Antwort A
Der siebente Vers im fünften Kapitel des Römerbriefes enthält zwei Sätze, in denen Paulus zwei außergewöhnliche Fälle zum Vergleich der großen Liebestat des HERRN heranzieht, der Sein Leben für uns am Kreuz dahingab. Diese beiden Fälle erscheinen als außerordentlich selten. Der zuerst genannte wird als „kaum” möglich bezeichnet, der andere als „vielleicht” möglich angenommen. Unmöglich sind also beide Fälle nicht. Der erste ist: Kaum wird jemand für einen Gerechten sterben. Der zweite: Für den Guten wurde vielleicht noch jemand sich entschließen zu sterben. Der Gegensatz zu dieser Feststellung ist im folgenden (8.) Verse ausgesprochen: Gott aber (im Gegensatz dazu) offenbart (beweist, oder stellt ins rechte Licht) Seine Liebe gegen uns darin, dass Christus für uns starb, als wir (weder gerecht noch gut, sondern) noch Sünder waren. Um wieviel bewundernswerter ist also die Liebe Gottes (V. 8) und auch in ihren Wirkungen tiefgreifender und weitreichender (V. 9.10)! Sie übertrifft alle Beweise menschlicher Liebe und Selbstaufopferung so unendlich weit, dass ihr übermenschlicher, göttlicher Charakter sogleich in ein helles Licht tritt, wenn man - wie der Apostel es in V. 7 andeutet - in menschlichen Verhältnissen nach einem Vergleich suchen möchte.
Nun finden wir in einigen Übersetzungen den zweiten Satz in V. 7 nicht auf eine Person, sondern auf eine Sache angewendet. „... für das Gute würde vielleicht noch jemand sich entschließen, zu sterben.” Nach dem griechischen Text ist diese Übersetzung ebensowohl möglich. „Wegen des Guten” (in Griechischen steht auch der Genetiv) kann sowohl männlich als sächlich verstanden werden. Wenn man aber beachtet, dass „für einen Gerechten” ohne Zweifel im Gegensatz zu den „Gottlosen” steht, so liegt es nahe, auch im zweiten Satze „für den Guten” und nicht „für das Gute” zu verstehen. Handelte es sich nicht um eine gute oder gütige Person, sondern um eine gute Sache, so hätte der Apostel dies doch wohl deutlicher hervorgehoben. Auch im 6. und 8. Verse ist von Personen die Rede. Für wen starb Christus? So lautet die Frage, die der Apostel so deutlich beantworten will, indem er uns in unserem natürlichen Zustande als „kraftlos” (V. 6), als „Gottlose” (V. 6), als „Sünder” (V. 8) und als „Feinde” (V. 10) bezeichnet.
Bei der Übersetzung „für das Gute” würde ja der Gegensatz gar nicht so deutlich hervortreten. Denn auch Christus ist für „das Gute” im höchsten Sinne gestorben. Bei sächlicher Fassung, so bemerkt Zahn in seinem Kommentar zum Römerbrief, wäre der Artikel (im zweiten Satze, im ersten fehlt er!) unverständlich. Gewiß hat es Menschen gegeben, die für irgendein Ideal, Familie, Vaterland, irgendeine Erfindung oder Entdeckung ihr Leben daran wagten. Ebenso hat manche Mutter für ihr Kind das Leben geopfert und ein Freund für den anderen sein Leben gewagt. Also beides sind mögliche Dinge, wenn auch nicht alltägliche. Aber die Frage ist nicht, welche Fälle möglich sind, sondern, was der ursprüngliche Gedanke des Apostels war. Und da scheint doch der Gedanke an eine Person näher zu liegen als der an eine gute Sache. Der Apostel schildert die Menschen, für die der Sohn Gottes starb. So liegt es nahe, auch bei den Vergleichen aus dem menschlichen Leben an Personen zu denken. Möglich, denkbar ist es, dass ein dankbarer Mensch für seinen Wohltäter sich aufopferte. Aber Gott ließ Seinen geliebten Sohn nicht für Gerechte und Gute sterben, sondern für Seine Feinde! Welch ein Gegensatz zu den höchsten Leistungen menschlicher Liebesbeweise! Wo wäre das unter den Menschen denkbar, dass jemand für seinen persönlichen Feind das allergrößte Opfer, sein eigenes Leben, darbrächte? Das aber hat Gott getan. Er fragte nicht nach Würdigkeit, Verdiensten und Leistungen, Seine Liebe war so stark, dass sie Ihn trotz unserer Unwürdigkeit, Schwäche, Unreinheit, Auflehnung und Feindschaft das allergrößte Opfer aller Zeiten bringen ließ, Seinen einzigen, geliebten Sohn.
J. W.
Antwort des Schriftleiters
Diese schöne, klare Antwort gibt jedem Fragenden volles Licht über den betreffenden Gegenstand! Es ist auch nicht meine Absicht, zur Frage selbst Wesentliches anzufügen, sondern ich möchte nur einige praktische Bemerkungen machen, die im Rahmen gegebener Antwort liegen.
