Antwort
Die Bibelerklärer früherer Tage, besonders „kirchliche”, verstehen dies Wort wohl meist in dem letztgenannten Sinne, da ihnen der Gedanke an das jeden Tag zu erwartende Wiederkommen des Herrn Jesus einfach nicht vertraut, weil noch nicht als biblische Wahrheit bekannt ist. Und da diese Stelle mit dieser Erklärung ja auch einen an sich richtigen Sinn gibt, indem die beständige tröstliche Gegenwart Jesu, wie Er Selber gesagt hat: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage” (Mt. 28,20), die Gläubigen fähig macht, sowohl einer ungläubigen Menschheit Gelindigkeit zu erzeigen (vgl. den Aufsatz in dieser Lieferung über Mk. 9!), als auch ohne Sorgen durchs Leben zu gehen, so begnügt man sich gern mir dieser Deutung, ohne sich weitere Gedanken zu machen.
Aber diese Bedeutung hat vorliegendes Wort nach dem Zusammenhang nicht. Wir wissen aus vielen Steilen des N. T., dass der Apostel Paulus in der steten Erwartung des Kommens des HERRN für die Seinen lebte und dass er sich erst ganz am Schlusse seines arbeitsreichen Lebens darüber klar war, dass er noch durch den leiblichen Tod zu gehen haben würde. (Man vergl. z. B. den 1. Thessalonicherbrief und 1. Kor. 15,51ff. mit vor allem 2. Tim. 4,6ff.!) Und so weist der Zusammenhang von Phil. 4,5auch deutlich hin auf das Kommen des HERRN, wie ein einfacher Blick auf Kap. 3,20.21 zeigt. Der Apostel sagt uns: weil wir den Herrn Jesus Christus als Heiland unseres Leibes erwarten - denn Geist und Seele sind bereits errettet, der Leib wird es erst durch Christi Wiederkunft, um V. 21 zu verwirklichen -, „daher” (Kap. 4,1-6) 1. Stehet fest im HERRN! 2. Seid einerlei gesinnt im HERRN! 3. Stehet einander bei! 4. Freuet euch im HERRN! 5. lasst eure Gelindigkeit kund werden allen Menschen ... 6. Seid um nichts besorgt, sondern 7. betet vielmehr! Und in diesem Zusammenhange steht in V. 5die Ermunterung: „Der HERR ist nahe”. Warum gerade hier? Vielleicht, weil hier der einzige Punkt ist, wo der Blick des Gläubigen auf „alle Menschen”, also auf die Welt in erster Linie gelenkt wird. Im Blick auf die Welt, die Ungerechtigkeit der Menschen, die dem Gläubigen oftmals zu schaffen macht, da mag es diesem manchmal schwer sein, gelinde und nachgiebig zu sein, sein eigenes Recht hintenan zu stellen und sich auch mal treten zu lassen. Da darf das Kind Gattes, das errettet ist aus der Welt und das einem Ziel der Herrlichkeit - Erlösung des Leibes - entgegengeht, gegen das die Dinge hienieden gar nicht in Betracht kommen, sich bewußt sein - gerade als ob es unter den Bedrückungen der Welt das in 3,20.21 Gesagte vergessen hätte -: (dennoch) „der HERR ist nahe!” Er kommt bald, Er nimmt meinen Leib der Niedrigkeit aus all den irdischen Schwierigkeiten und Demütigungen heraus, und Er wird auch all das Ungerechtleiden hienieden zurechtbringen und lohnen. Um Seinetwegen können wir allen Menschen gegenüber - Ungläubigen und Gläubigen - gelinde sein, denn Er kommt! Andererseits, wenn wir auf unser vermeintliches Recht pochen und nicht gelinde sind, sondern gar zornmütig und sehr irdisch gesonnen - denken wir wohl daran: „Der HERR ist nahe”! Und dann heißt‘s „offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi” nach 2. Kor. 5,10!
Also nach dem Zusammenhange ist es schon klar, dass diese Stelle nicht von der, wenn auch noch so tatsächlichen und wirksamen, immerwährenden geistlichen Gegenwart des HERRN redet, sondern von der Nähe Seines Kommens, das uns tüchtig macht, gesinnt zu sein im praktischen Leben wie Er (Phil. 2,5!).
Aber nun noch eins: Auch der Wortlaut der Stelle verlangt diese letztere, das Kommen des HERRN betreffende Bedeutung, wie uns ein einfacher Vergleich dieser Stelle mit einigen ähnlichen zeigt. Vergleichen wir bitte folgende Stellen, in denen allen das Wort „nahe” im absoluten Sinne angewandt ist: Mt. 24,32f. (Mk. 13,28f.; Lk. 21,30f.): „Der Sommer ist nahe”; heißt das, dass er (schon) gegenwärtig ist? Nein, sondern dass er „vor der Tür” (vgl. V. 33) steht. Ferner Mt. 26,18: „Meine Zeit ist nahe” (steht vor der Tür!); Offene 1,3: „Denn die Zeit ist nahe”; ist sie schon da? Nein, aber sie kommt bald! Jak. 5,8(.7-11).9: „Die Ankunft des HERRN ist nahe gekommen”. Übrigens ist hier der Zusammenhang auch ganz ähnlich wie in Phil. 4! Noch eine Stelle: Joh. 2,13!
Also sowohl dem Zusammenhange wie dem Wortlaut nach weist Phil. 4,5 auf die nahe Ankunft des HERRN hin und wird so zur besonderen Kraft für das Handeln im Blick auf Menschen, die an die geistliche Gesinnung der Gläubigen hohe Anforderungen stellen.
Wie steht es nun mit uns? Warten wir praktisch auf unseres geliebten Herrn Jesus persönliche Wiederkunft? Gibt uns der Gedanke an Sein Kommen Kraft, Freude, Mut zum Ausharren und die Bereitwilligkeit, die flüchtig dahineilende Zeit auszukaufen nach Seinem Sinn? (Eph. 5,16.) lasst uns aus Liebe zu Ihm von Ihm Gnade erbitten, Ihn täglich praktisch und tatsächlich zu erwarten! Das sollte unser vornehmstes, vernehmlichstes, glückseligstes Tun und Verhalten heute und morgen sein! Er kommt bald! „Der HERR ist nahe”. Er Selber spricht am Schlusse des Buches der Offenbarung, Kap. 22,20: „Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja, Ichkomme bald”. Möchten wir mit Herzensverlangen antworten: „Amen, komm, Herr Jesus!” Und sicher, bald wird's sein! Wie herrlich!
F. K.