Menschen mit Mission
Autor: Thorsten Dietz
Auf knapp 500 Seiten beschäftigt sich Thorsten Dietz – bisher Professor für systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule TABOR (Marburg) und ab Herbst 2022 Mitarbeiter der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich – mit der evangelikalen Bewegung. Er sieht die Evangelikalen momentan in einer Krise und erkennt bereits an den Rändern Auflösungserscheinungen, ist zugleich aber davon überzeugt, dass die evangelikale Bewegung eine Zukunft hat (S. 457). Im ersten Teil definiert er den Begriff „evangelikal“ mit vier Kennzeichen, die von dem britischen Historiker David Bebbington stammen: Im Teil 2 geht er unter der Überschrift „Was eint die evangelikale Bewegung?“ ausführlich auf die Lausanner Konferenz für Weltevangelisation 1974 und ihre Folgekonferenzen ein. Hier arbeitet Dietz heraus, dass die Evangelikalen ohne Zweifel „Menschen mit Mission“ sind, für die die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus Priorität hat. Doch zugleich liegt den Evangelikalen auch viel an konkreter Nächstenliebe. Evangelisation und Diakonie gehören für sie wie die zwei Seiten einer Münze untrennbar zusammen. Danach setzt sich Dietz dafür ein, charismatische Frömmigkeit als integralen Bestandteil der evangelikalen Bewegung zu sehen. Auf vielen Seiten beleuchtet er Entstehung, Entwicklung und Theologie der Pfingstler bzw. Charismatiker, setzt sich mit dem Wohlstandsevangelium auseinander und erörtert die Gründe dafür, dass die Pfingstler in Deutschland keinen so großen Zulauf haben wie in anderen Teilen der Welt. Im dritten Abschnitt werden die Spannungen erörtert, die die evangelikale Bewegung durchziehen. Dietz weist zu Recht auf verschiedene Fehleinschätzungen konservativer Evangelikaler im Bereich von eschatologischen Fragen hin. Er selbst hat Mühe mit dem Kulturpessimismus der prämillennialistischen Evangelikalen. Im Unterschied zu diesen (und auch zu den Lehren des Neuen Testamentes, das den Christen nur die missionarische Weitergabe des Evangeliums, nicht aber die Gesellschaftstransformation aufträgt,) setzt sich Dietz für eine gesellschafts- und kulturrelevante evangelikale Bewegung ein, die transformierend in die Gesellschaft hineinwirkt. Klar distanziert sich der Autor, den man dem links-evangelikalen Lager zurechnen könnte, von der Hermeneutik der konservativen Evangelikalen. Die Chicago Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel ist für ihn ein Fehlgriff. Treffend erkennt Dietz, dass die enge Verbindung der weißen US-amerikanischen Evangelikalen mit der Trump-Regierung und mit rechtem Gedankengut nicht nur den nordamerikanischen Evangelikalen Schaden zugefügt hat. Ausführlich beschäftigt sich der Autor auch mit den Postevangelikalen und der Emerging Church Bewegung, die vor allem in den USA für viel Aufsehen gesorgt hat und noch immer sorgt. Im vierten und letzten Teil setzt sich der Verfasser mit dem Verhältnis der Evangelikalen zur modernen Kultur auseinander, beleuchtet das unter den Evangelikalen vorhandene Spektrum an Spiritualität und geht schließlich auf evangelikale Positionen im Bereich der Ethik ein. Hier plädiert er für die völlige Gleichberechtigung der Frau, wie sie in der Mehrheitsgesellschaft bereits weitgehend verwirklicht ist. Dietz lehnt die komplementäre Sicht der Geschlechter ab. Er kann keine einheitliche Lehre zu Mann und Frau in der Bibel erkennen und plädiert unter Berufung auf Gal 3,28 für die egalitäre Position (S. 414f.). Dabei sieht er die Evangelische Allianz auf seiner Seite. Zum gegenwärtig umstrittensten ethischen Thema, der Bewertung von Homosexualität, schweigt der Verfasser vielsagend bzw. deutet nur zwischen den Zeilen seine Meinung an (S. 422), obgleich er sich an anderer Stelle bereits für die Akzeptanz von Homosexualität als einer Schöpfungsvariante ausgesprochen hat. In seinem Fazit kommt Dietz zu der Überzeugung, dass der Begriff evangelikal beschädigt ist; man sollte ihn heute nicht mehr als Kampfbegriff benutzen und mit theologischer Rechtgläubigkeit assoziieren, die sich von liberalen theologischen Konzepten abgrenzt. Evangelikale sollten nicht gegen, sondern für etwas stehen: für Gebet, verfolgte Gläubige und „kreative Projekte der Glaubensvermittlung“ (S. 455). Wer Interesse an der evangelikalen Bewegung hat, wird diese Monographie als einen nützlichen Beitrag empfinden. Sie ist flüssig geschrieben, enthält interessante Hintergrundinformationen, weist nur wenige Fehler auf (z. B. Külling war Schweizer und nicht Deutscher (S. 264); Roy (Fußnote 263) fehlt im Literaturverzeichnis; Seite 361, unten: Bonhoeffer war kein evangelikaler Theologe) und hat ein ausführliches Literaturverzeichnis, das zu weitergehenden Forschungen anregt. Zugleich zeigt die Studie von Dietz aber auch, wie weit sich Evangelikale bereits dem Zeitgeist angeglichen haben. Der „große Abfall“ betrifft keineswegs nur die Volkskirchen; er ist längst auch in vielen Freikirchen und in Teilen der evangelikalen Bewegung angekommen.
Betonung der Bekehrung, Ansporn zur Weltveränderung, Hochschätzung der Bibel und Konzentration auf Jesus als Erlöser (S. 15). Danach erläutert er die Wurzeln der Evangelikalen, die u. a. im britischen Methodismus, der amerikanischen Erweckungsbewegung und im deutschen Pietismus liegen und benennt wichtige Unterschiede zwischen US-amerikanischen und deutschen Evangelikalen. Dietz übernimmt die bewährte Einteilung der deutschen Evangelikalen in verschiedene Flügel (Allianz-, Bekenntnis- und Pfingst-Evangelikale), übersieht allerdings die unabhängigen Evangelikalen, die vor allem aus russlanddeutschen Gemeinden (nur in Fußnote 429 erwähnt) und der darbystisch geprägten Brüderbewegung bestehen und inzwischen rund 20 Prozent der deutschen Evangelikalen ausmachen.
Die Rezension/Kritik stammt von: Friedhelm Jung
Kategorie: Geschichte, Kirchengeschichte
Jahr: 2022
ISBN: 978-3-417-00015-3
Seiten: 496
€ Preis: 24,99 Euro