Es ist deutlich hervorgehoben, worauf es dem Apostel ankommt: den unendlichen Gegensatz herauszustellen, der zwischen der Liebe Gottes und dem menschlichen Wesen besteht. Der Mensch, ein, wie schon gesagt, nach dem ganzen Zusammenhang kraftloser, hilfloser, gottloser, von Gott losgelöster Sünder, ja, Feind Gottes, braucht, um etwas Außergewöhnliches tun zu können, auch außergewöhnliche Antriebe. Ob es sich, was, wie erwähnt, nach dem Grundtext wohl möglich, nun um eine „gerechte Sache” oder einen „gerechten Menschen” - um „etwas Gutes” oder „einen Gütigen” handelt -, so ohne weiteres würde der Mensch, wie er ist, nicht sein Leben hingeben; das „Kaum” und auch das „Vielleicht” zeigt eine tiefe, innerliche Überlegung, die dem unwahrscheinlicheren oder allenfalls möglichen Opfer vorangeht, aber es nur bringt, wenn es Zweck oder einen dem Opfer entsprechenden Erfolg, so oder so, hat (z. B. Ruhm bei der Nachwelt! Anerkennung usw.). Es ist also kein selbstloses Opfer - solch Opfer, das durch die Station eines „Kaum” oder „Vielleicht” geht; kein Opfer um seiner selbst willen, sondern nur eins mit - wenn auch noch so verständlichen - Nebengedanken. Wie so ganz anders ist demgegenüber Gottes Liebe, die Ihn den „Sohn der Liebe” hingeben heißt ohne Rücksicht auf Wert oder vielmehr Unwert der Gegenstande Seiner Liebe! Liebe ist eben Opfer um ihrer selbst willen, gerade dann am hellsten strahlend, wenn am wenigsten motiviert (begründet) erscheinend.
Dies habe ich geschrieben im Blick darauf, dass die Stelle, wie gesagt, verschieden übersetzt werden kann. Aber ich selber glaube wie unser lieber Mitarbeiter, dass übersetzt werden sollte: „für” oder „im Hinblick auf einen Gerechten” oder „den Gütigen”
(„den Guten”). Denn der Gegensatz ist doch wirklich erst dann so recht erkennbar, wenn es sich um Menschen handelt, um Personen! Und da ist es doch hienieden schon sehr bemerkenswert, dass gerechte Leute nicht so sehr geliebt sind, dass man für sie sterben möchte, für gütige schon eher - Gott aber beweist, bewährt Seine Liebe darin, dass Christus gestorben ist (viermal im Zusammenhang ist von Seinem Sterben die Rede), als wir noch hilflose, gottentfremdete Sünder und sogar Feinde waren! Welche Liebe! Selbstlos bis zum Äußersten! Ja, je weniger wir es wert waren (Steigerung von „kraftlos” bis „Feind”!), desto strahlender Seine Liebe, die nicht eher ruht, bis die „Feinde versöhnt” sind, d. h. in den vollen Genuß Seiner grundlosen Liebe eingetreten sind (V. 10). Ja, Christus hat es „gewagt” (V. 7!), für Seine Feinde zu sterben! „Gewagt!” Es war ein Wagnis! Es hätte erfolglos verlaufen können! Es ist Seiner Liebe gelungen, uns als „Frucht der Mühsal Seiner Liebe” zu gewinnen! (Jes. 53,11) Waren wir „gerecht”? Nein! Waren wir „gütig” oder „gut”? O, noch viel weniger! Aber Christus starb für uns arme Sünder! Preis sei Ihm!
Wenn wir aber diese Stelle nur erkenntnismäßig verstehen, so ist es noch nicht genug, selbst wenn wir uns tief veranlasst fühlen, den HERRN für Seine Liebe zu preisen. Es kommt nun darauf an, dass wir die gleiche Gesinnung offenbaren, dass wir die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossene Liebe Gottes (V. 5) (d. h. Seine Liebe zu uns) so in uns zur Herrschaft kommen lassen, dass wir nicht den „Jemands” von V. 7 gleichen, sondern Gott, der Seine Feinde liebte und ihnen das Beste, was Er hatte, gab. Und wenn wir nicht gleich soweit sind, sie zu lieben, und zwar selbstlos, so lasst uns wenigstens erst einmal die kraftlosen, zu ihrer eigenen Rettung unfähigen, gottentfremdeten, ohne Ihn lebenden Sünder, die gegen Gottes Willen und darum auch gegen uns handeln müssen, so lieben, dass wir nötigenfalls bereit sind, ihnen Opfer zu bringen, die Gottes würdig sind! Dann werden wir auch dahin kommen, schließlich Seine und darum unsere Feinde zu lieben, wie Sein Wort es uns durch Pauli Brief später sagt (Röm. 13,14.18-21), und Opfer für sie darzulegen, ja, vielleicht das eigene Leben, um ihnen zu zeigen, wer Gott ist, der nicht nur Selber Seine Liebe gezeigt und bewiesen hat, die so unendlich weit über die irdische Liebe hinausgeht, sondern der diese Seine Liebe solchen in sich selbst armen, elenden Kreaturen, wie wir sind, geschenkt hat, damit sie fähig würden, diese Seine Liebe, die die Welt nicht kennt, zu offenbaren in den praktischen Dingen des täglichen Lebens. Er helfe uns darin mehr und mehr, auf dass jenes herrliche „Gott aber” einer armen, verlorenen Welt bekannt werde durch Wort, Werk und alles Wesen derer, ja, unserer, die wir diese Liebe täglich schmecken und genießen dürfen, „und uns Gottes rühmen durch unseren Herrn Jesus Christus” (V. 11; vgl. 8,31-39)!
Sein kostbarer Name sei hochgelobt!
F. K.