Antwort A
„Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tode. Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder, und ihr wisset, dass kein Menschenmörder ewiges Leben bleibend in sich hat.” „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, so ist er ein Lügner.” Von welchen Menschen ist hier die Rede: von Kindern Gottes oder von Ungläubigen? Und was für eine Art von „Brüdern” ist hier gemeint: allgemeine Menschenbrüder, gleichbedeutend mit dem allgemeinen „Nächsten”, oder Brüder in Christo? Hier scheint eine Schwierigkeit vorzuliegen; denn wenn wir sagen, dass es sich um allgemeine Menschenbrüder handle, so kommen wir in Konflikt mit dem Zusammenhang, und wenn wir annehmen, dass es Brüder im HERRN sind, so erhebt sich die Frage: Wie kann man von einem Kinde Gottes sagen, dass es in einem „Bruder”-verhältnis zu Menschen stehe, die noch „im Tode” sind, ja, die als „Menschenmörder” bezeichnet werden, die das ewige Leben nicht bleibend in sich haben?
Zur Aufklärung dieses scheinbaren inneren Widerspruches muss man den Gesamtstil des ersten Johannesbriefes ins Auge fassen, und um diesen so recht würdigen zu können, muss man weiterhin auch die Persönlichkeit des Schreibers nach seinen wesentlichen Charakteranlagen zu erkennen suchen. So führt unsere Frage tiefer, als es auf den ersten Augenblick aussieht. Welcher Art war der Charakter des Johannes?
Falsch ist die weitverbreitete, volkstümliche Meinung, als sei er ein vornehmlich weicher, mehr frauenhafter Mann mit vorwiegend milden, sinnigen, ja geradezu weiblichen Gesichtszügen gewesen. Allerdings war er tiefsinnig und melancholisch angelegt. Ernstes Nachdenken, heiliges Sichversenken in die Person und das Werk seines Heilands und Meisters war einer der Hauptzüge seines Wesens, weshalb auch gerade er der Mann war, den der Heilige Geist benutzte, das vierte Evangelium über die Gottheit und Erhabenheit des HERRN zu schreiben; ist doch das Johannesevangelium, wie Luther mit Recht sagt, „das einige, rechte, zarte Hauptevangelium”, oder, um mit Matthias Claudius zu reden: „In ihm ist ... so etwas Schwermütiges, Hohes und Ahnungsvolles, dass man seiner gar nicht satt werden kann.”
Dennoch darf man nicht bei der Betonung dieser einen Seite im Wesen des Apostels stehenbleiben. Weit davon entfernt, in dem Sohn des Zebedäus nur einen stillen und sinnigen „Mystiker” zu sehen, hat der HERR, der wahre Seelenkenner, der da wußte, was in dem Menschen war (Joh. 2,25), gerade ihn und seinen Bruder Jakobus „Donnersöhne” genannt (Mk. 3,17)! Und gewisse Vorkommnisse in ihrem Leben bewiesen auch deutlich genug, dass sie in der Tat keineswegs nur die stillen, etwa weltabgewandten, beschaulichen Denker gewesen seien. Wollten sie doch Feuer vom Himmel herabkommen lassen, als man den Heiland an einem Orte Samarias nicht aufnahm (Lk. 9,54)! Nein, Johannes war nicht bloß der stille Denker; er war auch der feurige Kämpfer, der energische Choleriker, der unter Umständen zu fürchtende Gegner. Er redete wohl nicht viel; aber in seinem Inneren empfand er die Eindrücke der Außenwelt mit eindringender Gewalt. Er glich einer Gewitterwolke, die zunächst still und ruhig einherzieht. Doch im Innern bereitet sich etwas vor. Es sammelt sich immer mehr Elektrizität an, bis endlich der Augenblick kommt, wo sich die aufgespeicherte Energie mit Gewalt einen Ausgang verschafft und in Blitzen und Donnern hervorbricht.
