Worum es Paulus wirklich ging
Autor: Tom Wright
Zugegeben, ein bisschen skeptisch bin ich als gelernter Historiker schon, wenn jemand 2000 Jahre Kirchen- und Auslegungsgeschichte hinter sich lässt und behauptet, genau zu wissen, „wie es wirklich gewesen ist“. Schließlich sind unsere Erkenntnisse auf diesem Gebiet immer Interpretationen historischer Quellen. Tom Wright, ehemaliger Bischof der Anglikanischen Kirche und bekanntester evangelikaler Vertreter der sogenannten „Neuen Paulusperspektive“, vertritt seine Ansicht aber sehr selbstsicher und vor allem eloquent. Inzwischen spricht er bei seiner Position – im Anschluss an E.P. Sanders – von einer „kopernikanischen Wende“, bei der das gesamte christliche Glaubensverständnis auf den Kopf gestellt wird. Bei der biblischen Wahrheit geht es nicht um mich und mein persönliches Heil, sondern um die Herrschaft Gottes und seinen Plan zur Erneuerung der Welt. Oder anders ausgedrückt: „Gott kreist nicht um uns. Wir kreisen um ihn.“ Das vorliegende Buch ist im Original bereits 1997 erschienen, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt, vermutlich weil die „Neue Paulusperspektive“ auch im Stammland der Reformation zunehmend Anhänger gewinnt. Knapp zusammenfassen lässt sich der Inhalt in einem Satz: „,Das Evangelium‘ bringt für Paulus die Kirche hervor; ,Rechtfertigung‘ definiert sie.“ (S. 190). „Evangelium“ und „Rechtfertigung“ sind die zentralen Begriffe, denn nach Auffassung Wrights gibt es hier im protestantischen Christentum verhängnisvolle Missverständnisse. Seine These lautet: Luther und die Reformatoren haben die Paulusbriefe aus ihrer persönlichen und historischen Situation heraus falsch oder zumindest einseitig interpretiert. Die existentielle Krise Luthers und seine Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ hatte eine individualistische Engführung der paulinischen und gesamtbiblischen Botschaft zur Folge. Die Frontstellung gegen die katholische Kirche führte dazu, dass Luther und der Protestantismus das Judentum des ersten Jahrhunderts mit der katholischen Werkgerechtigkeit des Mittelalters gleichsetzten und Paulus als Streiter gegen so eine Rechtfertigung aus Werken in Position brachten. So wurde die „Rechtfertigungslehre“ zum zentralen Dogma des Protestantismus und das „Evangelium“ zu einer Lehre, die den Menschen erklärt, wie sie durch das Sterben Jesu vor Gott gerechtfertigt werden können. Wright dagegen versucht Paulus aus dem Judentum des ersten Jahrhunderts heraus und als Nachfolger Jesu zu verstehen. Im Anschluss an E.P. Sanders betont er, dass das Gesetz auch von Israel nie als Weg zum Heil verstanden wurde. Vielmehr bildete der Bund, den Gott mit seinem Volk geschlossen hatte, die Grundlage der Gottesbeziehung der Gläubigen im Alten Testament. Das Gesetz war Ausdruck dieses Bundes und die daraus resultierenden Werke eine dankbare Reaktion auf die Erwählung und Begnadigung durch den treuen Gott. Wer solche Werke tat, bewies damit, dass er zu Gottes Volk gehört. Unter diesen Voraussetzungen ist nun zu hinterfragen, ob Paulus wirklich die Rechtfertigung aus Gnade im Gegensatz zu einer Rechtfertigung durch das Gesetz als Dreh- und Angelpunkt seiner Theologie gesehen hat. Wright geht dabei – im Gegensatz zu Sanders – nicht davon aus, dass Paulus das damalige Judentum missverstand. Vielmehr haben die späteren Exegeten Paulus nicht richtig verstanden. Er ist der Ansicht, dass auch für den Apostel die Bundestreue Gottes das Zentrum darstellt, die sich nun aber durch die Sendung seines Sohnes über Israel hinaus – potentiell – auf die gesamte Menschheit erstreckt. Wenn aber die Zugehörigkeit zum alten Bund nicht durch eine Gerechtigkeit aus Werken möglich wurde, sondern durch die Verheißungen und Treue Gottes, so kann auch der Zugang zum neuen Bund nicht in einer Rechtfertigung des Menschen aus Gnade bestehen, sondern wird ebenfalls nur durch Gottes Treue ermöglicht werden. Deshalb hat Paulus bei seiner Mission nicht die „Rechtfertigung aus Glauben“, sondern das Evangelium verkündigt, die Botschaft