Seid heilig!
Autor: J. C. Ryle
Nein, dieses Buch ist nichts für einen netten, erholsamen „Schmöker-Abend“ am Kamin, bei dem man sich von einer anstrengenden Woche erholen will. Dieses Buch zu lesen ist Arbeit. Es eignet sich mehr für den Schreibtisch, als für das Sofa. Und das liegt nicht nur am Umfang des Buches. Ein Buch über das Thema „Heiligung“ ist generell kein Buch zum entspannen – erst recht nicht, wenn es von J.C. Ryle ist. Ryle war im viktorianischen Zeitalter Bischoff der anglikanischen Kirche. Sein Zeitgenosse Spurgeon bezeichnete ihn als „besten Mann der Kirche von England“ – und als solcher sah er die Missstände in seiner Gemeinde. Viele kamen Sonntag für Sonntag in die Kirche, empfingen die „Sakramente“ und hielten sich dadurch für Gläubige. Aber ihr Leben sprach eine ganz andere Sprache. Das Thema „Heiligung“ wurde völlig missachtet. Eine Mangelerscheinung vergangener Zeiten? Sicher nicht! Ryle nahm sich des Problems an und schrieb sein Buch „Holiness“ – im englischsprachigen Raum ein weitverbreiteter Klassiker – und hat uns damit auch heute (noch oder wieder?) eine Menge zu sagen! Ryle geht es nicht so sehr um einzelne Sünden oder Charakterschwächen, ihm geht es um die prinzipielle Behandlung des Themas. Ausgehend von einer gründlichen Betrachtung der Sünde, erläutert er das Wesen der Heiligung, Unterschiede zwischen Heiligung und Rechtfertigung, Auswirkungen praktischer Heiligkeit, geistliches Wachstum und Heilsgewissheit. Dieser erste Teil des Buches ist sehr wertvoll und lehrreich und wird abgeschlossen durch drei ganz hervorragende Kapitel über Mose („ein Beispiel“), Lot („ein Warnsignal“) und Lots Frau („eine Frau zur Erinnerung“). Im zweiten Teil schließen sich Kapitel zu verschiedenen Themen an, die Teilaspekte des ersten Teils verdeutlichen und vertiefen. Auch wenn sich manchmal der Eindruck einstellt, dass diese Kapitel nicht zwingend zum Buch gehören müssten, sind sie für sich genommen kleine Juwelen. Allerdings muss man Ryles Stil mögen! Nach puritanischer Art ist der Aufbau seines Buches und der Kapitel streng gegliedert. Oft sind es drei Punkte zu einem angegebenen Vers, die in Unterpunkten vertieft werden und an die sich eine praktische „Anwendung“ anschließt. Neben der strikt geliederten Schreibweise wird man wohl auch Ryles Sprachstil entweder lieben oder hassen. Sehr ausdrucksstark, mit vielen Bildern und Anspielungen, einer herrlichen Dosis „Biblin“ und markanten Formulierungen wird sich vermutlich der eine oder andere Leser an einer schwer zu beschreibenden sprachlichen Penetranz stören – die andere wiederum hilfreich finden werden. (Testen kann man das z.B. anhand der weitaus kürzeren Schrift „Gedanken für junge Männer“, EBTC Edition). Das Ryle Anglikaner war, wird an einigen, wenigen Stellen punktuell durch Hinweise auf die „Sakramente“, das „Oxford Book of Common Prayer“ oder andere Sichtweisen zur Endzeit deutlich, woran man sich aber nicht weiter stören muss (und darf). Dieses Buch kann man nicht „lesen“, man muss es „durch-“ und „verarbeiten“. Wer sich diese Mühe macht, wird einen großen Geist(lichen) einer vergangenen Zeit kennen (und schätzen?!) lernen, wird selbst vieles entdecken, in manchem ermahnt, korrigiert und vielem getröstet. Im Sinne des umseitigen Zitates eine gute Möglichkeit hochwertigen Pollen für schmackhaften Honig zu sammeln …
Die Rezension/Kritik stammt von: Christoph Grunwald
Kategorie: Nachfolge, Leben als Christ