Die zweite Gnade

Was meint der Apostel Paulus mit der „zweiten Gnade“ in 2. Kor. 1,15?

Antwort des Schriftleiters

Leider weiß ich nicht, wie diese Frage entstanden ist bzw. durch was für Umstände der Einsender derselben sich veranlasst fühlte, sie zu stellen. Zunächst nämlich scheint doch überhaupt hier keine eigentliche oder besondere Frage vorzuliegen, da die Sachlage sehr durchsichtig ist! - Da man aber erfahrungsgemäß manchmal an Schwierigkeiten nur so vorbeitappt, ohne sie zu sehen, und wenn man sie sieht, plötzlich erschrickt, so will ich mich - wie so oft - auch mit dieser Frage gründlich beschäftigen, zumal das Textwort Schönheiten in sich birgt, die erst beim Erschließen desselben aufgehen.

Ehe ich auf die Ereignisse, die dem ganzen Sachverhalt in 2. Kor. 1,12-24 zugrunde liegen, eingehe, gebe ich zuerst hier einige Übersetzungen der erfragten Stelle an, weil jene vielleicht schon Licht über dieselbe bringen:

Elberfelder Übersetzung: „Eine zweite Gnade”;
Wiese: „einen doppelten Liebesbeweis”;
Miniatur: „eine doppelte Gunst”;
Plattdeutsch (übertragen): „zum zweitenmal eine Freundlichkeit von mir”;
Allioli: „zum zweitenmal eine Gnade”;
Weizsäcker: „zweimal die Freude”;
Luther: „abermals eine Wohltat”;
Weiß: „zweite Liebeserweisung”;
Goebel: „eine doppelte (göttliche) Gnadenwohltat”;
Menge: „eine neue Freude”.
Welches ist nun der Sachverhalt?

Der Apostel hatte offensichtlich den Plan gehabt, die Gemeinde in Korinth zu besuchen. Aus besonderer, V. 22 angedeuteter Absicht heraus aber war er (noch) nicht gekommen, war vielmehr, wie 1. Kor. 16,5-7 zeigt, noch in Ephesus, wo ihm „eine wirkungsvolle Tür aufgetan” worden sei, geblieben, hatte die Korinther aber von der Änderung seines Planes eben in dieser Stelle in Kenntnis gesetzt, er würde sonst nur im Vorbeigehen bei ihnen gewesen sein, was er aber nicht wünschte. So hatte er also seinen ursprünglichen Plan, von ihnen nach Mazedonien und von Mazedonien zu ihnen zu kommen, nicht ausführen können, weil die neuere Führung des HERRN es nicht erlaubte. Obwohl er aber, wie gesagt, ihnen die Änderung mitgeteilt hatte, scheint es doch, als ob bei einigen oder vielen leicht Argwöhnischen sein Nichtkommen Anlass zu Kritik oder Zweifeln, wenn nicht gar Verdächtigungen gegeben habe, so dass der große, treue Mann eine Frage wie 2. Kor. 1,17 aussprechen muß, was ihn sicher tief geschmerzt haben mag! Dennoch erwächst auch hier aus dem Bösen, wie so manchmal, Gutes, wenn nämlich die paulinische Regel von Röm. 12,21 angewandt wird: „Überwinde das Böse mit dem Guten!” Und eben das tat er, indem er den korinthischen Zweifel an Lauterkeit und Reinheit seiner Beweggründe zum jeweiligen Handeln (das keineswegs der „Leichtfertigkeit” entspringe) großzügig beantwortet mit einem köstlichen Hinweis auf die Unantastbarkeit und Unveränderlichkeit der Verheißungen Gottes. (2. Kor. 1,20) Wenn er schon sagen darf, dass er nicht aus Leichtfertigkeit mit dem „Ja” und „Nein” willkürlich umginge - wieviel weniger sei Gott unzuverlässig in Seinen Verheißungen! Nein vielmehr, Er sei treu, und in dem Sohne Gottes, in Jesu Christo, habe gleichsam das „Ja” Gestalt gewonnen. So bekommen wir durch den dem treuen Apostel gemachten versteckten Vorwurf wegen seiner vermeintlichen Unzuverlässigkeit eine unvergleichliche Darlegung über die Unverbrüchlichkeit der in Christo Jesu auf „Ja” gestimmten Pläne und Gedanken Gottes. Preis sei Ihm!
Zurück nunmehr zu seinem ursprünglichen Plan, zu ihnen zu kommen!