von Jesus, seinem Leben, seiner Botschaft vom Anbrechen des Reiches Gottes, seinem Sterben und Auferstehen. Die Verkündigung dieser Botschaft ist zugleich ein Ruf in die Gefolgschaft dieses Herrn und wirkt den Glauben. Wer nun glaubt und sich der Herrschaft Jesu unterstellt, gehört zum (neuen) Volk Gottes. Mit der sogenannten „Rechtfertigungslehre“ erklärt der Apostel dann (im Nachhinein), wieso Menschen aus allen Nationen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründen zu Gottes Familie gehören können. Wright geht dabei vom jüdischen Gerichtssaal aus. Dort gab es zwei Parteien, den Kläger und den Angeklagten, sowie einen Richter, der am Ende die Entscheidung traf. „Gerechtigkeit“ ist zunächst eine Eigenschaft des Richters, wenn er sich entsprechend verhält. Für Kläger und Angeklagten dagegen bedeutet das Attribut „gerecht“, dass einer von beiden am Ende des Prozesses als „der Gerechte“ dasteht, weil der Richter es so beurteilt hat. Im Gegensatz zur Auffassung der Reformatoren, nach der Gottes Gerechtigkeit eine Gerechtigkeit ist, die dem Sünder zugesprochen wird, sozusagen eine fremde Gerechtigkeit, durch die er jetzt einen ganz neuen Status inne hat, interpretiert Wright sie als Bündnistreue. Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dass er seinen Verheißungen und seinem Bund mit den Menschen treu bleibt und diejenigen, die ihm gehorsam sind, am Ende gerecht spricht – unabhängig ob es Juden sind oder Heiden. Es scheint so, dass der Schwerpunkt vom (gerecht) „Sein“ aufs (gehorsame) „Tun“ verlagert wird. Dem entspricht in der Folge auch die Betonung, die Wright auf das Leben der Christen in dieser Welt – bis hin zum politischen Handeln – legt. Mit seiner historischen und zugleich dekonstruierenden Argumentation gelingt es Wright, verschiedene Pole des Neuen Testaments zusammen zu bringen, die nicht selten auseinandergerissen werden. Wundert sich der Bibelleser mitunter über den unterschiedlichen Charakter von Evangelien und apostolischen Briefen, so demonstriert Wright eindrucksvoll, dass zwischen Jesus und Paulus absolute Einheit besteht. Der Apostel ist eben nicht – wie es der englische Untertitel aufgreift – der Erfinder des Christentums, sondern ein Bote Jesu Christi, seines Herrn. Auch das Auseinanderfallen von Rechtfertigung und Heiligung wird durch diese Interpretation verhindert. Christsein bedeutet in erster Linie einem Herrn, nämlich Jesus Christus, gehorsam zu sein ist. Glauben ist eine Beziehung. Alle religiösen Erfahrungen sind dagegen zweitrangig. Schließlich wird das individualistische Verständnis bezüglich des Heils in Frage gestellt und der Blick auf das „große Ganze“ gerichtet: Gott will ein Volk, eine neue Menschenfamilie, die eine echte Alternative zu den Staaten und Gesellschaften dieser Welt darstellt, weil sich in ihr seine gute Herrschaft widerspiegelt. Das Konzept der Rechtfertigung, welches der Autor bei Paulus sieht, und gegen die reformatorische Lehre in Stellung bringt, hinterlässt dagegen einen zwiespältigen Eindruck. Auch wenn sich bei der lutherischen Paulusinterpretation durchaus zeitbezogene Einseitigkeiten feststellen lassen, so scheint auch Wrights Darstellung nicht ausgewogen. Berücksichtigt er wirklich ausreichend die Bibeltexte, die einen Status des „Gerechtfertigtseins“ nahe legen? Daneben bleibt die Frage, ob seinem Verständnis von Rechtfertigung nicht eine zu positive Anthropologie zu Grunde liegt. Leistet bei ihm nicht doch der Mensch durch seine Treue zu Gott und seinen Gehorsam den entscheidenden Beitrag dafür, dass er am Ende als Gerechter dasteht? Der Radikalität der Sünde bzw. des Sünderseins des natürlichen Menschen scheint bei Wright die Spitze abgebrochen zu sein. Unabhängig davon ist das Buch eine kurze, sehr gut lesbare und zugleich herausfordernde Einführung in die Neue Paulusperspektive, deren Argumente uns sicher in Zukunft noch weiter beschäftigen werden.
Die Rezension/Kritik stammt von: Andreas Schmidt
Kategorie: Sonstiges
Jahr: 2010
ISBN: 978-3-7655-1454-8
Seiten: 224
€ Preis: 16,95 Euro