Antwort A
Das Hohelied heißt im Hebräischen: schir-haschirim, d. h.: „Lied der Lieder”. Schon die Tatsache, dass es ein Buch in der Heiligen Schrift ist, beweist, dass man schon damals, als man es in die Sammlung der heiligen Urkunden aufnahm, mehr darin sah als nur einige Hochzeitslieder für Salomo und Sulamith. Man hat es sicherlich nur um der religiösen Gedanken willen aufgenommen und wertgeschätzt, die man in dem Verhältnis der Liebenden und ihren Gesprächen fand. Eine nur buchstäbliche Erklärung des Hohenliedes als einer Schilderung der natürlichen, wenn auch idealen Liebe würde dieser Schrift ihr Recht auf einen Platz unter den Heiligen Schriften absprechen. So fordert schon die Stellung dieses Buches unter den anderen heiligen Büchern eine andere als nur buchstäbliche Erklärung. Mit Recht sagt Joh. Friedr. v. Meyer (1819): Wenn weise Männer dem Hohenliede einen tiefen geistlichen Sinn beilegten, „der sich auch in der bildlichen Weisheit anderer Völker äußert, so kann ihnen um so weniger geradezu widersprochen werden, als es fast unmöglich ist, dass ein hebräischer Dichter nur eins mit einem habe sagen wollen”. Es ist anzunehmen, dass schon Salomo, der uns als Verfasser überliefert ist, solche tieferen geistlichen Gedanken in das Gewand dieser Hochzeitslieder eingekleidet hat. Solche Erwägungen führen von selbst zu der sogenannten allegorischen Erklärung des Hohenliedes, womit zunächst noch nicht gesagt werden kann, welche Personen und Beziehungen unter den „anderen” (allo = das Andere, daher: „Allegorie” = verhüllte Ausdrucksweise, die andere im Auge hat und anderes meint) zu verstehen sind, ob z. B. Gott oder Christus oder die himmlische Weisheit, ob Israel, die Gemeinde oder der einzelne Gläubige.
Für das Verständnis des Hohenliedes ist die Beachtung des Aufbaues wichtig. Es sind zweimal drei Gesänge zu je 21 Strophen und je 100 Zeilen, so dass das Buch sechs Lieder, 42 Strophen und 200 Zeilen umfaßt. In den drei Liedern des ersten Teiles wird uns 1. die erste Begegnung und die Bitte der Braut um die Liebe des Bräutigams geschildert, 1,2 - 2,7; 2. die zunehmende Liebe in gegenseitiger Unterhaltung, 2,8 - 3,5; 3. der Ehevertrag und das Loblied des Bräutigams auf die Braut, 3,6 bis 5,1. Die Lieder des zweiten Teiles offenbaren 1. das Leiden der Braut um den Geliebten und die Vollendung ihrer Liebe zu ihm, 5,2 - 6,10; 2. die Braut als Königin an der Seite des Königs in seinem Hause, 6,11 - 8,4; 3. die Rückführung der auf den Arm des Geliebten gelehnten Braut in das Elternhaus und wie sie von dort, durch ihre Brüder losgekauft, in die Wohnung des Bräutigams zurückgebracht wird, 8,5-14. Die Beachtung dieses Gedankenfortschrittes in den Liedern erleichtert ihr Verständnis. Der Vergleich mit einem orientalischen Hochzeitsfeste, das tagelang gefeiert wurde, an dem man sich das Singen der dramatischen Wechselgesänge an verschiedenen Tagen vorstellen darf, wodurch der plötzliche Wechsel der Personen und Örtlichkeiten in den Liedern erklärt wäre, ist an sich wohl berechtigt. Aber das alles dient höchstens zu einem leichteren Verständnis des Aufbaues und der Ausdrücke. Kein Bibelleser möchte jedoch bei diesen Erklärungen stehen bleiben.
Nun ist aber die allegorische Schriftauslegung nicht jedermanns Sache, und mit Recht wird darüber geklagt, dass gerade über das Hohelied schon Erklärungen gegeben wurden, die in der Willkür der Exegese (Erklärung) geradezu alle Begriffe übersteigen. Darum ist große Vorsicht selbst denen anzuraten, die sich in das Schriftganze eingelebt haben und die in der Heiligen Schrift selbst angedeuteten Grenzen für die Anwendung der prophetischen, typischen und allegorischen Schrifterklärung kennen. Es gehören geübte Sinne dazu! Nur zu leicht gerät man in Willkürlichkeiten und Spielereien, vor denen man nicht sicher ist, wenn man z. B. jeden Ausdruck des Hohenliedes geistlich deuten möchte, anstatt sich an die Gedanken zu halten.
