Metzler Lexikon Religion
Autor: Hubert Mohr, Agnes Imhof, Silvia Kurre
In den ersten drei Bänden des Lexikons finden sich die alphabetisch geordneten Sachartikel (zusammen 1893 Seiten). Der vierte Band enthält kommentierte Zeittafeln zu Religionen aus Gegenwart und Geschichte (4/1-226), chronologische Übersichten über kulturgeographische Regionen (4/227-319) und Übersichten zu einigen systematischen Themen zur vergleichenden Religionswissenschaft (4/320-355). Jeder dieser Artikel umfasst eine ausführliche und teilweise kommentierte Bibliographie inklusive Hinweise auf Filme, Internetseiten und Bildersammlungen. Ferner enthält der Band das Abbildungsverzeichnis (4/357- 367), das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (4/368-382) und ein umfangreiches Register, das auch religiöse Fachbegriffe und Personennamen enthält (4/385-438). Die Trennung der chronologischen Übersichten (Bd 4) von den Grundsatzdarstellungen der Religionen (Bd 1-3) ist dabei für den Leser unpraktisch und schwer nachzuvollziehen. Die einzelnen Artikel sind von sachverständigen Autoren in einem allgemeinverständlichen Stil abgefasst. Umfangreiche Darstellungen zu den einzelnenWeltreligionen werden durch thematische Übersichtsartikel ergänzt, in denen die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Religionen vorgestellt und miteinander verglichen werden. Darunter finden sich klassische Themen wie Himmel, Hölle, Licht, Leben, Schuld oder Tod, aber auch ausgesuchte kulturgeschichtliche Artikel (z.B. Haar, Maschine, Sexualität, Trickster, Witz) und auf aktuelle Diskussionen abgestimmte Stichwörter wie kollektive Repräsentationen, Homosexualität, Matriarchat, Migration, Religionszerfall, Toleranz, Tourismus, TV-Church. Auch Sondergruppen und neureligiöse Bewegungen werden im Lexikon zeitnah und differenziert vorgestellt (z.B. Satanismus, Mormonen, Zeugen Jehovas, Scientologie). Einige Artikel setzen sich kritisch mit der westlichen Vereinnahmung und Vermarktung fremder religiöser Traditionen auseinander, wie sie insbesondere in einer esoterisch geprägten Subkultur anzutreffen ist (3/198, 206). Gelegentlich überrascht die Kürze der Artikel bei wichtigen religiösen Stichwörtern (z.B. „Eschatologie“ 1/293 oder „Schöpfung“ 3/261). Zahlreiche, auch neuere Fotos, Reproduktionen religiöser Darstellungen in Presse und Fernsehen, sowie Karten, Graphiken und Tabellen steigern Lesespaß und Nutzwert des Lexikons. Abbildungen werden ausführlich und sachgerecht kommentiert. Stichwörter am Rande des laufenden Textes gliedern den Text und helfen dem Benutzer bei Suche und Orientierung. Die meisten Artikel werden durch ausgesuchte, zumeist neuere Literaturhinweise und Angaben zu thematisch verwandten Artikeln ergänzt. Gelegentlich fehlen die Literaturhinweise jedoch ganz oder übergehen relevante Standardwerke (z.B. 3/27, 359, 616f, 663). Wie von den Herausgebern programmatisch schon im Titel erwähnt, wird Religion schwerpunktmäßig im Hinblick auf ihre gegenwärtige Lebenspraxis und ihre mediale Präsenz dargestellt. Im Vergleich zu anderen neueren wissenschaftlichen Nachschlagewerken haben sich die Herausgeber des Metzlerschen Lexikons auf verhältnismäßig wenige übergeordnete Stichwörter beschränkt. Dabei wurde auf eine Vielzahl von Einzelartikeln zu religionswissenschaftlichen Fachbegriffen, zu Personen, Orten, Mythen oder Kultgegenständen weitgehend verzichtet. Stattdessen finden sich zahlreiche Artikel, die einen interdisziplinären Ansatz verfolgen und die Religionen vor dem Hintergrund eines zeitgenössischen westeuropäischen Selbstverständnisses reflektieren. Das Selbstverständnis der entsprechenden Religionen tritt dabei gelegentlich in den Hintergrund. Evangelikale Positionen werden nur am Rande und zumeist kritisch erwähnt, wobei gelegentlich auch eine sachliche Unkenntnis zutage tritt, wenn beispielsweise „Pro Christ“ als Zeltevangelisation bezeichnet wird (1/293) oder die „Jesus People“ auf die Charismatische Bewegung zurückgeführt werden (1/206). Im Artikel zum „Fundamentalismus“ wird der Eindruck erweckt, die amerikanische „Moral Majority“ beschäftige 110.000 eigene Prediger (1/431), dabei handelte es sich bei dieser Gruppe in erster Linie eine politische Interessenvertretung ohne eigene Gemeindgründungen, die zum Zeitpunkt der Lexikonherausgabe bereits weitgehend von der „Christian Coalition“ abgelöst worden war. Selbstgestecktes Ziel dieses Lexikons ist die Förderung religiöser Toleranz (vgl. Klappentext; 3/32ff). Verschiedenartige Aussagen der Religionen werden deshalb gleichrangig nebeneinander gestellt. Konsequenterweise enthalten sich die Autoren zumeist einer Bewertung oder Wahrheitssuche. Mit Lessing betrachtet man Religionen vor allem als Kultur prägende, historische Bewegungen, mit soziologischer, psychologischer und ethischer Relevanz. Kritische soziologische Interpretationen des Glaubens wirken für evangelikale Christen ideologisch motiviert. So werden beispielsweise die „Promise Keepers“ in die Tradition der Kreuzritter gestellt, die ihre Männlichkeit im „Stile der Hell’s Angles“ inszenieren (3/291). Kritiker der Evolutionstheorie werden als religiöse Fundamentalisten bezeichnet (1/339). Auch Gegner einer liberalen Abtreibungspraxis und Aufwertung homosexueller Orientierung geraten im Lexikon in Fundamentalismusverdacht (1/428ff). Ein „fundamentalistischer Offenbarungspositivismus“ wird als Kennzeichen von religiösem Fanatismus genannt (1/352). Der gegenwärtige Pietismus wird ausschließlich als Bewegung gegen Aufklärung und Rationalismus charakterisiert. Problematisch in diesem Zusammenhang ist auch die Vorstellung des R.Brockhaus Verlages und des Nachrichtendienstes „idea“ als typisch pietistische Einrichtungen (3/26f). Trotz seiner postmodern-religionskritischen Grundtendenz, die evangelikalem Verständnis offensichtlich zuwiderläuft, ist dieses Lexikon jedem zu empfehlen, der sich über die unterschiedlichen Glaubensformen der Gegenwart, deren öffentlicher Wahrnehmung und Beitrag zu den Grundfragen des Menschseins informieren will ohne Unmengen von Fachliteratur heranzuziehen. Aufgrund der immer wieder anzutreffenden ideologischen Interpretationen sollte das Lexikon von überzeugten Christen jedoch auch mit einem kritischen Blick gelesen werden.
Die Rezension/Kritik stammt von: Michael Kotsch
Kategorie: Sonstiges