nicht bewahren, was Ihm wichtig war, uns ans Herz zu legen. Seine Natur nur, Sein Geist nur befähigt uns dazu, zu wandeln Seinem Wesen gemäß. (Vergl. hierzu auch Gal. 6,1-2: Gesetz des Christus, d. h. des neuen Menschen!) Auch andere durch die Apostel gegebene Gebote, wie 1. Kor. 14,37 (34-38), stehen ganz offenbar mit dem Geiste Gottes in Verbindung (vergl. 2. Petr. 3,2: „... durch eure Apostel”!).
Welche Unterschiede bestehen doch zwischen den „geringsten Geboten” des Gesetzes, die im Reiche der Himmel ihre bleibende Bedeutung haben bezw. noch so recht bekommen werden, wenn jenes in die Erscheinung tritt, und den Geboten des HERRN, die Er den Aposteln für Seine Gemeinde gab, zu deren Verständnis und Erfüllung sie Seiner eigenen Natur, Seines Geistes, Seines Lebens teilhaftig wurden! Röm. 8!
Ich hoffe, dass diese Ergänzung obiger klaren Antwort auch manchem dienen kann.
In der Anwendung jener Stelle und vieler anderer, besonders aus der köstlichen „Bergrede” des HERRN, würde ich vielleicht weiter gehen als unser Mitarbeiter. „Alles ist euer” (1. Kor. 3,21.22) gilt für mich auch hier. Aber bei solchen Anwendungen von Stellen, die sich auf andere Zeiten beziehen, sei man recht vorsichtig, besonders vor Unbefestigten, denn wer „Auslegung” und „Anwendung” nicht recht unterscheidet, kommt leicht zu ganz falschen Schlüssen und Unklarheiten, wo nicht gar zur Vermischung von Grundsätzen, die wenig oder nichts miteinander zu tun haben. Wer aber letzterer Gefahr nicht erliegt, dem kann manche erlaubte Anwendung viel inneren Gewinn und Segen vermitteln, denn von der Schrift gilt es überall: „Wohlgeläutert ist dein Wort und dein Knecht hat es lieb”. (Ps. 119,140.)
F. K.