Antwort A
Es gibt wohl kaum zwei Briefe im Neuen Testament, die so ineinander übergehen und sich so ergänzen wie die Briefe an die Kolosser und an Philemon, ganz abgesehen davon, dass sie an denselben Ort (Kolossä) gingen, Kolosser an die dortige Gemeinde und Philemon an ein Glied derselben. Dieses Zusammengehen und Verbundensein dieser beiden Briefe ist leicht zu erkennen, zumal der Brief an Philemon die Probe der Lehre des Briefes an die Kolosser ist. Da zeigt uns der Apostel Paulus, zu welcher Liebe und Demut (darum nennt er sich in Philemon nicht Apostel) ein Mensch fähig ist, wenn er in der Gesinnung Christi Jesu vorangeht. Dasselbe erwartet der Apostel Paulus von Philemon und ist ihm darin ein Vorbild. Weiter finden wir, dass von den dreizehn im Briefe an die Kolosser mit Namen genannten Personen allein neun Personen im Briefe an Philemon erscheinen, so dass von den dort vorkommenden elf Namen nur zwei neu sind: Philemon und Appia. Doch das Ausschlaggebende sind wohl die Stellen Kol. 2,13.14 und Philemon V. 18. Wie wir in Kolosser unseren Schuldbrief Gott gegenüber finden und von Ihm auch beseitigt, so stellt der Apostel Paulus dem Philemon gegenüber einen Schuldbrief aus ohne Angabe der Summe, was er Philemon überläßt; doch sind wir überzeugt, dass Philemon, als der Brief an die Kolosser in der Gemeinde gelesen wurde und ihm darin eröffnet wurde, dass sein Schuldbrief Gott gegenüber zerrissen war, nichts anderes tun konnte, als seinem Freunde, dem Apostel Paulus, und seinem früheren Sklaven und nunmehrigen Bruder in Christo, Onesimus, gegenüber deren Schuldbrief auch zu zerreißen. Wir sehen hierin, dass der Brief an Philemon ein göttlicher Anhang des Briefes an die Kolosser ist, eine praktische, ins tägliche Leben hineinreichende Auswirkung der Lehre des Kolosserbriefes.
Der Fragesteller hat zu unserer Freude genaue Vergleiche angestellt. Vielleicht ist es uns erlaubt, der Frage folgendes noch hinzuzufügen: Jedes Buch im Neuen Testament unterscheidet sich im Anfang von all den anderen Büchern des Neuen Testaments. Selbst auch Kolosser und Philemon, dahin, dass in dem einen „Apostel”, in dem anderen „Gefangener” steht. Nur die zwei Thessalonicherbriefe machen scheinbar darin eine Ausnahme, und doch finden wir auch dort ganz gewisse Unterschiede, wie auch im 1. und 2. Korinther, die in dem jeweiligen Charakter der Briefe begründet liegen. Es liegt natürlich außerhalb des Rahmens obiger Frage, sämtliche Bücher in deren Anfängen durchzugehen, um die Übereinstimmung des Inhalts der Briefe mit der jeweiligen Selbstcharakteristik des Schreibers wie der Anfangscharakterisierung der Botschaft jedes Buches des Neuen Testaments nachzuweisen. Doch haben wir es erwähnt, um die Leser auf die Wichtigkeit des Gegenstandes aufmerksam zu machen, damit man auch die ganz feinen, zarten und geistlichen Unterschiede des Wortes mehr zu würdigen vermag. Wir müssen uns vom HERRN die Gnade und Weisheit erbitten, auf die kleinsten Unterschiede des Wortes zu achten. Dazu gehört natürlich eine sehr gute, nicht nur sprachlich vollendete, sondern exakte Übersetzung des Wortes, insofern man den Urtext nicht versteht. Für einen Schriftforscher ist die Genauigkeit der Übersetzung wichtig, nicht das vollendete Deutsch ohne genaue Wiedergabe des Urtextes. Die Frage der Handschriften und Lesarten spielt natürlich auch eine sehr große Rolle in der Beurteilung gewisser textlicher Fragen. Doch da die eine Lesart oft der anderen widerspricht, ist man nicht selten in große Verlegenheit geraten. Wir sind der Meinung, dass Differenzen in der textlichen Konstruktion nicht immer von bestimmten in hohem Ansehen stehenden Handschriften gelöst werden können, wie wir dann gleich sehen werden, sondern vielmehr durch den geistlichen Inhalt und das göttliche Ziel des jeweiligen Briefes. Wenn eine große Anzahl von Lesarten selbst in Epheser 1,1 „Christus Jesus” hat, so zeugt dies bei dem Übersetzer von Unklarheit über den Inhalt des Briefes an die Epheser. Denn das ganze Wesen des Briefes fordert nach unserer Überzeugung „Jesus Christus”: zuerst der Name der Erniedrigung, der Leiden und Verwerfung: „Jesus” (dies erklärt auch Apg. 9,5b), und an zweiter Stelle„Christus”, der Name Seiner Auferstehung und Erhöhung, weil in diesem Briefe uns gezeigt wird, was die Gemeinde, der Leib, für Christum, das erhöhte Haupt, ist (vgl. bes. Eph. 1,23; 5,25-33; 6,24, obwohl der ganze Brief von diesem bestimmten Hauptgedanken erfüllt ist).
