Antwort A
Allgemein wird unter Gottes Kindern angenommen, dass der Lauf der Zeit in verschiedene Verwaltungen, Haushaltungen oder Zeitalter geteilt wird. Unser Gott ist ein ewig unveränderlicher Gott, doch handelt Er mit den Menschenkindern in den verschiedenen Zeitaltern nicht auf dieselbe Art und Weise. Stufenweise offenbart Er Sich den Menschen, denn durch den Sündenfall ist die Erkenntnis des wahrhaftigen Gottes völlig verloren gegangen, doch unser herrlicher Gott in Seiner großen Liebe hat die Absicht, sich nach und nach den Menschen kundzutun.
In der grauen Dämmerung der Weltgeschichte, sagen wir von dem Sündenfall bis zur Sintflut (1. Mose 3-7), war Gott nicht ohne Zeugen, und etwas von Gottes Wahrheit wurde gläubigen Seelen bekannt; aber die Welt entfernte sich mehr und mehr von der Erkenntnis Gottes, wie wir in Römer 1 finden. Nach dem furchtbaren Wassergericht hätte man mehr Licht oder Erkenntnis Gottes haben sollen, doch wieder verschwand das, was man hatte, und es kam wieder zum Gericht, und zwar auf der Ebene in dem Lande Sinear. (1. Mose 11)
Dann wurde eine neue Haushaltung eingeführt, und Gott knüpfte zuerst mit Abraham in Ur der Chaldäer an; und mehr Licht oder Wahrheit wurde offenbar. Dann endlich in der Wüste: Durch Moses wurde das Gesetz gegeben und auch geschrieben, und solche, die sich danach sehnten, erlangten tiefere Einblicke in das Herz Gottes. Einige hatten Lust am Gesetz Jehovas und sannen darüber Tag und Nacht. Andere beteten mit David: „Öffne meine Augen, damit ich Wunder schaue in Deinem Gesetz!” (Ps. 119,18) „Die Propheten suchten und forschten über die Errettung nach, von der Gnade weissagten sie, forschend, auf welche oder welcherlei Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete, als Er von den Leiden, die auf Christum kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach zuvor zeugte.” (1. Petr. 1,10-12) Wir dürfen vielleicht das alles „die damalige Wahrheit” nennen, Wahrheit, deren Erkenntnis ernste und demütige Seelen in dem Haushalt des Gesetzes erhalten konnten; Wahrheit, welche eine praktische Wirkung aus das Leben hatte, denn „sie sahen dadurch die Verheißungen von ferne, begrüßten sie und bekannten, dass sie Fremdlinge und ohne Bürgerschaft auf der Erde waren”. (Hebr. 11,13)
Ja, auch die damalige Wahrheit war köstlich und hatte wunderbare Wirkung auf das Leben und den Wandel der Gläubigen in einer vergangenen Verwaltung Gottes.
Nun befinden wir uns in einem Haushalt, in welchem der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist, ausstrahlt. (2. Kor. 4,4) Die Herrlichkeit der vorübergegangenen damaligen und in Schattenbildern geoffenbarten Wahrheit verschwand allmählich, gerade wie die Herrlichkeit von dem Angesicht Moses erblaßte, denn „er legte eine Decke über sein Angesicht, auf dass die Söhne Israels nicht anschauen möchten das Ende dessen, was hinweggetan werden sollte”. (2. Kor. 3,13) Die jetzige Herrlichkeit aber ist eine bleibende. Also unter dem Ausdruck „gegenwärtige Wahrheit” verstehen wir die Gesamtheit der Wahrheit, welche Gott in Seiner Gnade in der gegenwärtigen Haushaltung Seinem Volke geoffenbart hat, deren Mittelpunkt nur der Herr Jesus Christus ist. Die nebelhafte Unklarheit der Morgenstunden ist hinweggerollt worden, und die Sonne scheint in ihrer ganzen Klarheit. Vielleicht ist ein besonderer Punkt der „gegenwärtigen Wahrheit” „das Geheimnis, das von den Zeitaltern her in Gott verborgen war, der alle Dinge geschaffen hat; welches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, wie es jetzt geoffenbart worden ist Seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geiste”. (Eph. 3,2-12) Diese gegenwärtige - als Gegensatz zur damaligen - Wahrheit in ihrer ganzen Erhabenheit wurde dem Apostel Paulus durch Offenbarung kundgetan, und Petrus in seinem 2. Brief, wo der Ausdruck „gegenwärtige Wahrheit” vorkommt, verwies die Gläubigen auf die Briefe „unseres lieben Bruders Paulus”, die er „nach der ihm gegebenen Weisheit” geschrieben hat. (3,15f.) Petrus schrieb seine beiden Episteln an die Fremdlinge der Zerstreuung von Pontus, Galatien - Asien usw., und Ephesus, an deren Gemeinde Paulus seine höchste oder zentrale Epistel schrieb, war ja die Hauptstadt Asiens; also waren den Gläubigen, an welche Petrus schrieb, die Briefe Pauli, wenn auch vielleicht nicht alle, schon bekannt. Wohl dürfen wir sagen, dass die beiden Episteln Petri in erster Linie den zerstreuten Fremdlingen vom Volke Israel galten, denn er war besonders der Apostel für die Beschneidung, und so ist es leicht zu verstehen, wie wichtig es war, dass solche