Die ganze Auffassung, die Paulus von seinen apostolischen Besuchen in den Gemeinden hatte, wovon auch die obige liebevolle Abweisung der korinthischen Verdächtigungen, die ihn schmerzten, gewissermaßen Zeugnis ablegt, zeigt, dass er jeden Dienst für den HERRN als etwas Besonderes ansieht und dass er die Gemeinden auch dazu zu erziehen sucht, seine Besuche nicht als etwas anzusehen, was „soso” („ja und nein”) sein konnte, also an sich keine feste Bedeutung habe. Im Gegenteil! Seine Besuche hatten eine sehr große Bedeutung, mochten sie nun gemäß der liebevoll ernsten Frage 1. Kor. 4,21 oder gemäß seinem Beschluß 2. Kor. 2,1 stattfinden. Sie stellten, eben weil in Christo Jesu „das Ja und Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns” ist (2. Kor. 1,20), stets eine große Gnade dar - und Gnade ist immer ein göttliches Geschenk, das den Demütigen zuteil wird! -, und solche Gnade oder, wie obige Übersetzungen wiedergeben, solche Wohltat, Freude, Liebesbeweis usw. hätte er ihnen gern zum zweitenmal zuteil werden lassen, war aber ja nicht imstande gewesen, zu kommen, um diese Gnade ihnen zukommen zu lassen. Also der Apostel sieht seine dienstlichen Besuche nicht unter dem Gesichtspunkt einer falschen Bescheidenheit an (die heute manchmal aus Heuchelei geübt wird), sondern gemäß V. 19.20 als eine herrliche Gelegenheit, an der ihm anvertrauten Gabe die Gemeinden und hier die Korinther teilnehmen zu lassen. So ist also die „zweite Gnade” nicht mehr und nicht weniger als die seitens eines Apostels ausgesprochene Bezeichnung der geistlichen Bedeutung eines Besuches zum Zweck tieferer Einführung in die Geheimnisse und Verheißungen Gottes in Christo Jesu. Mit anderen Worten: Mit dem Ausdruck „eine zweite Gnade” ist hier keineswegs irgendein oberflächlicher, sondern vielmehr ein solcher dienstlicher Besuch gemeint, dessen Charakter oder dessen Wesen Gnadenvermittlung in Christo oder nach Röm. 15,29 ein „Kommen in der Fülle des Segens Christi” ist. Und zwar hoffte er, ihnen solche Gnade zum zweiten Male - das erstemal war es anläßlich seines ersten langen Aufenthaltes in Korinth - zu bringen, was jetzt, wenn sozusagen auch „aufgeschoben”, dennoch „nicht aufgehoben” war. Denn nie kam der Apostel in einem anderen Charakter zu den Gemeinden!!

Welch eine göttlich inspirierte (geistgehauchte, „göttlich eingegebene” nach 2. Tim. 3,16) Wertschätzung des Dienstes im „Werke des HERRN”! (1. Kor. 15,58) Ja, Geliebte! und wir? Wie schätzen wir den Dienst ein, den Christus Jesus uns tut durch Sein Wort vermittels der von Ihm gegebenen Gaben? (Eph. 4 und 1. Kor. 12) Vielleicht sind die Träger der Gaben (in Eph. 4,12 werden die Personen: Evangelisten, Hirten und Lehrer selber als „gegeben”, also als „Gaben” uns vorgestellt!) selbst in ihrer eigenen Beurteilung ihres ihnen göttlich anvertrauten Dienstes ein wenig „korinthisch”, und dann werden es die Empfänger der Dienste erst recht sein, aber unsere Stelle lehrt uns, den Besuchsdienst zum Zweck der Wortverkündigung in Seinem Werk geistlich einzusetzen als eine „Gnade”, und wenn er, ob auch dem des Apostels gegenüber in größter Schwachheit und Unvollkommenheit, gleichwohl in ähnlicher Herzensgesinnung ausgeübt wird, dann wird er auch von denen, an denen er geschieht, höher, weil geistlicher eingeschätzt werden und darum auch gesegneter sein, indem er „den Hörenden Gnade darreicht” nach Eph. 4,29.
Möge es allezeit bei uns so sein, wenigstens dem Grundsatz nach, und mögen wir alle darin reichlicher zunehmen zur Ehre Dessen, dem dienen zu dürfen mit eines der größten, erhabensten Vorrechte ist. (Vgl. 1. Kor. 3,9 und 2. Kor. 6,1) Er gebe uns Gnade dazu um Seines Namens willen! Seine Gnade genügt auch darin! (2. Kor. 12,9) Preis sei Ihm!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 17 (1932)