Altes und Neues Testament
Zuerst zur allgemeineren Frage, ob die Aussagen des Alten Testaments im Widerspruch zu den Aussagen des Neuen Testaments stehen? Nein. Das Neue Testament baut auf dem Alten auf. Es ist die Vervollständigung und Erfüllung des Alten Testaments. Viele Vorhersagen und Einrichtungen des Alten Testaments fanden in Christus und in seiner Gemeinde (oder Kirche, je nach Übersetzung) ihre Erfüllung. Die Erfüllung anderer Vorhersagen (besonders in Bezug auf die letzten Ereignisse dieser Welt sowie die Erschaffung einer neuen Welt) steht noch aus. Die Autoren des Neuen Testaments nehmen bewusst Bezug auf das Alte - es gibt unzählige Zitate. Keiner dieser Autoren, auch nicht Jesus, widerspricht dem Alten Testament. Vielmehr zeigen sie das richtige Verständnis desselben. Der Schlüssel zu diesem Verständnis ist Jesus Christus selbst, jedes Buch des Alten Testament nimmt Bezug auf ihn, wie Jesus nach seiner Auferstehung den Emmaus-Jüngern erklärte:
"Und er sprach zu ihnen: O ihr Unverständigen und im Herzen zu träge, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit hineingehen? Und von Mose und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf." (Lk 24,25-27)
"Ich aber sage euch ..."
Wie sieht es nun mit der spezielleren Frage aus, ob ein Widerspruch besteht zwischen der Aussage des Alten Testaments "Auge um Auge, Zahn um Zahn" und den Worten Jesu "Widersteht nicht dem Bösen" (Mt 5,39) bzw. "Liebet eure Feinde" (Mt 5,44)?
Zuerst einmal ist hervorzuheben, dass Jesus in diesem Abschnitt der Bergpredigt (Mt 5,17-48) nicht Antithesen zum mosaischen Gesetz aufstellt - das geht klar aus Mt 5,17-20 hervor) sondern Antithesen zu der gängigen Auslegung und Anwendung des Gesetzes. Deshalb sagt Jesus: "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist" oder "Ihr habt gehört, dass gesagt ist". Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Gesetz immer weniger im Sinne Gottes verwendet und stattdessen für egoistische Zwecke missbraucht:
"Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! Denn ihr verzehntet die Minze und den Anis und den Kümmel und habt die wichtigeren Dinge des Gesetzes beiseite gelassen: das Recht und die Barmherzigkeit und den Glauben; diese hättet ihr tun und jene nicht lassen sollen." (Mt 23,23)
Genau dagegen wendet sich Jesus in der Bergpredigt: dass sie das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben, also die wichtigsten Dinge des Alten Testaments, bei ihrer Auslegung und Anwendung beiseite ließen.
Auge um Auge
Wenn man sich den Zusammenhang der Stellen im Alten Testament anschaut, wo diese Phrase verwendet wird (2Mo 21,24; 3Mo 24,20; 5Mo 19,21), bemerkt man Folgendes: Es geht überhaupt nicht um persönliche Rache, sondern um Rechtsprechung. Angemessene Strafen wurden von Richtern auferlegt. Das Gesetz wurde nur bei Mord wörtlich angewandt, sonst aber durch eine entsprechende Zahlung ersetzt.
Schon das Alte Testament ist gegen persönliche Rache (siehe Spr 20,22; 24,29; 25,21-22; Hi 31,29-30; 3Mo 19,18), aber die Pharisäer und Schriftgelehrten haben das Wort Gottes so verdreht, dass sie damit persönliche Rache rechtfertigten. Und gegen diese Auslegung des Gesetzes wendet sich Jesus.
Das Schwert der Obrigkeit
Und wie passen Nächstenliebe und Feindesliebe mit der Bestrafung von Verbrechern zusammen? Zuerst einmal müssen wir sehen, dass im Neuen Testament nirgends die staatliche Gewalt zur Verurteilung und Bestrafung von Verbrechern aufgehoben wird - im Gegenteil: sie wird bekräftigt:
"Jede Seele unterwerfe sich den übergeordneten staatlichen Mächten! Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet. Wer sich daher der staatlichen Macht widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil empfangen. Denn die Regenten sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du dich aber vor der staatlichen Macht nicht fürchten, so tue das Gute, und du wirst Lob von ihr haben; denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, so fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst, denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut." (Röm 13,1-4)
Wir müssen klar unterscheiden zwischen privater Gewaltausübung und exekutiver Gewalt durch den Rechtsstaat: Ersteres ist den Christen untersagt, Letzteres ist von Gott gewollt. Die Bergpredigt erklärt nicht die Prinzipien des Rechtsstaates, sondern der Nachahmung Jesu in einer gottlosen Welt. Dazu gehört das Erdulden von Unrecht und das Warten auf Gottes Erlösung. Der Christ darf sich nicht rächen (siehe z.B. Röm 12,19), braucht nicht sein Recht durchsetzen (siehe z.B. 1. Kor 6,7), sondern darf es in die Hand Gottes legen und auf ihn hoffen. Das hat uns Jesus vorgelebt. Ein Staat dagegen muss Recht sprechen und Urteile vollstrecken, um Gerechtigkeit zu üben.