Gläubigen aus der Beschneidung Verständnis für die gegenwärtige Wahrheit haben sollten, aber nicht nur Verständnis dafür zu haben, sondern wie Petrus schrieb, „in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt” zu sein. Das heißt klare göttliche Gedanken über die Aufgabe, das Ziel und den Zweck dieses Haushalts zu haben; zu wissen, dass Gott jetzt ein himmlisches Volk aus allen Nationen und Sprachen sammelt, nämlich die Gemeinde; und wenn die damaligen jüdischen Gläubigen das verstanden und praktisch sich danach richteten, so blieben sie sowohl vor den Irrtümern, in welche die Galater fielen, bewahrt als auch vor dem Fehler Petri selber, der in Antiochien aus Furcht vor denen aus der Beschneidung sich von denen aus den Nationen zurückzog und sich absonderte, indem er die Zwischenwand der Umzäunung wieder aufrichtete, die Christus Selbst abgebrochen hat! (Gal. 2,11-16; Eph. 2,13-22) Vielleicht schrieb Petrus seine Episteln in Jerusalem, wo die jüdischen Gottesdienste in Verbindung mit den hinweggenommenen Schattenbildern noch gehalten wurden; wenigstens die erste Epistel schrieb er durch Silas, und er bestellte Grüße von den Auserwählten in Babylon, als ob der ganze jüdische Gottesdienst jetzt eine Verwirrung (Babel) geworden sei; und ebenso wie Jesaja 700 Jahre früher Jerusalem „Sodom und Gomorra” nannte, Jes. 1,10, so nannte Petrus Jerusalem „Babylon”, denn dort verleugnete man die gegenwärtige Wahrheit oder lehnte sie ab. (Vgl. 5,12.13)
Im Laufe der Jahrhunderte ging die Erkenntnis der gegenwärtigen Wahrheit nach und nach verloren, bis weder die himmlische Berufung der Gemeinde Christi noch die Stellung der Gläubigen in diesem bösen gegenwärtigen Zeitlauf verstanden oder verwirklicht wurden.
Gott aber in Seiner wunderbaren Gnade hat diese Wahrheit für diesen Haushalt aus Seinem Worte wieder hervorbrechen lassen; nicht auf einmal, sondern nach und nach. Unser HERR sagte: „Wenn ihr in Meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft Meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” (Joh. 8,31.32) Und als Gott einen Teil nach dem anderen der gegenwärtigen Wahrheit aus Seinem Worte hervorstrahlen ließ, da wirkte das überraschend befreiend. Wie belebend arbeitete die Wahrheit der Rechtfertigung durch den Glauben und des allgemeinen Priestertums der Gläubigen zur Zeit der Reformation! Die Ketten in dem römischen Gewissenskerker zersprangen, und man kam ans Licht; und wie rieb man bewundernd die Dunkelheit aus den Augen, um das wohltuende Licht zu erblicken! Dann sang das Herz in der Wärme des gottesgeistlichen Sonnenscheins! Später kam die biblische Wahrheit über die Gemeinde ans Licht; und wieder wurden geistliche Fesseln zerrieben, ernste Seelen freuten sich über ihr ewiges und lebendiges Einssein in Christo und ließen sich nicht mehr durch die menschlich gemachten Grenzen der verschiedenen Konfessionen voneinander fernhalten. Die Wahrheit über das Kommen des HERRN für Seine Gemeinde kam auch zum Vorschein, und dieses Stück der gegenwärtigen Wahrheit hat ein reinigendes Resultat in den Herzen derer, die darin gefestigt wurden. (1. Joh. 3,3) Dass der HERR endlich in großer Macht und Herrlichkeit erscheinen wird mit Seinen heiligen Tausenden, um der Herrschaft des Feindes gewaltsam ein Ende zu machen und dann in dieser Welt in Gerechtigkeit zu regieren, indem Er auf dem Throne Seiner Herrlichkeit sitzen wird, gehört sicher auch zur „gegenwärtigen Wahrheit”, denn dieser Teil befreit und bewahrt Seelen vor dem eitlen Versuch, die unhaltbaren Verhältnisse in diesem bald zu Ende gehenden Zeitlauf durch wohlmeinende politische Maßnahmen zu lindern und zu verbessern.
Ach, wie gut und heilsam wäre es, wenn alle Gläubigen heutzutage „in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt” würden! Doch leider gibt es so viele in unseren Tagen, die noch in den Ketten der menschlichen Überlieferungen liegen; wohl sind die Fesseln verziert mit den Blüten schwungvoller Redekunst, und dann liebkost man diese Banden! Wir behaupten nicht, dass die ganze gegenwärtige Wahrheit uns wieder geschenkt worden ist, denn unser Gott kann noch herrliche Dinge aus Seinem Worte uns schenken; doch denken wir wohl, dass die schon wiedergewonnene gegenwärtige Wahrheit fast vollständig ist und dass Sein Kommen unmittelbar bevorsteht. Doch nochmals betonen wir, dass die gegenwärtige Wahrheit, nämlich die geoffenbarte Wahrheit für diese Verwaltung der Gnade Gottes, die zur Geltung während dieses gegenwärtigen bösen Zeitalters kommen soll, befreiend, bewahrend und heiligend wirkt, wenn wir nur darin befestigt werden.
