Antwort
Eindeutig klare Aussagen der Schrift in Verbindung mit der Beachtung gewisser Grundsätze, die bei der Abfassung der Schrift angewandt worden sind, verhelfen zur Klarheit. Einer (I) dieser Grundsätze ist: Söhne werden nicht der Geburtsfolge nach genannt, wenn es sich um die Stellung in dem Ratschluß und in den Gnadenabsichten Gottes handelt. Ein zweiter (II), sich an diesen anschließender Grundsatz ist: gewöhnlich ist es ein jüngerer oder gar der allerjüngste der Söhne, den die Gnadenwahl Gottes herausgreift, oder wenn es sich um eine Familie handelt, eine der geringsten. Auch kommt's vor, dass beides zusammentrifft.
Gleich beim ersten Brüderpaar der Menschheitsgeschichte hatte der Jüngere, Abel, das Wohlgefallen Gottes, nicht Kain, der Ältere. Das zweite Beispiel in der Schrift sind die Söhne Noahs. In den Kapiteln 6-10 des 1. Buches Mose stehen sie immer in der Reihenfolge: Sem, Ham, Japhet. Und doch war Japhet der Älteste, Ham der Jüngste: 10,21 und 9,24. Die Erklärung ist einfach. Sem war von Gott dazu ausersehen, der Ahnherr derer und Dessen zu sein, durch welche und in welchem die Heilstatsachen für die Menschheit zum Austrag kommen sollten: Israels und des Christus. Also gebührt dem Sem der Vorrang in der Aufzählung. Dass Ham an zweiter und Japhet, obwohl Ältester, an dritter Stelle kommt, hebt einen anderen Grundsatz (III) heraus: das Nächstliegende kommt zuerst, dann das Entferntere. Die Schrift wurde durch Mose zunächst für Israel geschrieben. Und Israel ist der Mittelpunkt alles Geschehens auf der Erde. Also nimmt die Betrachtung bei ihnen den Ausgang: Außer von anderen semitischen Völkerstämmen waren sie von hamitischen Völkerschaften umgeben, ja kamen aus einer hamitischen, aus Ägypten, heraus und nahmen das Land hamitischer Völkerschaften, Kanaan, in Besitz. Die Japhetiten waren in die Ferne gezogen: so steht Japhet auch erst hinter Ham: 10,1 zum letztenmal. Von Vers 2 an ist die Reihenfolge umgekehrt: Japhet, Ham, Sem, nach einem weiteren Grundsatz, der sich auch weiterhin findet (IV): wenn bei einer Person oder Sache länger verweilt werden soll und es sind andere Personen oder Sachen ebenfalls zu berücksichtigen, so wird mit dem Entfernteren und weniger in Betracht Kommenden begonnen, bis herwärts zu dem Allerwichtigsten, über den die Schrift sich dann verbreiten kann, ohne sich Einschränkung auferlegen zu müssen. Darum hier Japhet, Ham, Sem, weil sie bei des letzteren Nachkommen nun immerfort verweilen will; denn Kap. 11,1-9 ist nur eine, wenn auch notwendige, Einschaltung. 11 Vers 10 ist die Fortsetzung von 10,31, und diese Fortsetzung zieht sich durch die ganze Schrift hin, obwohl sie zunächst auf Abraham abzielt: 11,26ff.
Beiläufig: Wie vernunftgemäß ist die Abfassung der Schrift! Sie ist es in viel größerem Maße, als die meisten Leser entdecken oder ahnen. Und ihre Kritiker macht sie zuschanden, wenn diese das auch nicht wahr haben wollen. Wir sind gewohnt, zu sagen: Jakob und Esau, Mose und Aaron. Das ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Mit Recht. Aber doch nur, weil die Schrift so spricht, den Jüngeren vor den Älteren setzt, der bevorzugteren Stellung wegen (Mose war 3 Jahre jünger als Aaron: 2. Mo. 7,7); z. B. Josua 24,4.5. Siehe Gideon, Richt. 6,15; Saul, 1. Sam. 9,21; David, 1. Sam. 16,11.
