Aas und Adler

Was hat das Bild, das der HErr in Matth. 24,28 gebraucht, zu bedeuten (Aas und Adler)?

Antwort A

In Bibelausgaben mit Parallelstellen ist hingewiesen auf Hiob 39,29.30; Habakuk 1,8; Off. 19,17.18.21 und Lk. 17,36. Die Stellen in Hiob, Habakuk und Offenbarung zeigen an, dass in Matthäus und Lukas die selbstverständliche Zumutung an den Leser gestellt wird, hinzuzudenken: „an dem Tage, da der Sohn des Menschen geoffenbart wird” (Lk.), bei der „Ankunft des Sohnes des Menschen, die also sein wird, wie der Blitz ausfährt von Osten und scheint bis gen Westen” (Mt. 24,27 und Lk. 17,24), wird es Erschlagene geben, die den Raubvögeln zum Fraße dienen werden.

Wer sind nun die Erschlagenen, hier in Matthäus mit „Aas”, in Lukas mit „Leichnam” bezeichnet? Das kann nur dem Mittext entnommen werden. Denn das Gericht, das der HERR bei Seiner Ankunft ausübt, wird verschiedene Zusammenballungen von Feinden und Bündel von Unkraut (Mt. 13) treffen. In Offenbarung 19 sind es die Könige der Erde und ihre Heere, allen voran das Tier und der falsche Prophet, d. i. das Haupt des neuerstandenen römischen Reiches, dessen Kaiser, in dem das Reich verkörpert ist, und der Antichrist, der mit ihm verbündete, zugleich von ihm abhängige jüdische König. Das Gericht wird sie in Palästina oder dessen Nähe treffen. Off. 1.5,12-16.

In Lk. 17,31-35 und in Mt. 24,1-44 hat der Herr die Juden und das Land im Auge. Nichts ist von den Königen der Erde und von dem Tier und dem falschen Propheten speziell gesagt. Der HERR drückt Sich in allem summarisch aus. Daher werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir unter dem „Aas” oder „Leichnam” die Masse der von ihrem Gott abgefallenen Juden im Lande verstehen. Sie sind mehrfach in den Propheten und Psalmen genannt, heißen im Gegensatz zur verhältnismäßig kleinen Anzahl der treuen Juden „die Vielen”, Daniel 9,27 und hier Mt. 24,12. Es ist nicht gesagt, wie das Gericht sie trifft. Zu dieser Frage bestünde auch gar kein Anlaß. Ob welche davon beim falschen Propheten im Gefolge der versammelten Heere der Könige der Erde sind oder in Jerusalem oder anderen Orten im Lande - sie werden dem Verderben nicht entrinnen! Die Jünger hatten gefragt: „Wann?”, Mt. 24,3, und durch längere Ausführungen kommt der HERR auf den Punkt: „dann”, Vers 14. Noch nähere Erläuterungen führen zum Augenblick Seiner Ankunft, Vers 27.

In Lukas geben die Pharisäer durch die Frage über ein „Wann” Anlass zu den Mitteilungen, die der HERR den Jüngern gibt: 17,20-22. Die von den Propheten für den Tag Jehovas soviel gebrauchte Formel „an jenem Tage” gebraucht der HERR hier für Seinen, des Sohnes des Menschen Tag, Verse 30.31. Dass nicht ein Tag von 24 Stunden, sondern eine gewisse Zeitspanne gemeint ist, ist klar in den Propheten. Hier ist es auch nicht anders. In Mt. 24,19.22 heißt es „jene Tage”. Also umfaßt „der Tag” eine Reihe von Tagen. Es braucht sich auch niemand zu stören an dem Wort „in jener Nacht”, Lk. 17,34: Im Bette sein, von dem der HERR spricht, tut man eben bei Nacht, wie auch am frühen Morgen, ehe es noch recht Tag ist, die zwei Sklavinnen das Getreide für die Tagesration Brot mahlten. In Mt. 24,40 spricht der HERR von zweien, die auf dem Felde sind, was doch nur bei Tage der Fall ist. Die Frage der Jünger in Lukas Vers 36 lautet dann: „wo?”. Darauf erfolgt die verschiedenen Umständen und Arten des Gerichts Rechnung tragende und Raum lassende Antwort: „wo irgend” eine Person oder eine Zusammenballung von Personen ist, die von Gericht erreicht werden sollen, da wird es sie treffen.