Im Brief an die Kolosser dagegen muss dem Wesen dieses Briefes nach unbedingt „Christus Jesus” stehen, weil in diesem Schreiben uns gezeigt wird, was das Haupt, Christus, für den Leib ist. Dies ist der Grund, warum in Kolosser die allüberragende Herrlichkeit Christi uns vorgestellt wird. Man vergleiche die fünf besonderen Herrlichkeiten des HERRN, die nur im Kolosserbriefe erscheinen, um das obige bestätigt zu finden: 1,13.15.18; 2,10. Aber außerdem ganz besonders charakteristisch sind folgende Stellen: 1,19; 2,9.
Wenn auch hier einige Handschriften eine andere Ordnung verfolgen („Jesus Christus”), so ist sie nicht dem Wesen des Briefes entsprechend. Wir haben uns sehr gewundert, dass rnaßgebende Bibelübersetzer und hervorragende Bibelerklärer der verkehrten Ordnung den Vorzug geben; selbst die in vielem gediegene „Stuttgarter Jubiläumsbibel” macht darin keine Ausnahme. Es zeigt nur zu deutlich, wie wenig man auf den Anfang des Briefes in seiner so großen Wichtigkeit und Wesensart Wert gelegt hat. Sonst wäre dieses vermieden worden. So sehen wir zwischen Epheser und Kolosser, die sonst geistlich sehr verwandt sind, doch auch sehr große und bedeutungsvolle Unterschiede in der Stellung des Hauptes zum Leibe und des Leibes zum Haupte.
Nun möchten wir noch kurz auf Philemon zurückkommen. In Philemon ist darum dieselbe Ordnung wie in Kolosser eingehalten, weil der Brief ein Reflex des Briefes an die Kolosser ist. Was Christus für die Gemeinde ist, war der Apostel Paulus für Onesimus, und dasselbe sollte Philemon für seinen ganzen Haushalt sein, Onesimus eingeschlossen. Welch praktische Ergebnisse der Lehre von Kolosser! Der Apostel war ein Gefangener Christi Jesu, weil er alles, was er war, hatte und konnte, für den einzelnen der Geliebten des HERRN sein wollte (Eph. 3,1 dasselbe für die Gemeinde). Welche Tiefen liegen selbst in der einfachen Ordnung der Namen unseres HERRN! Und wie in Kolosser in dem Menschen Christus die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt, um sie jedem, auch dem schwächsten und niedrigsten der Gläubigen, zugängig zu machen, so handelt der größte Apostel gegenüber einem Menschen, der in der menschlichen Gesellschaft den niedrigsten und geringsten Platz einnahm - ein armer Sklave -, in der Gesinnung Dessen, der ihm selbst alles geworden war. Wieviel, Geliebte, haben wir noch zu lernen! So wertvoll war dem Herrn Christus Jesus der Sklave Onesimus, dass seinetwegen ein besonderer, inspirierter Brief - wohl der lieblichste aller Briefe des Neuen Testaments - geschrieben wurde. Das ist in der Tat göttlich groß und erhaben! Zeigt uns der HERR in diesem kleinen Briefe nicht, wie sehr teuer wir Ihm sind? Und weil wir dies sind, dürfen wir auch unsere geringsten Geschwister mit dem Herzen Christi Jesu lieben und schätzen, weil Er sie ewig wertvoll, kostbar und herrlich gemacht hat in Sich Selbst. Ihm sei Dank, Preis und Anbetung dafür!
