Nachdem die liberale Bibelkritik in den letzten Jahrzehnten (vergeblich) versuchte die Historizität Jesu Christi zu widerlegen und seine Lehren ins Zwielicht zu stellen, richten sich in den letzten Jahren vermehrt auch Kritikpunkte gegen den Apostel Paulus und seine Schriften.
Es ist dem Jünger genug, dass er sei wie sein Lehrer und der Sklave wie sein Herr. Wenn sie den Hausherrn Beelzebub genannt haben, wie viel mehr seine Hausgenossen! (Matthäus 10,25)
Diese Entwicklung ist nicht verwunderlich, zumal in der Entwicklung der Bibelauslegung seit dem Humanismus man sich immer weiter von der Tatsache der göttlichen Inspiration weg bewegt hat. Heute gilt es als verpönt die Bibel wörtlich auszulegen, ihr absolute Autorität einzuräumen und an ihrer unangefochtenen Aktualität, auch in der heutigen Zeit, festzuhalten.
Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen. (Lukas 21,33)
Die Kritik an den Paulusbriefen richtet sich hauptsächlich gegen ihre persönliche Verfasserschaft. Von liberalen Bibelkritikern werden generell mindestens sieben Paulus-Briefe als echt anerkannt (Römer, 1./2. Korinther, Galater, Philipper, 1.Thessalonicher, Philemon), die restlichen sechs gelten als mehr oder weniger umstritten. Im Mittelpunkt der Kritik stehen unter anderem die sogenannten Pastoralbriefe. (1./2. Timotheus, Titus)
Obgleich jeder der Pastoralbriefe einen expliziten Hinweis auf Paulus als den Verfasser beinhaltet, wird dies heute unter liberalen Theologen weitgehend bestritten. Bis zum frühen 19. Jahrhundert wurde ihre Authentizität nie angezweifelt; dann begann aber Kritik aufzukommen, die sich in folgende drei Bereiche unterteilen lässt:
- Historische Argumente
- Stilistische, Linguistische Argumente
- Kirchengeschichtliche, Theologische Argumente
Ad. 1.) Das historische Argument:
Das Hauptargument beruht darauf, dass sich Ereignisse, die in den Briefen beschrieben werden, nicht mit unserem Wissen über den Dienst des Apostels und dem historischen Rahmen der Apostelgeschichte in Einklang bringen lassen. Orte und Personen passen nicht zu seinen, uns bekannten, Reisen. Dies stellt für Leser, die die Historizität der Apostelgeschichte und die Verfasserschaft Paulus für wahr halten, ein echtes Problem dar.
Doch dieses Argument der liberalen Bibelkritik lässt sich durch eine befriedigende und vernünftige Lösung widerlegen. Es ist wahr, dass die Briefe nicht zur Berichterstattung der
Apostelgeschichte passen, aber das müssen sie auch nicht.
Der Bericht der Apostelgeschichte endet mit der römischen Gefangenschaft Paulus (61-62 n. Chr.). Die Briefe können deshalb nicht
übereinstimmen, da sie von einem Zeitraum nach der Berichterstattung der Apostelgeschichte sprechen. Wäre Paulus am Ende seiner Gefangenschaft in Rom von 61-62 n. Chr. hingerichtet
worden, dann hätte Lukas das in seinem Bericht über Paulus Leben sicherlich erwähnt.
Es gilt deshalb so gut wie erwiesen, dass Paulus im Jahre 62 n. Chr. aus der römischen Gefangenschaft - vielleicht aus Mangel an Beweisen - freigelassen wurde. Wenn man
Philipper 1,25-26 liest, dann sieht man, dass Paulus erwartet freigelassen zu werden und auch die christliche Tradition bestätigt diese Annahme.
Paulus diente nach seiner Gefangenschaft den Gemeinden noch einige Jahre und brach zu seiner vierten Missionsreise auf, die ihn unter anderem nach Griechenland, Kreta und Kleinasien
führte. Ob Paulus in dieser Zeit auch nach Spanien reiste, gilt als unsicher (vgl. Römer 15,24-28).
Nach der Überlieferung wurde Paulus ca. um 67 n. Chr. abermals verhaftet, verurteilt und schließlich unter Kaiser Nero, gleichzeitig mit der Kreuzigung des Petrus, mit dem Schwert hingerichtet.
Wenn diese Sichtweise stimmt, dann entstammen die Pastoralbriefe aus Paulus missionarischer Tätigkeit zwischen den beiden römischen Gefangenschaften. In dieser Zeit wurden dann
auch der 1.Timotheus- und der Titus-Brief geschrieben. Der 2.Timotheus-Brief wurde folglich in der zweiten römischen Gefangenschaft verfasst, wo Paulus von seinem bevorstehenden Tod
bereits gewusst hatte.
In diesem Fall können die Pastoralbriefe gar nicht in die Chronologie der Apostelgeschichte hineinpassen und die historischen Argumente der liberale, Bibelkritiker würden in sich zusammenfallen.
Ad. 2.) Das stilistische, linguistische Argument:
Dieses Argument basiert auf dem unterschiedlichen linguistischen Stil der Briefe im Vergleich zu den zehn anderen paulinischen Briefen. Gerade die Pastoralbriefe enthalten zu einem
großen Teil neues Vokabular, und einige der Lieblingswörter und Ausdrücke Paulus kommen nicht vor.
Es wird zu zeigen versucht, dass eine Vielzahl der verwendeten Wörter nicht zum Sprachschatz des Neuen Testaments passen, sondern vielmehr den Schriften der Autoren des 2. Jahrhunderts
zuzuordnen sind. Damit wollen liberale Kritiker "beweisen", dass die Briefe nicht von Paulus selbst sondern von einem seiner Schüler geschrieben wurden.