Noch einen in der Abfassung der Schrift angewandten Grundsatz (V) müssen wir zu unserer Antwort in Betracht ziehen: Die Schrift berichtet zielstrebig, d. h. sie geht direkt aufs ganze und nimmt lieber nachher eine Einzelheit wieder besonders vor, als dass sie sich vorher durch dieselbe aufhalten ließe. Das erste Beispiel dieser Art ist die Erschaffung des Menschen, 1. Mo. 1 und 2. Kapitel 1,26-29 berichtet summarisch die Erschaffung des Menschen als männlich und weiblich nach dem Schema des Berichtes über anderes, der vorangeht. Im 2. Kapitel folgt als etwas Spezielles die Schilderung des Wohnortes, den Gott dem vorderhand als männliches Einzelwesen daseienden Menschen bereitet, und dann die Erschaffung aus Adam der ihm entsprechenden weiblichen Hilfe.
Es ist wichtig genug, dass hier nebenher erwähnt werde: nicht ist es so, wie schon gefolgert worden ist: Adam sei so und solange erschaffen gewesen, als die Erschaffung des Weibes erfolgte, und das „sehr gut” am Ende der sechs ersten Tage sei also gar bald nicht mehr wahr gewesen, da ja Gott Selber gesagt habe, „nicht gut” ist, dass der Mensch allein sei. Nein! Kap. 2 gehört ganz in den sechsten Tag hinein, in den sechsten Tag von 24 Stunden. Gott, welcher spricht und es steht da, brauchte nicht etwa einen halben oder dreiviertel Tag, um die Erde, die lebendigen Wesen, die Tiere, hervorbringen zu lassen, 1,24-26. Dieses und die Bildung des Menschenleibes konnte im Nu vor sich gegangen sein. Anschließend erfolgte die Bereitung des Gartens, das Herzubringen der Tiere zu Adam zur Benennung, wozu der Tag ausreichen konnte. Sie waren doch wohl in der Nähe. Es handelte sich um die Tierarten. Der eben erst dem Menschen eingehauchte Odem oder Geist Gottes verbürgt uns das Vorhandensein einer Weisheit in Adam, die wir uns gar nicht vorstellen können, so dass er im Nu die Tiergattungen nach deren Eigentümlichkeiten benennen konnte. Hierauf erfolgte das In-Schlaf-fallen-lassen Adams zur Entnahme der Rippe und deren Bauen zum Weibe, was als Tun Gottes im Nu geschehen war, so dass am Abend des sechsten Tages das „sehr gut” ertönen konnte. Wie viele Phantasien und Schwierigkeiten werden in die Schrift hineingetragen! Und sie ist doch so einfach!
Als Übergang zu Abraham noch einmal Noahs Söhne, 5,32: „Noah war 500 Jahre alt und zeugte Sem, Ham und Japhet. Frage: Hat sein Weib Drillinge geboren, oder jeweils einen in einem bestimmten Jahr? Ist es nicht wie bei den 9 vorhergehenden Vätern: als sie so und so alt waren, fingen sie an zu zeugen? Nur sind hier sämtliche Erzeugte gleich zusammen genannt, wie in Kap. 6,10 wiederum, ohne dass etwas über die Geburtsfolge gesagt wäre. Diese Frage muß, wenn möglich, anderswoher ihre Lösung finden! Ebenso aber auch dieselbe Frage bezüglich der 3 Söhne Tarahs, 11,26, mit der Wiederholung in Vers 27. Frage wieder: Hat Tarahs Weib ihm Drillinge geboren, als er 70 Jahre alt war, oder hat sie die drei in verschiedenen Jahren geboren? Ist es nicht eine Vermessenheit, steif und fest zu behaupten: so wie's hier steht, sei die Geburtsfolge gewesen, wenn doch anderwärts wie bei den Söhnen Noahs ein unzweideutiger Hinweis gegeben ist, dass es nicht so war?