K. O. St.
Antwort des Schriftleiters
Der HERR sei gepriesen für das, was Er dem Fragenden und uns allen mit der vorstehenden köstlichen Antwort gegeben hat!
Es kann nicht in meiner Absicht liegen, die schöne Deutlichkeit obiger Darlegungen durch weitere, vielleicht nicht auf solch geistlicher Höhe liegende Ausführungen abzuschwächen - und zu vertiefen vermag ich sie kaum! -, und darum verlasse ich mit meinen Bemerkungen die eigentliche Frage (Kol.-Philem.), um noch die Wichtigkeit der Unterscheidung jener besprochenen Ausdrücke ein wenig zu betonen.
Zunächst für diejenigen, die Jahrbuch 2 haben, der Hinweis auf Frage 3, die sich gerade mit dem Unterschied zwischen den Namen „Jesus Christus” und „Christus Jesus” beschäftigt, besonders in der Antwort von A. v. d. K. Auch Frage 4 des gegenwärtigen Jahrbuches ist hierzu zu nennen (auch andere Fragen im Laufe der Jahre!).
Es ist oben schon auf die Grundbedeutung der Namen des HERRN - „Jesus” und „Christus” - hingewiesen, aber es scheint mir von besonderer Wichtigkeit zu sein, auf einige - natürlich den werten Lesern vollauf bekannten - Grundstellen zu sprechen zu kommen, in denen jene Namen uns erklärt sind.
Oben wurde gesagt, „Jesus” sei „der Name der Erniedrigung, der Leiden und Verwerfung”. Sicher, und in diesem Zusammenhang wollen wir daran gedenken, dass wir in Hebr. 13,13 aufgefordert werden, „zu Ihm hinauszugehen”, d. h. zu (dem HERRN) Jesus (V. 12!!), um „Seine Schmach zu tragen”. Aber es ist doch nicht allein nur der Name der Erniedrigung, sondern doch wohl zuerst der Name - der persönliche Name (vgl. A. v. d. K. in erwähnter Frage aus Bd. 2!) -, welcher „Retter” (Heiland”) bedeutet nach Mt. 1,21. Der Name als solcher war damals nicht gerade selten, sondern wohlbekannt (alttestamentlich „Josua” u. a.; apokryphisch „Jesus Sirach”; neutestamentlich „Jesus, genannt Justus”, in Kol. 4,11 [man konnte in der christlichen Gemeinde nicht einen, wenn auch judenchristlichen Bruder mit „Jesus” benennen, ohne den Namen „Jesus” zu entweihen, daher gab man ihm den Rufnamen „Justus”, d. i. „der Gerechte” - was liegt alles hierin!]), und es muss einmal gesagt werden: Nicht die Person bekam ihre Bedeutung durch den etwa einzigartigen Namen, sondern der Name durch die Person, durch die einzigartige des menschgewordenen Sohnes Gottes, des „Heiligen Gottes”, der in Seiner Entäußerung auch betr. Seines Namens Sich herabneigte zu uns. Hier ist die Grundbedeutung des Namens „Jesus”: „Retter” - und zwar den jeweiligen Umständen (vgl. Josua!) nach, d. h. jetzt„Retter von Sünden”! Und darum ist es „der Name der Erniedrigung” und Schmach, wobei oben sehr richtig mit hingewiesen wurde auf die hier ganz unentbehrliche Stelle Apg. 9,5b; und in diesem Sinne ist es überaus kostbar zu lesen, dass Paulus sich meistens „Apostel Jesu Christi” nennt. Denn der Herr Jesus wählte für Sich Seine Apostel, sie sollten „bei Ihm” sein nach Mk. 3,14; sie waren die, „welche Er Selbst wollte” (V. 13!) - und Paulus? Nun - er war durch den gleichen (Herrn) „Jesus” errettet und erwählt, wie er es eben so klar erlebte in Apg. 9 und in Kap. 22 und 26 so klar berichtete. Wie überzeugend wirkt es dann, wenn er seine rechtmäßige Apostelschaft betont mit den Worten. „... bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht Jesum, unseren HERRN, gesehen? ...” (1. Kor. 9,1) Genug davon - aber es ist ein liebliches Gebiet, und wir sollten viel und gern dabei verweilen, Ihm zur Ehre!