Bei dieser rein stilistischen Untersuchungsmethode wird allerdings eine wichtige Tatsache außer Acht gelassen; Paulus schrieb diese Briefe am Ende seines Lebens. Neue Erfahrungen,
höheres Alter und viele verschiedene soziale Kontakte vergrößern und verändern das Vokabular. Außerdem erfordert ein anderes Thema dieser Briefe (Gemeindeämter, Ethik und Abfall)
im Vergleich zu allen anderen eine neues, anderes Vokabular. Unter den Kirchenvätern zu Beginn des Gemeindezeitalters gab es nie einen Zweifel an der Echtheit der paulinischen Briefe.
Und es ist fraglich, ob die Anwendung rein statistischer Methoden der Untersuchung solch schwerwiegende Schlussfolgerungen rechtfertigen.
Ad. 3.) Das kirchengeschichtlich, theologische Argument:
Hier wird kritisiert, dass die kirchlichen Strukturen, die in den Pastoralbriefen deutlich werden, sich erst nach der apostolischen Zeit im 2. Jahrhundert entwickelt haben. Nach Meinung der Kritiker hatte Paulus keinerlei Interesse an einer Institutionalisierung der Gemeindestrukturen und deshalb sind einige der in den Pastoralbriefen enthaltenen Anweisungen untypisch.
Obwohl die Begriffe "Bischof" (episkopoi) und "Älteste" (presbyteros) verwendet werden, gibt es keine Hinweise auf eine hierarchische Gliederung wie sie in der Kirchenorganisation der folgenden Jahrhunderte vorhanden ist. Paulus verwendet die Begriffe "Bischöfe" und "Älteste" vielmehr austauschbar (vgl. Titus 1,5-7). Diese Ämter haben sich also mit Sicherheit, auf seine Anregung hin, schon zur Zeit Paulus herausgebildet.
Das theologische Problem, das die Kritiker in den Pastoralbriefen erkennen möchten, ist, dass es sich bei der Irrlehre gegen die Paulus schreibt um den ausgeprägten Gnostizismus
handelt, der allerdings erst im 2. Jahrhundert zur Entfaltung kam.
Heute weiß man, dass sich die Bewegung des Gnostizismus [1], die im 2. Jahrhundert zur vollen Blüte kam, sich bereits zu Zeiten von Paulus Wirken abzeichnete. Außerdem erkennt man bei näherer Betrachtung, dass die Irrlehre
keineswegs als reiner Gnostizismus zu sehen ist, sondern dass die Irrlehren, gegen die Paulus kämpfte, ebenso starke jüdische Einflüsse zeigen. Die Hauptgefahr lag in der Oberflächlichkeit
und Weltzugewandtheit; dies würde auf den Gnostizismus des 2. Jahrhunderts nicht zutreffen.
Auch diese scheinbaren Probleme halten einer genaueren Untersuchung nicht stand.
Die Extremansicht Deterings:
Zu dieser paulinischen Kritik sei noch kurz eine in jüngster Zeit durch die Veröffentlichung eines Buches von Hermann Detering (Hermann Detering: Der gefälschte Paulus, Patmos Verlag, Düsseldorf 1995) bekannt gewordene Extremansicht erwähnt, die allerdings als unsachliche und willkürliche Spekulation abzutun ist.
Detering spricht Paulus die Verfasserschaft aller Briefe ab und geht soweit, dass er behauptet, der geschichtliche Paulus sei eine literarische Erfindung.
In seiner Argumentation gibt er sich allerdings völlig unsachlich wilden Spekulationen hin und behauptet, die Paulus-Briefe wären von dem Mitte des 2. Jahrhunderts von der christlichen
Gemeinde in Rom ausgeschlossenen Irrlehrer Marcion verfasst worden, der zur Veröffentlichung seiner Werke an eine bestehende "Paulus-Legende" anknüpfte.
Detering hält den historischen Paulus für "gefälscht" und seinen gefälschten für den "echten", von der Tradition erfundenen Paulus.
All dies beruht auf wilden Spekulationen und wäre als solches gar nicht erwähnenswert, wenn da nicht eine Sache wäre. Detering ist nicht nur Buchautor, sondern hat auch den Doktorhut einer evangelischen Fakultät inne und ist im Hauptberuf evangelischer Pfarrer!
Gerade darin liegt das Problem und der Grund jeglicher sogenannten "christlich-liberalen" Bibelkritik. Solche teilweise absurden Einwände können nur dann zustandekommen, wenn dem Wort Gottes jegliche Autorität genommen wird.
Doch die Bibel lehrt uns ganz ausdrücklich und klar, dass es inspiriertes Wort Gottes ist und deshalb ohne Widerspruch und Fehl, auch wenn es von
"normalen" fehlerhaften Menschen geschrieben wurde.
Trauen wir es Gott nicht mehr zu, dass er dafür sorgen kann, dass sein Wort auch über die Jahrtausende in diesem Zustand bewahrt und weitergeben wird, so dass wir auch heute die volle
Offenbarung Gottes vor uns haben, ebenso inspiriert und unfehlbar wie zur Zeit Paulus.
Alle Schrift ist von Gott eingegeben. (2.Timotheus 3,16)
Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben vom Heiligen Geist. (2.Petrus 1,21)
[1] Gnostizismus: Im sogenannten Gnostizismus wird philosophisches mit dem christlichen Gedankengut vermischt. Das Ziel der Menschen ist es durch gnosis (Erkenntnis) zur Erlösung zu kommen. Von den Anhängern der Gnosis wird bestritten, dass Christus Anteil an "verdorbenen Materie" hatte, also keinen menschlichen Leib besessen habe.