Salomo und die alten Schrifterklärer konnten selbstverständlich nicht an die neutestamentliche Gemeinde denken. Wohl aber ist das Bild von Braut und Bräutigam oder das der Ehe, auf Israel in seiner Stellung zu Gott bezogen, dem Alten Testamente so eigen, dass dieser tiefere Sinn der Wechselgesänge des Hohenliedes nicht besonders erwähnt zu werden brauchte. Man vergleiche nur Ps. 45 und 72, auch das Buch Ruth! In ergreifenden Werten schildern Hosea (1-3), Jeremia (2,2), Jesaias (54,5), Hesekiel (16,8-14.20) usw. unter den Bildern des Brautverhältnisses und des Ehebundes das Bündnis Jehovas mit Israel, die Treue Gottes und Untreue des Volkes. Ja, schon im Pentateuch („Fünfbuch”, d. i. die fünf Bücher Mose) finden wir diese bildliche Rede (vgl. 2. Mose 34,14ff.; 5. Mose 4,23). Auch Johannes der Täufer nimmt seinen Vergleich wohl aus dem Hohenliede, wenn er von dem Bräutigam und der Braut redet (vgl. Joh. 3,29 mit Hohel. 4,9-12).
In den jüdischen Thargumim, den Umschreibungen und Erklärungen der alttestamentlichen Schriften, wird das Hohelied als ein Gemälde der Geschichte Israels und seines Bundesverhältnisses zum HERRN vom Auszuge aus Ägypten bis zum messianischen Reich betrachtet.
Die Berleburger Bibel, die das Lied auf Christus und die Gemeinde bezieht, bemerkt, „dass etliche Erleuchtete unter dem Namen der Braut viel mehr die himmlische, ewige Weisheit Gottes als die Kirche oder die einzelne Seele”, dass sie unter dem Bräutigam aber „viel mehr den Seelen-Geist oder den ganzen inneren Menschen verstanden”, dass es sich also um die Vereinigung der Seele mit der göttlichen Weisheit handele. Es heißt dort: „Die Weisheit kann auch dir zur Braut werden, wie sie Salamonis Perle war.”
Auch im Neuen Testament wird das Bild der Ehe gebraucht, um das Verhältnis Christi zu Seiner Gemeinde zu schildern. Eph. 5,22-32. Die alten Kirchenväter gebrauchten häufig diesen Vergleich. Origenes († 254) stellt in seiner Erklärung des Hohenliedes die Seele als Braut des Logos dar, Ambrosius († 397), der ebenfalls einen Kommentar über das Hohelied schrieb, beschreibt schon ganz wie die späteren mystischen Schrifterklärer das bräutliche Verhältnis der Seele zu ihrem himmlischen Bräutigam. Als Beispiel mag sein Ausspruch über die dreierlei Aussagen der Braut dienen. Erstlich: „Mein Freund ist mein, und ich bin Sein” (Kap. 2,16), sodann: „Ich bin meines Freundes, und mein Freund ist mein” (6,3), endlich: „Ich bin meines Freundes, und Sein Verlangen steht nach mir” (7,10). Zuerst ist der vorwiegende Gedanke der: Christus ist mein. Dass ich Sein bin, ist bis dahin noch das zweite. Denn auf dieser Stufe denken wir hauptsächlich an Christum als an den unserigen, und daher scheint Er gewissermaßen zu unserem Glück da zu sein. Danach gelangen wir zu der Erfahrung: „Ich bin Sein, und Er ist mein!” Dass Christus uns besitzt und ein Recht an uns hat, nimmt jetzt den ersten Platz in unseren Gedanken ein, und dass wir Ihn besitzen - wie segensvoll das an sich ist -, wird jetzt etwas Untergeordnetes. Endlich gelangen wir dahin, zu sagen: Ich bin Sein, und Sein Verlangen steht nach mir, wobei das Wort „mein” ganz ausgelassen ist, weil wir in der göttlichen Gewißheit stehen, dass das Ihm-Angehören alles andere in sich schließt. - Ähnliche Gedanken findet man in den Bekenntnissen des Augustinus († 430), z. B.: „Lass mich Dich umfangen, himmlischer Bräutigam!” - Der bedeutendste mittelalterliche Vertreter dieser christlichen Brautmystik war Bernhard von Clairveaux († 1153), der auch eine Erklärung des Hohenliedes in diesem Sinne schrieb. Ihm folgen fast alle Mystiker. Unter den Protestanten ist vor allem Zinzendarf zu nennen.