Diese doppelte Art der Johannesnatur muss man im Auge behalten, wenn man nun auch den Stil und die Schreibweise des ersten Johannesbriefes recht verstehen will. Mit welcher Milde und Zartheit ist hier doch so vieles geschrieben! Mit welcher Innigkeit der Liebe redet der alte, im Dienst seines Meisters ergraute Zeuge zu der jungen Generation! „Meine Kinder”, so sagt er (Kap. 2,1); „Kindlein”, so heißt es (Kap. 2,18); „Geliebte”, „Kinder”, so redet er immer wieder seine Leser an. Hier redet ein Vater in Christo zu seinen geistlichen Kindern. Der ganze Brief atmet Liebe, Versenkung in das innerste Urwesen Gottes, tiefes Hineinschauen in das, was Heiligung und Liebe bedeuten.
Und doch, mit dieser mehr stillen Betrachtung des wunderbaren Charakters der himmlischen Wahrheiten verbindet sich gerade in diesem ersten Johannesbrief der entschiedenste Ernst und die tiefeinschneidendste Schärfe des Urteils. Hier ist alles voller Gegensätze. Immer wieder fällt Satz und Gegensatz, These und Antithese. Alles dreht sich um die drei großen, sittlich-übersinnlichen Gegensätze Licht und Finsternis, Tod und Leben, Liebe und Haß. Hier ist Johannes der Mann der brückenlosen Gegensätze. Hier sucht er keine Harmonie. Hier will er den Kampf. Man lese den Brief daraufhin nur einmal durch! Ein fester, männlicher Ton herrscht in ihm, ein Ton, der jeder weichlichen Gefühlsschwärmerei absolut entgegengesetzt ist.
Von hier aus gewinnen wir nun auch den Schlüssel zur Beantwortung unserer Frage. Johannes ist der Mann, der das lebendige Christentum sowohl vom grund sätzlichen als auch vom gegen sätzlichen Gesichtspunkt aus sieht. Seine Darlegung hat etwas Abstraktes (grundsätzlich Begriffliches) an sich; und dieses rein Gedankliche schaut er von der Warte des göttlich und ewig Absoluten (Unumschränkten). Darum stellt er die großen Geistesgesetze des neuen Lebens in Christo gleichsam in un abgeblendetem Lichte auf. Und dieses gibt seiner Darstellungsweise jenes Gewaltige, Autoritative, Bezwingende. Johannes stellt die Tatsachen und Gesetze des neuen Lebens fest, zunächst nicht immer mit Rücksicht auf die mehr oder weniger große Vollkommenheit oder Unvollkommenheit ihrer praktischen Verwirklichung im Alltagsleben. Er übersieht zwar auch dieses nicht. Im Gegenteil, gerade er hebt die Notwendigkeit praktischen Alltagschristentums hervor. Aber er weiß auch, dass die Gesetze des neuen Lebens an sich und in sich ihren göttlichen und uneingeschränkten Bestand haben. Es handelt sich also um eine grundsätzliche Schau des Wesens des neuen Lebens.
Und da gilt das unumstößliche Gesetz des Geistes, dass das wahre Leben sich in der wahren Liebe auswirkt, und zwar in erster Linie in der Liebe der Kinder Gottes untereinander, so dass diese christliche Bruderliebe geradezu ein Haupterkennungsmittel wird, ob einer überhaupt wiedergeboren ist oder nicht. Von dieser Bruderliebe ist auch in unserem Zusammenhang die Rede; denn wenn der Apostel die Leser, die er doch als wiedergeborene Christen ansieht (vgl. 2,12-14.27 u. a.), soeben als „Brüder” angeredet und gesagt hat: „Wundert euch nicht, Brüder, wenn euch die Welt haßt! Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben”, womit ohne Frage nur die Brüder in Christo gemeint sein können, und wenn er dann sofort weiter sagt: „Wer den Bruder nicht liebt ...”, so zwingt der Zusammenhang unbedingt, das Wort „Bruder” in diesem letzteren Falle in demselben Sinne zu nehmen, wie es gerade soeben gebraucht war. Alles andere ist unmöglich. Wie aber kann ein Bruder im HERRN als „Bruder” eines Menschen bezeichnet werden, der selber noch im Tode ist, also persönlich noch nicht zu der christlichen Bruderschaft gehört?
