Wir haben den Horizont weggewischt
Autor: Heinzpeter Hempelmann
Der christliche Glaube hat für die postmoderne Gesellschaft seine Überzeugungskraft verloren, weil es ihm nicht gelingt, Antworten auf die Fragen der Menschen, besonders die Sinnfrage, zu formulieren. Das ist der Ausgangspunkt für die Überlegungen Hempelmanns im vorliegenden Buch. Die Postmoderne ist durch den Verlust des Absoluten gekennzeichnet, jeder exklusive Wahrheitsanspruch, jede „Leitkultur“, jede missionarische Aktivität gilt als unangemessen. Dominierender Leitwert ist die Toleranz, das gesellschaftliche Zusammenleben wird durch Verhandlungen und Absprachen organisiert. Diese Tendenzen sind auch innerkirchlich vorhanden. Ein „Prophet“ der Postmoderne ist der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900). Sein Text „Der tolle Mensch“ wird von Hempelmann ausführlich interpretiert. Zum Verständnis des Buches ist es nötig, zumindest diesen Text zu kennen. Der „tolle Mensch“ tritt auf den Marktplatz und verkündet den Tod Gottes. Er setzt aber keine „Ersatzreligion“ an die Stelle Gottes, sondern er erklärt das Ende eines jeden Wahrheitsanspruches, auch des atheistischen. Die Orientierung ist verloren gegangen, der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen. In diesem Sinn sind Wahrheitsansprüche nichts anderes als der Versuch, die eigene Interpretation der Wirklichkeit durchzusetzen, „Wille zur Macht“ zu zeigen. Hempelmann sieht hier einen Berührungspunkt mit dem christlichen Sündenbegriff, denn die „Ursünde“ besteht ja gerade in dem Versuch des Menschen, selbst wie Gott zu sein. Aus christlicher Sicht lässt die postmoderne Weltanschauung außer Acht, dass der Mensch von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Rationalität und Ethik benötigen einen absoluten Bezugspunkt (für den Christen ist das Gott), sonst verlieren sie ihren Sinn. Hempelmann betont die „Verweisfunktion“ des christlichen Redens, es wird nicht einfach etwas behauptet, sondern „Zeugnis gegeben“. Theologie vermittelt „Bekenntnissätze“, in die Bibel wird nicht hineininterpretiert, sondern es wird auf den Text gehört. Christlicher Glaube will sich nicht durchsetzen, er „erleidet“ notfalls Widerstand und tritt deshalb nach dem allgemeinen Verständnis oft „schwach“ auf. Angesicht des Elends und der Verbrechen in dieser Welt stellt Hempelmann die Frage nach der Wirklichkeit Gottes. Dabei interpretiert er die Heilsgeschichte besonders unter dem Aspekt des „Werbens“ Gottes um die Menschen. Der Mensch verweigert Gott die Liebe und Gott leidet daran. Immer wieder wählt er Menschen aus, die er rettet und zu sich ruft. Zuletzt sendet er seinen Sohn in „den Weinberg“ (Mt 21). Der „macht sich selbst zu nichts“ (Phil 2,5) und stirbt für die Menschen. Gott lässt das Böse nicht einfach zu, sondern er setzt das Gute dagegen. Ein Machtwort spricht er nicht, weil er Geduld mit den Menschen hat (2Petr 3,9), er wird es aber einmal sprechen. Hempelmann ist überzeugt, dass Christus dann nicht als rächender Weltenrichter, sondern als „Lamm wie geschlachtet“ erscheinen und die Gegner mit der Macht des Wortes überwinden wird. Angesichts der Bibelstellen, die von einem zornigen und strafenden Gott sprechen (Offb 16 oder 20,13.14) erscheint das etwas einseitig. Hempelmann gibt diese Einseitigkeit auch zu, ihm geht es jedoch darum, sich in der postmodernen Kultur verständlich zu machen. Gerade die (scheinbare) Machtlosigkeit Gottes („Selbst-Depotenzierung“) kann das Gespräch ermöglichen, weil der „postmoderne Mensch“ nicht befürchten muss, dass ihm nur wieder eine Wahrheit „übergestülpt“ werden soll. Christen sind von dieser Machtlosigkeit mit betroffen. Sie stehen zwischen der Erwartung des Herrn (die schon so lange auf sich warten lässt) und dem „es-sich-bequem- machen“ in dieser Welt. Tröstlich ist für sie, dass Gott gerade am Ort der „kleinen Kraft“ wirkt (Jes 57,15; 1Kor 1,26ff; Lk 5,31f; Mt 25,34-40). Diese Argumentation ist sehr überzeugend und macht auch deutlich, warum der christliche Glaube gewalt- und zwanglos ist. Hempelmann will dem säkularen Menschen den christlichen Glauben in einer Weise nahe bringen, dass er sich mit seiner Welterfahrung ernst genommen fühlt. Er bietet dazu in seinem Buch eine große Materialfülle auf intellektuell sehr hohem Niveau. Teilweise ist die Lektüre für den philosophisch ungeschulten Leser nicht einfach. Mitunter stellt sich die Frage, ob die Akzeptanz postmodernen Denkens so weit gehen muss. Um ein Beispiel zu nennen: Die Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten hundert Jahren wird von Hempelmann nur sehr kurz angeschnitten (S. 136-138). Die Umwälzungen des Denkens z. B. durch Quantentheorie und Genetik bedeuten nicht, dass alles Erkennen letztlich nur subjektiv ist (dass man es „so oder so“ sehen kann), sondern sie spiegeln die Komplexität der Welt wieder, der sich unser Denken nur annähern kann (vergleiche z. B. das Buch „Quanten sind anders“ von Thomas Görnitz, Spektrum Akademischer Verlag 2006). So werden auch in der Bibel Tatsachen der Heilsgeschichte berichtet. Der Zugang zu ihnen bleibt verschlossen, wenn man meint, es sei sowieso alles nur Interpretation. Es ist ein spannendes Buch mit sehr tiefen Gedanken, die helfen, den eigenen Standpunkt zu reflektieren.
Die Rezension/Kritik stammt von: Thomas Freudewald
Kategorie: Sonstiges
Jahr: 2007
ISBN: 978-3-417-29543-6
Seiten: 416
€ Preis: 24,95 Euro