Und nun „Christus”!
„Christus”, sagt unser Mitarbeiter, „ist der Name Seiner Auferstehung und Erhöhung”, und v. d. K. in jener alten Frage: „ ... während wir bei „Christus Jesus” das Gesagte mehr in Beziehung finden zu dem Verherrlichten, Seinem vollendeten Werke und der Segensfülle, die vor Ihm ausgeht - Segensstellung - Segensverbindung ...” (Noch manches kostbare Wort ließe sich von daher zitieren, aber der Raum reicht nicht dazu.) Darum auch nicht „Bruder in Jesu”, sondern „Bruder in Christo” - z. B. Kol. 1,2! - (vgl. dortige „Anmerkung” von mir!).
„Christus” ist der Name des Hauptes, sowohl der neuen Schöpfung („ist jemand in Christo - eine neue Schöpfung”! 2. Kor. 5,17), wie „jedes Fürstentums und jeder Gewalt” (Kol. 2,10), wie der Gemeinde (Kol. 1,18; Eph. 1,22), wie „jedes Mannes” (1. Kor. 11,3), wie von allem (Eph. 1,10) usw.! Eine der Grundstellen, die uns Seine Herrlichkeit zeigen, abgesehen von 2. Korinther: „Evangelium der Herrlichkeit des Christus” (4,4; vgl.1. Tim. 1,11.12!), ist m. E. 1. Kor. 1,30, wenn wir nicht wie v. d. K. in jener Frage aus Band 2 von Apg. 2,36 ausgehen wollen und von anderen Stellen, die uns Ihm als den Messias - den Christus - „den Gesalbten” zeigen (vgl. die ersten Kapitel der Apostelgeschichte!). 1. Kor. 1,30! Gottes Weisheit, d. h. Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung haben wir in Ihm, unserem Haupte! Wie wunderbar dies alles! Anbetungswürdig groß! Aber ich muss hier abbrechen.
Wenn man nur einmal den Wechsel der beiden Namen, die Voranstellung des einen wie des anderen nur in einem einzigen Briefe verfolgt unter den in diesen Antworten gegebenen, sich noch vermehren lassenden Gesichtspunkten - man wird aus dem Staunen nicht herauskommen! Man lese einmal daraufhin 1. Kor.! oder eben Kolosser und Epheser oder etwa nur 1. Tim. 1! (siehe z. B. 1. Tim. 1,1.2.12.14.15.16!!)
Zum Schluß möchte ich noch alle treuen Schriftforscher unter den „Handr.”-Lesern (alle sollten zu Schriftforschern werden!) dazu ermuntern, den oben in Antwort A angedeuteten Beziehungen zwischen dem Kolosser- und dem Philemonbrief nachzuspüren; es sind vielfache!
In den „Handr.” ist verschiedentlich über den Philemonbrief geschrieben, und man kann vielleicht auch manches zu diesem Thema Gehörige, gleichsam zwischen den Zeilen, finden. Hier einige Hinweise: Über den ganzen Philemonbrief ist geschrieben in Jahrb. 5, Frg. 7; über „Onesimus” Jahrb. 11, S. 133ff. (v. d. K.); ferner über „Philemon” Bd. 9, S.113f.; über Demas und Lukas (Kol. 4,14; Philemon 23.24; 2. Tim. 4,9.10) Bd. 10, Seite 211-218 (F. K.) u. a. (Ich gebe diese häufigen Hinweise auf frühere Abhandlungen nur deshalb, weil ich denke, den wirklichen Schriftforschern damit einen Dienst zu tun.)
Der HERR aber gebe uns Gnade, Licht und Weisheit, zu tun nach Seinem Wort: „Wie ihr nun den Christus Jesus, den HERRN, empfangen habt, so wandelt in Ihm, gewurzelt und auferbaut in Ihm und befestigt in dem Glauben, so wie ihr gelehrt worden seid, überströmend in demselben mit Danksagung!” (Kol. 2,6.7)
Ihm aber sei die Herrlichkeit! Amen.
F. K.