Hier müssen wir uns an das Absolute der Schreibart des Apostels erinnern. Er will sagen: „An dem Vorhandensein lebendiger, christlicher Bruderliebe erkennt man das Dasein echten Glaubenslebens. Wenn aber jemand behauptet, dass er ein Kind Gottes sei, dabei aber diejenigen, die er demnach als seine ‚Brüder‘bezeichnet, nicht liebt, dann ist damit der Beweis gegeben, dass er selber in Wahrheit gar kein Bruder ist.” Demnach erscheint es vielleicht als das Einfachste, wenn wir uns beim Leser dieser Verse das Wort Bruder als in Anführungsstriche gestellt denken. Der Betreffende, der hier unter Umständen den Beweis wahren Lebens schuldig bleibt, hat jenen als seinen „Bruder” bezeichnet; und tatsächlich mag dieser „Bruder” auch wirklich ein Bruder, d. h. ein Erlöster des HERRN sein. Aber er ist Bruder für die anderen, die das Leben der göttlichen Liebe haben. Für jenen aber ist er nur ein „Bruder” in Anführungsstrichen, d. h. einer, der von dem Standpunkt dieses Betreffenden nur so genannt wird, der aber für ihn in Wahrheit kein „Bruder” ist, einfach aus dem Grunde, weil der Mann ohne Liebe selber kein Bruder ist.
Eine ähnliche, vom Standpunkt des anderen gedachte, und daher nach der Zeichensetzung der deutschen Sprache in Anführungsstriche zu stellende Bezeichnung haben wir auch in dem bekannten Herrnwort: „Die Starken bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken.” (Mt. 9,12) Dieses zu den Pharisäern geredete (an sich richtige) Wort enthält in dem Ausdruck: die „Gesunden (Starken)” eine unverkennbare, gewisse Anspielung auf die Selbstgerechtigkeit der Gegner Jesu, die in ihren Augen die „Gesunden”, die „Starken”, waren und daher ihrerseits meinten, den großen Arzt Jesus nicht nötig zu haben. In diesem Sinne sagt der HERR: „ ‚Die Gesunden‘, das heißt die, die sich selbst für gesund halten und nicht sehen, dass sie in Wahrheit die Allerkranksten sind -: sie bedürfen des Arztes nicht! Natürlich nicht!”
Ähnlich ist es auch hier: „Wer seinen ‚Bruder‘, das heißt den, den er als seinen ‚Bruder‘bezeichnet, nicht liebt, ist im Tode.” Zum Schluß noch eine Bemerkung. Man beachte die krasse Nebeneinanderstellung von Liebe und Haß, als ob es nichts dazwischen gäbe. Darum sagten wir am Anfang, dass der Apostel die geistlichen Lebensgesetze vom grundsätzlichen, absoluten und gegensätzlichen Gesichtspunkt aus betrachtet. Vom Standpunkt dieses reinen Absoluten aus gibt es keine Gleichgültigkeit oder Neutralität, weder in den Fragen der Glaubenslehre noch in den Fragen der Sittlichkeit! „Wer nicht für Mich ist, der ist gegen Mich!” Dies ist geradezu ein Motto johannaischer Schreib- und Denkweise.
Darum ist ihm „Hassen” schlechtweg der tatsächliche, eindeutige Ausdruck für „Nichtlieben”. Liebe aber ist ihm der Tatbeweis vom Leben. Nur „tote Geister wissen nichts von Liebe; ihr Dasein schleicht matt und schläfrig, dahin”. „Wer nicht liebt, lebt nicht. Wer durch das Leben lebt, der kann nicht sterben.” So sagte einst der erste Mohammedanermissionar Raimundus Lullus, der als Zeuge seines HERRN den Steinigungstod gestorben ist (1315). Und vergessen wir bei dem allen nicht: Johannes denkt, wenn er von Liebe redet, nicht an etwas Sentimental-Weichliches, nur oder vorwiegend Gefühlsmäßiges; sondern ihm ist Liebe eine Lebenshaltung, ein Tun. Ein Lieben nur mit Worten, denen die Tat fehlt, ist ihm kein Lieben.