Die Frage ist die: Haben diese Männer sich geirrt, indem sie das Hohelied in diesem Sinne auslegten? Ist diese Deutung überhaupt zu verwerfen? Nach unserer Überzeugung nicht. Wenn das Hohelied das Verhältnis Jehovas zu Seinem alten Bundesvolke schildern soll, warum nicht das des neutestamentlichen Jehova-Jesus zu Seiner Gemeinde? Warum nicht auch Seine Liebe zu der einzelnen Seele? Wie könnte jemand behaupten, nur eine dieser allegorischen Deutungen sei richtig? Eine allegorische Erklärung ist dann erlaubt, wenn sie biblische Wahrheiten, die auch an anderen Stellen durch nicht bildliche Aussprüche klar bezeugt sind, nur illustriert und bestätigt. Dagegen ist es unmöglich, eine Lehre nur mit Hilfe einer Allegorie zu stützen, wenn andere Schriftgründe fehlen. Nun fehlt es aber nicht an Schriftstellern, die das zarte und innige Liebesband, das die Gemeinde oder den einzelnen mit Christus verknüpft, mit den Banden bräutlicher und ehelicher Liebe vergleichen.
Ein treffliches Büchlein, das das Hohelied in diesem Sinne erklärt, ist das kleine Werk von Hudson Taylor: „Das Lied der Lieder” oder: „Verbindung und Gemeinschaft” (Verlag der China-Mission in Barmen). Eine andere Frage ist die, ob auch die prophetische Erklärung, wie sie im Thargum (s. oben!) auf Israels Geschichte angewendet wird, auch eine ähnliche Anwendung auf die Gemeinde des Neuen Testamentes gestattet.
Professor Horch (Herborn) hat in seiner Mystischen und Prophetischen Bibel (1712) diese Erklärung versucht und Hohel. 1 - 3,6 überschrieben: Die Kirche unter Juden und Heiden; Kap. 3,7 - 5,1: Die Kirche unter christlichen Kaisern; Kap. 5,2-16: Die Kirche unter dem Antichristen(!!); Kap. 6-8: Die Kirche in der Freiheit. Ihm folgte die Berleburger Bibel, die sogar die sieben Gemeinden der Offenbarung (Kap. 2 u. 3) im Hohenliede wiederfindet, also wie in den sieben Gemeinden, so auch in dem Hohenliede einen Abriß der kirchengeschichtlichen Entwicklung findet. Ephesus: Hohel. 1,5ff.; Smyrna: Kap. 2; Pergamum: Kap. 3; Thyatira: Kap. 4 - 5,1; Sardes: Kap. 5,2 - 6,8; Philadelphia: Kap. 6,9 - 7,14; Laodizea: Kap. 7,15 - 8,14.
Hier ist doch wohl zuviel in das Hohelied hineingelesen worden, wenn man auch grundsätzlich die Möglichkeit nicht ablehnen kann. Jedenfalls muss man staunen über die geistreichen Versuche, die geringsten Einzelheiten dieser Deutung nutzbar zu machen. Die Herausgeber der Berleburger Bibel haben dies wohl selbst empfunden, denn sie bemerken: „Ist dies zu weit und zu genau gesucht, so kann man es doch als besondere Privatgedanken, die niemand Schaden tun, wohl passieren lassen.”
Übrigens sind auch in den geschichtlichen Büchern des Alten Testaments allerlei Geheimnisse zu finden, wie Franz Burmann, Professor in Utrecht, es 1706 in einem umfangreichen Werke nachwies „zu gründlicher Erklärung sowohl des Juden- als Christentums und der schriftmäßigen Vergleichung der beiden”. Es ist zu bedauern, dass wir im allgemeinen im Alten Testament viel zu wenig zu Hause sind und es so wenig verstehen, Christus in allen Büchern des Alten Testamentes zu finden und die Nutzanwendungen auch aus den geschichtlichen Ereignissen des Alten Testamentes für uns zu ziehen.