Unter Zuhilfenahme der aufgezeigten Grundsätze können wir uns jetzt für die Antwort kurz fassen. 1. Mo. 11,26.27 ist nicht ausschlaggebend, um festzustellen, ob Abraham der älteste Sohn Tarahs war oder nicht: Grundsatz I. Abraham war der jüngste oder doch zweitjüngste Sohn Tarahs, wie eindeutig aus 12,4 hervorgeht: Grundsatz II. Es geht auch daraus hervor, dass er Lot, den Sohn des 60 Jahre älteren Haran, mitnehmen konnte. Auch Nahor war jünger als Haran, da er eine Schwester Lots zur Frau nehmen konnte.
Abraham kann nicht 60 Jahre vorher ein erstes Mal in Kanaan gewesen sein. Es steht eindeutig da, 11,31, dass Tarah den Aufbruch nach Kanaan in die Hand nahm; dass sie nur bis Haran kamen und da wohnen blieben. Dass Abraham allein weitergezogen und wieder zurückgekehrt sei, ist eitel Phantasie. Grundsatz IV und V kommt hier in Frage: die Geschlechterfolge von 11,10 an strebt zu Abraham hin. Sie macht, bei Tarah angekommen, eine Pause, weil es für die in der Folge gegebene Geschichte unerläßlich ist, Persönlichkeiten aufmarschieren zu lassen, die eine Rolle spielen. Die Brüder Abrahams und deren Familien mußten neben ihm genannt werden, damit der Leser Bescheid wisse, wenn er von Haran, dem Herkunftsort der Rebekka, des Weibes Isaaks, und Lehas und Rahels, der Weiber Jakobs, von Lot und Laban und anderen von dort, liest. Nach dieser kurzen Mitteilung wendet sich der Bericht wieder Abraham zu, um nun unabgelenkt bei ihm verweilen zu können.
12,1 geht nach Apg. 7,2-4 auf den allerersten Anfang, auf den Ruf des Gottes der Herrlichkeit an Abram in Ur in Chaldäa (Mesopotamien) zurück. Josua (24,2.3) und Stephanus setzen den Auszug aus Ur und die Übersiedlung von Haran nach Kanaan rein auf das Konto Gottes. Dies unterstreicht eben, dass das Ingangsetzen des Aufbruchs durch Tarah nur eine Zwischenhandlung war, der Abram sich fügte. Abram musste doch seinem Vater sagen, was er vorhabe; er konnte doch nicht wie Jakob mutterseelenallein ohne sein Weib und ohne Existenzmittel die Reise ins unbekannte Land antreten. Wir kennen ihn aus seinem Verhalten gegen Gott als einen Mann des strikten Gehorsams. Was wunder, dass er der Aufwallung seines Vaters, selber auch mit allen Familienangehörigen zu gehen, keinen Widerstand entgegensetzte, sondern einfach mitging, da er ja so der Aufforderung Gottes auch nachkam, mit Ausnahme des Punktes: Geh' aus deiner Verwandtschaft. Bei Tarah war es aber nicht Glaubensgehorsam. Darum blieb die Reisegesellschaft hängen, bis nach wenigen Jahren, wie man ausrechnen kann, durch Tarahs Tod der Weg für Abram frei wurde.
Die Worte des Stephanus sind so eindeutig klar, dass „Und Jehova sprach zu Abram”, 1. Mo. 12,1, mit den Einzelheiten, die dem Ruf sein einzigartiges Gepräge geben, nicht auf Haran paßt. Die Form des Zeitworts „sprach” wird in diesen und jenen Übersetzungen verständlicher mit „hatte gesagt” wiedergegeben, auch in anderen ähnlichen Stellen. Mit Recht. Die Elberfelder Übersetzung hatte es auch in der ersten Ausgabe. Esweist deutlicher als „sprach” auf einen früheren Zeitpunkt zurück. Überdies braucht man sich nur zu fragen: War Haran Abrams Land oder Vaterland, wie Luther dem Sinne nach gelungen sagt? Man wird sich selber die Antwort „nein” geben und sagen: Das war Ur in Chaldäa.
Man lasse sich also nicht durch allerhand mehr oder weniger spekulative Chronologien in Verwirrung bringen! Abraham war nicht der älteste Sohn Tarahs und war vor seines Vaters Tod nicht in Kanaan gewesen.
F. Kpp.