Da es eine sprichwörtliche Redensart ist: „Wo das Aas oder der Fraß ist, da versammeln sich die Adler”, so ist es nicht angängig, genau festlegen zu wollen, wer oder was mit den Adlern gemeint ist. Es meint einfach: Die Werkzeuge, die zur Ausführung des Gerichts gebraucht werden, werden zur Stelle sein und ihr Werk tun, ohne den oder die Falschen zu treffen. Es mögen Menschen sein, wie es für „die Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist”, eben zu jener Zeit „die überflutende Geißel”, d. i. der König des Nordens, sein wird (Jes. 28,14-22; „der Bund mit dem Tode, der Vertrag mit dem Scheol”, Vers 18, ist der Bund des Antichristen in Jerusalem mit dem Haupt des römischen Reiches, um dem König des Nordens widerstehen zu können); es mögen Engel sein; es mag das aus dem Munde des HERRN wie ein Schwert ausgehende Wort sein: Es ist unnötig, sich darüber Gedanken zu machen!

Bezeichnend ist es doch, dass das Wort „Aas” in Matthäus gebraucht wird wie in keiner der anderen Parallelstellen. Ob's nicht in der Absicht gebraucht ist, den Abscheu zum Ausdruck zu bringen, den Gott an denen, die gemeint sind, empfindet? Im Gesetz wird erklärt, dass unrein wird, wer als Israelite ein Aas oder einen Leichnam anrührt. Das Tun und Treiben dieser abtrünnigen Juden der antichristlichen Zeitperiode ist in Gottes Augen so häßlich, dass sie verblümt mit dem, was ein Aas ist, einsgemacht werden.

Wir sind in der Auslegung in den Grenzen der Schrift geblieben. Es gibt andere Auslegungen. Z. B. mit den Adlern seien die Feldzeichen der römischen Legionen gemeint, welche Jerusalem zerstörten im Jahre 70. Die Feldzeichen dieser Legionen waren Adler. Aber ein Aufmerken darauf, dass der HERR in Mt. 24 von der Endzeit spricht, zerstört diese Auffassung. In Lukas 17 spricht der HERR ebenfalls von der Endzeit. In Lukas 22, wo wirklich von Jerusalems Zerstörung durch Titus die Rede ist und anschließend daran vom Kommen „des Sohnes des Menschen in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit”, ist von Aas oder Leichnam und Adlern gar nicht die Rede. Also bleiben wir bei dem, was uns die Schrift an die Hand gibt, dann fahren wir am sichersten!
F. Kpp.

Antwort des Schriftleiters

Diese in kurzem Abstand nacheinander zweimal, von ganz verschiedenen Seiten, gestellte Frage hat in obigen Ausführungen eine sonnenklare, nüchterne, einfache und doch auch ausführliche Beantwortung gefunden, die hoffentlich jedem nützt! - Ich glaube, nur noch einiges hinzufügen zu sollen.
Zur Sache, die in dem fraglichen Zusammenhang behandelt wird, den „Tag des HERRN” betreffend, verweise ich u. a. auf folgende früher veröffentlichte Fragen und Aufsätze: Jahrb. 2, Frg. 31; 5,14; 10, S. 66-68 (12,21); 15,4; Frg. 1 ds. Js.!
Zu dem vom HERRN gebrauchten Bilde möchte ich bemerken,

1. dass es sich nach Brehm (vgl. Kinzler, „Biblische Naturgeschichte”, wohl eher um die Geier handelt, nicht als ob der Adler nicht auch an Leichen, an Aas, ginge, aber er kommt meist allein oder zu 2-3, während die ebenso, menschlich unvorstellbar, scharf aus höchster Höhe sehen könnenden Geier mehr in Scharen („zu Hunderten”) kommen, wie es dem Wortlaut der Stellen nach sein muß. Das Wort, welches im griechischen Grundtext für die Vogelart steht, bedeutet wohl „Adler”, aber das entsprechende hebräische Wort des A. T. kann beide Tierarten bezeichnen (Adler und Geier).

2. Sowohl der Zusammenhang der Stelle ist in Lukas etwas anders als in Matthäus als auch der Wortlaut, indem in Mt. 24,28 von „Aas” die Rede ist und in Lukas 17,36 von „Leichnam”. Ohne obiger Antwort im mindesten widersprechen zu wollen, meine ich zunächst doch, dass in Lukas - auch durch Hinzufügung der Lot-Geschichte - der Kreis derer, die das alles angeht, ein wenig hinausgeht über Israel. Sollte man diese Gerichtsstelle nach Lukas nicht auch auf die dann - wenn der HERR wie ein Blitz kommt - hienieden herrschende innerlich verfaulte, tote (Leichnam-ähnliche) und doch noch z. T. religiöse (kirchliche, in der Offenbarung „die große Babel” genannte) Menschheit im allgemeinen, in der gewiß „die Vielen” Israels, d. h. des von Gott losgelösten Israel, offen den Abfall predigen, angewandt werden dürfen? Und insofern, als die Zeiten dann, ehe der HERR zum Gericht kommt, denen Noahs und denen Lots gleichen, glaube ich, können wir diese Stelle auch als Warnung der heutigen Menschheit zurufen (in der Anwendung der Stelle, nicht in der Lehre), da auch die heutige Zeit immer mehr den Charakter jener trägt. Und wenn dann jedes Leben aus der Körperschaft einer von dem lebendigen Gott vollends abgefallenen Christen- und Menschheit geschwunden ist (vor allem durch die „Entrückung der Gläubigen!1. Thess. 4!), wenn die Christenheit nur noch Laodicea ist, reif zum Ausgespienwerden (auch hier in Off. 3 das Bild des Abscheus, vgl. obige Antwort!), dann sammeln sich die scharfblickenden Geier des Gerichts, um im geeigneten Augenblick auf ihr Opfer niederzustoßen, auf den „Leichnam” nicht nur eines gottentfremdeten Judentums, das reif zum Gericht ist, sondern auch einer gottlosen Christenheit sowie einer antigöttlichen und antichristlichen Menschheitsmasse. Wie ernst ist das, ganz einerlei - wie auch oben in Antwort A angedeutet -, wer die „Gerichtsvollzieher” (etwa die Engel, vgl. Frg. 8!) auch sein mögen! Schon jetzt mögen sie spähen und harren auf ihre Zeit! Darum: „Gedenket an Lots Weib!