Und in diesem Tatbegriff der Liebe bewegt sich der Apostel des Neuen Bundes durchaus in den Linien der Gesamtoffenbarung Gottes, auch der alttestamentlichen. Wir kennen das Hauptgebot des Mosaischen Gesetzes: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!” (3. Mo. 19,18) Hier aber liegt in dem Grundtext eine ganz besondere Kraft des Gedankens, die in den deutschen Übersetzungen meist nicht so deutlich hervortritt, die aber dennoch von der allergrößten Wichtigkeit ist und den johannäischen Begriff der Tat liebe geradezu vorwegnimmt. - „Das Zeitwort ‚lieben‘ist in dem Gebot der Nächstenliebe, so wie es 3. Mo. 19,18 im Grundtext lautet, nicht mit dem Akkusativ des Objekts (d. h. mit dem vierten Fall der Satzergänzung), sondern mit dem Dativ (dem dritten Fall) konstruiert, indem ‚lieben‘ gleichbedeutend ist mit ‚Liebe betätigen‘. Also: ‚Du sollst deinem Nächsten Liebe betätigen gleich dir selber‘, d. h. wie wenn du an seiner Stelle wärest. Du sollst ihm Liebe erweisen, welche derjenigen gleich ist, die du dir, wenn du er wärest, erweisen würdest. In jedem Akt der Liebe vollzieht sich ein Rollentausch. In dem, was der Heiland für die Menschheit getan und gelitten hat, gipfelt diese Liebe” (Prof. Franz Delitzsch).
Dieses Tat wesen echter Liebe meint auch der erste Johannesbrief, nur dass er von der christlichen Bruderliebe mehr als von der allgemeinen Nächstenliebe spricht. „Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit” (Kap. 3,13). Und hier sieht man, wie das Begriffliche bei ihm zum Greifbaren, das Theoretische zum Praktischen, das Übersinnliche zum sinnlich Wahrnehmbaren, das Abstrakte (Begriffliche) zum Konkreten (tatsächlich Faßlichen) wird. So verbindet sich nun in diesem wunderbaren Brief das göttlich Absolute (Unumschränkte) mit dem menschlichen Alltag, und die Ewigkeit ragt hinein in die Zeit, ja, in deine und meine Zeit! Aber bei dieser ganzen, eigenartigen Spannung und Gegensätzlichkeit des Abstrakten und Konkreten, des Gegensätzlichen und Harmonischen, wodurch gerade der erste Johannesbrief wie kein anderer Brief des Neuen Testamentes gekennzeichnet ist und worin auch die besondere Schwierigkeit seines Verständnisses liegt, vergessen wir es nie: Der Himmel ist der Maßstab für die Erde; nicht aber ist das Irdische die maß- und zielsetzende Begrenzung für das Himmlische!
Er. Sr.
Ergänzungen des Schriftleiters
Unser werter Mitarbeiter hat sich in seiner ausführlichen „Antwort” viel Mühe gegeben, den Lesern den schwierigen Charakter des 1. Johannesbriefes klarzumachen, woraus das richtige Verstehen der in Frage stehenden Stellen sich ergibt, und zudem hat er diese selbst uns in der Weise erklärt, dass er - mittels Anführungsstrichen - die Brüder und „Brüder” unterscheidet. Diese Erklärung dürfte die Schwierigkeiten für die meisten beheben, denke ich.
Indessen könnte noch gefragt werden, wieso denn von sozusagen zweierlei Brüdern, nämlich gleichsam echten und unechten, überhaupt gesprochen werden könnte, da doch Johannes (wie auch Paulus und Petrus) an wirkliche Gemeinden von Gläubigen schreibe. Und da glaube ich noch einen Punkt zum Verständnis dieser, aber nicht nur dieser, Stellen beifügen zu sollen.