F. Btch.
Anmerkung des Schriftleiters
Ich denke, wir dürfen sehr dankbar sein für diese schöne und klare Antwort! Möchte sie vielen zum Segen sein, besonders auch solchen, die, wie ich weiß, unter der „gegenwärtigen Wahrheit” einfach nur „Christus” verstanden wissen wollen! Es ist ja natürlich richtig, dass Er sowohl „die Wahrheit” als auch stets „gegenwärtig” ist nach Joh. 14,6 und Mt. 28,20, aber dennoch dürfen wir einen so bestimmten Ausdruck wie diesen: „die gegenwärtige Wahrheit” nicht einfach ohne nähere Beziehung nur auf Ihn beziehen, wenngleich Er Kern und Stern jeder biblischen Wahrheit ist. Wir müssen vielmehr aus dem Zusammenhang des betreffenden Wortes herauszufinden suchen, was im einzelnen (und nicht nur im allgemeinen!) gemeint sein könnte. Und darüber gibt obige Antwort viel Licht. Möchten alle Leser sich von demselben erleuchten lassen!
Vielleicht darf man den Ausdruck auch darauf beziehen, dass in dem 1. Kapitel des 2. Petrus-Briefes so oft von „diesen Dingen” die Rede ist, nämlich den Dingen von V. 3-7! Fünfmal heißt es „diese Dinge” (V. 8.9.10.12.15; vgl. 3,16), und es kann Augenblicke in unserem Leben oder in dem der Gemeinde geben, wo das eine oder andere Stück von V. 3-7 besonders im Vordergrund zu stehen hat, wenn „diese Dinge” auch untrennbar zusammengehören. Aber beispielsweise bei einer Angelegenheit in der Gemeinde, die imstande ist, Brüder auseinanderzureißen, da könnte die „gegenwärtige Wahrheit” im Augenblick und für jene betreffenden Geschwister die sein, dass sie sich ihrer moralischen Verpflichtung, „in der Gottseligkeit die Bruderliebe darzureichen”, bewußt werden, weswegen der Apostel Sorge trägt, sie zu erinnern (V. 12). Denn geschenkt ist ihnen die Möglichkeit dazu (vgl. V. 4!) u. a.
Ich will nicht behaupten, dass der Ausdruck „die gegenwärtige Wahrheit” diese Bedeutung haben müßte, vielmehr glaube ich, dass die Auslegung von obiger Antwort die allein der Stelle völlig gerechtwerdende ist, aber als Nebenbedeutung, meine ich, könnte man die eben vorgetragene annehmen, sintemalen in unserem eigenen wie im Familien- und im Gemeindeleben zuweilen diese oder jene Einzelheit des moralischen Lebens im Vordergrund steht -und alles, was nach göttlichem Willen in der Gegenwart im Vordergrund unseres Interesses stehen sollte, das ist „die gegenwärtige Wahrheit” - und das ist gewiß in erster und hauptsächlichster Linie die Gemeinde Gottes und alles, was mit der Offenbarung über dieselbe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhängt. Möchten wir nur Gnade haben, die mancherlei Einzelheiten hierüber, wie sie uns in den apostolischen Briefen, z. B. auch in den Timotheus-Briefen, ans Herz gelegt werden, im praktischen Leben ernstlich zu beachten und uns darin befestigen zu lassen! In diesem letzteren sind bei uns noch viele Mängel zu beklagen. Aber der Geist wird uns, wenn wir aufrichtig sind, auch in dieser Hinsicht „in die ganze Wahrheit leiten” (Joh. 16,13).
Wir sollten nie zu „klug bei uns selbst” (Röm. 12,16d) sein, um zu fragen, was im jeweiligen Falle „die gegenwärtige Wahrheit” sein mag, damit wir gehorsam und treu Seinen Weg wandeln und „in Seiner Erkenntnis wachsen”. (2. Petr. 3,18) Denn durch nichts werden wir besser „befestigt in der gegenwärtigen Wahrheit”, als wenn wir in der jeweils erkannten treu sind, denn „wer da hat, dem wird gegeben” (Lk. 8,18), und „durch Gewohntheit bekommt man geübte Sinne” (Hebr. 5,14).
Die Gläubigen, ob juden- oder heidenchristliche, an die Petrus schrieb, werden „befestigt in der gegenwärtigen Wahrheit” genannt - ob dies auch von uns gesagt werden könnte? Der HERR gebe auch uns Gnade, in der „gegenwärtigen Wahrheit” mehr und mehr befestigt zu werden - Ihm zum Preise!
F. K.