verboten - geduldet - verfolgt
Autor: Andreas Liese
Diese geschichtswissenschaftliche Dissertation schließt eine Forschungslücke. Denn auch wenn es schon bisher Bücher über die Geschichte der Christlichen Versammlung oder ihrer Zweige von Autoren aus den eigenen Reihen gab, hat doch bisher niemand alles noch verfügbare Quellenmaterial aufgesucht, erfaßt und ausgewertet. Dies gilt für Quellen auf Seiten der Brüderbewegung ebenso wie auf Seiten der mit ihr verfaßten staatlichen oder nationalsozialistischen Behörden. Entstanden ist bei der Quellenauswertung eine ausgezeichnete, sehr gut belegte Forschungsarbeit, die die Ereignisse allerdings weder allzu sehr in die Gesamtgeschichte des Dritten Reiches einbettet, noch theologische Fragen vertieft oder bewertet. Dass der Verfasser selbst der Brüderbewegung angehört, macht sich nirgends bemerkbar, wenn man einmal davon absieht, dass nur ein Insider an manche Quellen und Informationen gelangen konnte, da die Brüderbewegung nie über eine Zentrale verfügte, sondern von einer für Archivforschung fast entmutigenden Dezentralität geprägt ist. Auch wenn mit dieser Forschungsarbeit viele historische Einzelfragen geklärt werden konnten und sich ein differenziertes Bild des Verhaltens der einzelnen Richtungen und Verantwortlichen ergibt, ist das eigentlich Neue an der Arbeit, daß der Verfasser am Ende ein recht geschlossenes Gesamtbild zeichnen kann, 1. warum dieNationalsozialisten die Christliche Versammlung verboten, ihr dann aber den Ausweg einer Neugründung des Bundes freier Christen ließen, und 2. wie die Christliche Versammlung auf den Nationalsozialismus reagierte. Zur 1. Frage ist zu sagen: Es war die Abstinenz gegenüber dem Staat, etwa in der Wahlverweigerung, gegen die Staat und Partei im Dritten Reich zu Felde zogen, nicht irgendeine Kritik am Staat. Als man schließlich erkannte, daß es in Wirklichkeit eine Reihe aktiver Parteimitglieder und NSDAP-Wähler gab und die Bewegung im Wesentlichen zunächst für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler dankbar war, war das Verbot bereits ausgesprochen und nicht zurücknehmbar. Das führte schließlich dazu, daß man die Möglichkeit der Gründung eines Gemeindebundes unter Leitung genehmer Führer anordnete bzw. zuließ. Zur 2. Frage ist zu sagen: Die Christliche Versammlung verweigerte den Anordnungen der Nationalsozialisten deswegen oft den Gehorsam, weil ihre theologischen Überzeugungen keine Änderungen an Kirchenstruktur, Gottesdienstgesaltung usw. zuließen, nicht aber aufgrund einer kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus an sich. Echten, gar politischen Widerstand kann der Verfasser nirgends ausmachen, auch keinen verbalen Einsatz für Juden oder gar die aktive Rettung von Juden. Letzteres ist eine interessante Aussage angesichts der These von Hal Lindsey, daß Vertreter der dispensationalistischen Theologie sich im Dritten Reich automatisch für Juden eingesetzt hätten, während Vertreter reformierter oder anderer Ansätze automatisch gegen die Juden gewesen seien. Grund für die Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz für die Juden war sicher nicht so sehr die theologische Einordnung der Juden, sondern neben der allen gemeinsamen Angst und Feigheit die generelle (sicher teilweise auch heilsgeschichtlich begründete) Ablehnung jeder politischen Betätigung bzw. deren Verweisung in das Privatleben der Gemeindeglieder. Auch wenn der Verfasser sich insgesamt mit Urteilen sehr zurückhält und erst Recht in der Regel keine theologische Bewertung vornimmt, kommt er dann doch am Ende zu dem Schluß, daß die theologisch begründete Ablehnung jeder politischen Thematik die Christliche Versammlung gerade nicht dem Staat gegenüber besonders kritisch gemacht habe. Inmitten schwierigster Situation bekämpfte man doch vorrangig andere Richtungen der Brüderbewegung mit vergleichsweise geringen Abweichungen, anstatt den wahren Feind zu erkennen und zu benennen. Das ist eine wichtige Warnung an uns alle, sofern wir bereits sind, aus der Geschichte zu lernen.
Die Rezension/Kritik stammt von: Thomas Schirrmacher
Kategorie: Geschichte, Kirchengeschichte
Jahr: 2002
ISBN: 3-935707-12-6
Seiten: 642
€ Preis: 35,00 Euro