Der Verfasser obiger Antwort gibt seine Erklärungen des Briefes und der Stellen zum Teil auf Grund der Persönlichkeit des Johannes, also des Briefschreibers. Ich glaube, dass wir ebenso sehr auf die Umstände, unter denen oder deretwegen der Brief geschrieben zu sein scheint, hinweisen müssen. Der ganze Briet ist doch - so sehr die Liebe auch betont wird, aber eben keine weibliche, seelische, gefühlsmäßige (vgl. Antw. A) - eine ausgesprochene Kampfschrift, und wogegen hauptsächlich wird der Kampf geführt? Ich meine, gegen jede Art von Täuschungsversuchen Satans, insonderheit aber gegen die Selbsttäuschung! Der Brief fällt, obwohl wir keine genaueren Abfassungdaten haben, sicher in eine wesentlich spätere Zeit als die paulinischen Briefe. Aber schon in letzteren hat der Apostel es mit den groben Versuchen des Feindes zu tun, entweder ein „anderes Evangelium” (Gal. 1), oder auch philosophische, theosophische, platonische, mystische Gedanken und Theorien mit der christlichen Heilslehre zu vermischen (vgl. z. B. den Kolosserbrief [Kap. 2!] und siehe Frage 2 des Jahrb. und Frage 6 in Jahrb. 8), und zur Zeit des 1. Johannesbriefes sind diese Dinge schon weit verbreiteter, die „erste Liebe” war schon ein wenig am Erkalten (Sendschreiben an Ephesus, Off. 2,1ff.), und die Gefahren für dem inneren Bestand der Gemeinde des HERRN wuchs zusehends! „Viele Antichristen” waren geworden (1. Joh. 2,18) - vielleicht sind damit Gnostiker von Ruf gemeint, jedenfalls aber Personen, wie sie in jeder örtlichen Gemeinde unter dem Schein höherer Weisheit und mit dem Anspruch, „gute” Christen zu sein, auftreten konnten, weswegen Geisterunterscheidungsgabe zum „Prüfen der Geister” (Kap. 4,1ff.) sehr not tat, um die groben Täuschungsversuche Satans zu durchkreuzen. Da nun aber die gefährlichsten Täuschungen die Selbsttäuschungen sind, so gibt der Apostel den ganzen Brief hindurch Kriterien Unterscheidungsmerkmale) an, wie die Angehörigen der Gemeinden bewahrt werden könnten vor dieser doppelten Gefahr: Getäuscht zu werden und vor allem sich selbst zu täuschen! Ich habe nicht den Raum, dies an der Hand des Briefes nachzuweisen, aber man lese ihn unter diesem Gesichtspunkt einmal genauer durch! (Nur einige besondere diesbezügliche Stellen: 1,5.6-8.10; 2,3-6.15-17.18ff.26!! 3,4-7.10! 13ff.; 4,1ff. 4-6! 11ff.(12!) 20.21; 5,1.2 (vgl. Frage 10 in Jahrb. 10).4f.6ff.! 16.19-21. Eigentlich wäre der ganze Brief zu nennen!)