Als Beispiel und zugleich als Erklärung der Allegorie verweist Burmann z. B. auf 1. Sam. 20, wie Jonathan und David einander durch Pfeile verständigten. Als Jonathan die drei Pfeile abschoß und seinem Knaben sie aufzulesen befahl, bezeichnete er damit zwei Dinge: eins, das er sagte, und eins, das er vorhatte. So hat der Heilige Geist oftmals zwei Dinge vor: das eine in Ansehung des Buchstabens, das andere in Ansehung des Geheimnisses, das eine in dem Vorbild, das andere in dem Gegenbild. Gerade so wie Jonathan von Pfeilen sprach und etwas anderes meinte, der Knabe aber das andere nicht verstand, David jedoch die tiefere Bedeutung wohl verstand, so haben auch im Alten Testament nicht alle Gläubigen die tiefere Bedeutung der Vorbilder verstanden, sondern sind oft bei dem Buchstaben, gleichsam der Schale stehen geblieben, während andere, durch den Heiligen Geist erleuchtet, die Meinung des Heiligen Geistes in den Vorbildern wohl verstanden und uns dieselbe ganz treulich erklärt haben.
Das gilt auch von dem Hohenliede.
J. W.
Kurze Bemerkungen des Schriftleiters
Diese umfassende, inhaltsreiche und klare Antwort bedarf von meiner Seite keiner Ergänzung, zu der ich mich auch nicht berufen fühle, und zwar nicht nur mangels genügenden Platzes.
Aber ich möchte noch zu dienen versuchen mit einem kleinen Hinweis auf die sieben Loblieder in dem inspirierten (gotteingegebenen) Alten Testament, von denen das Hohelied das siebente und letzte ist. In allen diesen finden wir Jehova oder Christus in besonderem Charakter, je nach dem Inhalt derselben, wie die hier kurz angeführten Texte dem einsichtigen und fleißig forschenden Leser zeigen: 2. Mose 15; 4. Mose 21,16.17; 5. Mose 32; Richter 5; 1. Sam. 2,1-10; 2. Sam. 22. Welch mannigfache Gegenstände werden in diesen Lobliedern gepriesen - wie z. B. Errettung, Freude, Genuß, Befreiung, Gericht, Sieg, Wechsel von Niedrigkeit zur Herrlichkeit, Hoffnung, Gnade usw. -, und demgemäß wird Er Selbst gesehen und verherrlicht, aber ein Gegenstand fehlt in diesen Liedern, denn diesem ist das längste und lieblichste, das siebente Lied gewidmet! Es ist die Liebe! Das Hohelied ist das Lied, das Hohelied der Liebe im Alten Testament, wie im Neuen Testament gleichsam das entsprechende Hohelied der Liebe (außer 1. Kor. 13) der Epheserbrief ist mit seinen 22 Ausdrücken von „Liebe”, „lieben” und „geliebt”.
Von der Liebe singt das alttestamentliche Hohelied! Der Geliebte („Freund” in obiger Antwort), von dem (nicht zu dem) Sulamith wieder und wieder redet und der seinerseits wieder und wieder von ihr und zu ihr spricht, - Er und Seine Liebe ist der Gegenstand dieser Sammlung von „lieblichen geistlichen Liedern” (Kol. 3,16), die den Namen „Lied der Lieder” um ihres Inhalts willen vollauf verdient.
Sind wir aber in unserer Betrachtung und unserem Verständnis dieses biblischen Buches durch den Geist soweit geführt, den Geliebten und den Gegenstand Seiner Liebe darin zu sehen, dann ist nur ein kleiner Schritt bis dahin, in Ihm Christus zu erkennen, und zwar, wie Er in heiliger, alles, selbst den Tod überwindenden Liebe um Seine alttestamentliche Braut wirbt - wenn aber um diese, so auch im weiteren Sinne oder vergleichsweise um seine neutestamentliche, Seine Gemeinde, und um die Glieder derselben, wie es obige Antwort so schön ausführt. Nur scheint es (auch) mir wichtig und richtig zu sein, wo es sich um diese allegorische Anwendung des Hohenliedes handelt, zur weisen Zurückhaltung zu mahnen, handelt es sich doch stets um Sein Wort, und dasselbe darf nie willkürlich betrachtet und ausgelegt werden von uns, deren Erkennen „Stückwerk” ist. Auch hier ist „heiliges Land”, wo uns gebührt, unsere Schuhe auszuziehen!
Möge es dem Heiligen Geist, der stets Christus verherrlicht, gelingen, uns tiefer in die Geheimnisse und Herrlichkeiten des „Liedes der Lieder” einzuführen, dem HERRN zur Ehre und uns zum inneren Gewinn!
F. K.