3. In Mt. 24 ist nur von dem Gericht über Israel die Rede, und zwar von dem eschatologischen, d. h. dem Endgericht, von dem das durch Titus im Jahre 70 nur ein schwaches Abbild ist. Wer in dem „Aas” etwa die Gemeinde des HERRN sieht - auch solche „Deutung” gibt es (weil in Lk. 17,36 das Wort für „Leichnam” auch „Leib” heißt!! Aber der „Leib Christi” ward doch erst dem Paulus offenbart nach Eph. 3!!) -, der verwischt alles und verliert sich in unbiblischen Grübeleien. Nein, es ist ganz deutlich, dass unter diesem abscheuerregenden Wort etwas gemeint ist, was Dem ein Greuel ist, der das Gericht ausüben läßt.

4. Das Sprichwort von den sich beim Aas sammelnden Adlern oder Geiern kann sich in Matthäus aber auf noch etwas anderes beziehen als auf die Vollstrecker des Gerichts: nämlich auf die vorher im Zusammenhang genannten Verführer (V. 24!), indem stets da, wo sittlicher Niedergang, Fäulnis, Tod usw. eingetreten ist, solche satanisch orientierten Leute (Irrlehrer!) - mit teuflischem Späherblick ausgerüstet und in dem „Fischen im Trüben” ihr Lebenselement sehend! - gern plötzlich auftauchen, um ihre Opfer noch mehr ins Verderben zu ziehen und an diesem sich zu weiden. Ich will diese Deutung nicht als sichere Lehre über unsere Stelle hingestellt wissen, wohl aber als möglich zur Prüfung vorlegen. Denn von dem eigentlichen Gericht ist doch bei Matthäus erst hinterher die Rede, und darum sagte ich schon oben, dass die Stelle in Lukas eine etwas andere Bedeutung zu haben scheine als in Matthäus: In Lukas spricht sie, vielmehr spricht der HERR, der Sein Wort souverän anwendet (so oder so!), zweifellos vom Gericht, zunächst über Israel usw., während in Matthäus entweder von dem Endgericht und seinen Vollstreckern oder von den eindringenden Verführern die Rede ist (was ja auch Gericht bedeutet: 2. Thess. 2,9ff.!!). Die Leser mögen diese Auffassungen prüfen!

5. In jedem Falle enthält die Stelle, wie man sie auch anwendet, für uns heute die ernste Mahnung, allen Fäulnis- und Verdorbenheitserscheinungen, allem Bösen und Scheinwesen unter uns entgegenzuarbeiten, indem wir uns selber davon reinigen (vgl. meinen Aufsatz: „Hütet euch vor dem Sauerteig!”), damit nicht in irgendeiner Form auch uns - das Haus Gottes der Jetztzeit! - ein Gericht ergreife: ein „Strafgericht”, wie es offenbar in Korinth eingetreten war. (1. Kor. 11,29-34) Man verstehe mich nicht falsch: Nicht dass ich ebengenanntes „Strafgericht” mit dem der besprochenen Stelle im mindesten verwechselte, aber jedes Gericht, auch das am Hause Gottes, also vor der Entrückung der Gläubigen, trägt den unwandelbaren Charakter der Heiligkeit Gottes, dem alles Unheilige, auch bei den Seinen und erst recht bei ihnen, ein Greuel ist. Darum, wenn auch die Stelle der Frage sich nur auf „die Zukunft des Sohnes des Menschen” beziehen kann, so möge sie gleichwohl für uns die Warnung enthalten, dass wir, Sein Volk, soviel an uns ist, uns so fern wie möglich halten sollten von solchem Fäulniszustand, der eins Seiner Gerichte herausfordern würde! 1. Petr. 1,14-19! Er gebe uns Gnade zu einem Wandel im Licht!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 16 (1931)