Der Prüfstein nun, an dem die Gemeindeangehörigen sich selbst, ihren Glauben, ihre wahre Gliedschaft erkennen sollen, ist die Liebe, d. h. nicht so sehr die an sich selbstverständlichere Liebe zu Gott (die aus Seiner zu uns [neu]naturnotwendig entsteht, 4,10), sondern die Liebe zu den Brüdern, d. h. zu denen, welche die Natur Gottes, Licht, Leben, Liebe, haben und die darum Gemeinschaft untereinander haben und darum auch wahre Freude. (1,1-4) An dem Vorhandensein (nicht der Einbildung oder dem „Tun, als ob ...”) der Liebe ist das Vorhandensein des Lebens zu erkennen. Und wie letzteres absolut ist, wie es entweder da ist, und dann ist es ganz da, oder wie es nicht da ist, und dann ist gar nichts von Leben da - so ist es mit der Liebe: entweder sie ist vorhanden und dann in sich selbst vollkommen (so unvollkommen auch wir Träger derselben in uns selbst sein mögen!), oder sie ist nicht vorhanden (so sehr sich auch ihre Nachahmer den Anschein derselben geben mögen!). Liebe ist Wille für den anderen, Liebe ist „Wille zur Gemeinschaft” (Er. Sr. in „Weltschöpfung”), Liebe ist Hingabe, Liebe ist Opfer, Liebe ist darum auch Leiden - alle diese Deutungen dafür, was Liebe ist, finden und sehen wir am Absolutesten (völlig unumschränkt!) in der Liebe Gottes zu uns, und wie sie sich uns in Christo Jesu, und da wiederum am hellsten auf Golgatha geoffenbart hat. „Doch am hellsten strahlt die Sonne Deiner Lieb' und Gnad', o Gott, als Du Jesum, Deine Wonne, gabst für Sünder in den Tod! Konntest Höh‘res Du uns geben, konnte Liebe großer sein? Und wir sollten unser Leben Dir, o Gott, nicht völlig weih‘n?!” Dies bei Herrnmahlfeiern gern gesungene Lied ist so wahr, so lebensvoll und so mahnend für uns wie nur möglich.
Die echte Bruderliebe kann nur da sein, wo sie - wenn's sein muss - zu jedem Opfer bereit ist, d. h. zu jedem Opfer für Brüder! Diese Liebe lässt sich nicht kopieren! Eine Nachahmung würde stets vor den Konsequenzen (Folgen) zurückschrecken, denn dass die Welt uns hassen muß, zeigt das Beispiel von Kain (3,12.13); Haß ist das große Gegenteil der Liebe, und da diese nur ganz sein kann in sich selbst, so ist alles, was nicht Liebe ist, also schon Gleichgültigkeit gegen die Not des Bruders, eine Vorstufe zum Haß. Solche Leute also, die mit ihrem Lippenbekenntnis Christen sein wollten, die sich ihrer Liebe zu dem unsichtbaren Gott rühmten (4,20), aber in ihrem Verhalten zu den Brüdern keine Liebe - Tatliebe- offenbarten, waren Menschenmörder und Lügner; sie mochten etwas von den Kräften des ewigen Lebens geschmeckt haben (vgl. Hebr. 6,4ff. und siehe dazu die letzten schriftlichen Ausführungen in den „Handreichungen” von unserem entschlafenen Bruder K. O. St. in Jahrb. 16, Frage 18!), aber bleibend, wohnend war es nicht in ihnen - wenn man es vielleicht auch einige Zeit lang gemeint hatte!! Einmal wird's offenbar, und schon hienieden.
Und nun zum Schluß: Wie ernst ist es auch für uns heute, uns zu prüfen, ob wir Liebe haben (1. Kor. 13,1-3: 3mal „aber nicht Liebe habe”), und zwar Liebe zu den Brüdern, den Geschwistern, Liebe trotz ihrer Schwächen, Gebrechen, Unvollkommenheiten, Unfreundlichkeiten usw.! Wir sind nicht andere Leute, nicht andere Grundcharaktere wie sie - wenn sie uns lieben können - können wir sie nicht lieben? Aber „nicht mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit”?! (V. 18) O Geschwister, welch ein Prüfstein! Lieben wir die Brüder? Wir mögen darin oft zu kurz gekommen sein und uns über unsere „Lieblosigkeit” gebeugt haben, aber im Grunde - weil Leben da war! - war doch die Liebe vorhanden und - brach einmal wieder siegreich durch - oder aber - war's nicht so? brach (in einem Einzelfall) schließlich die alte Kainsnatur wieder durch? O nur das nicht! Der HERR bewahre uns davor!
Haben wir Liebe zu den Brüdern, zu „allen Heiligen” (Kol. 1,4 u. a.), oder haben wir sie nicht? Der HERR gebe uns Licht über uns selbst und Gnade zur Beugung, wo sie nötig ist, - Gnade, neue, „größere Gnade” (Jak. 4,6) aber auch zu einem Wandel im Licht und in der Liebe! „Geliebte, lasst uns einander lieben!” (1. Joh. 4,7)
F. K.