Buch-Rezension: Ich hab' es niemand erzählt - Gedichte, Bilder und Texte zur Heilung sexuellen Mißbrauchs

Ich hab' es niemand erzählt

Autor:

Es muss etwas Furchtbares sein, sein Leben lang mit der Erfahrung von Kindesmissbrauch leben zu müssen. Das gilt für Täter genauso wie für Opfer. Unser besonderes Mitgefühl gilt den Opfern, die als Kinder gewaltsam missbraucht worden sind – das sind sie alle! – und oft über Jahre und Jahrzehnte aus unterschiedlichen Gründen nicht darüber reden konnten. Eine Form der Verarbeitung dieses erlebten Missbrauchs ist es, sich durch Kunst zu äußern.

Bereits seit 1996 liegt in der Editions Trobisch ein Buch vor mit dem Titel Gedichte, Bilder und Texte zur Heilung sexuellen Missbrauchs. Auf 149 Seiten werden besonders Gedichte und Bilder – wirkliche Kunstwerke – von Opfern dargeboten. Gabriele, Karen, Celina, Rafaela und Flora haben so versucht, in den verschiedenen Stadien des Missbrauchs und besonders danach, als sie mit ihrem Elend noch allein waren oder auch nicht mehr, ihre Gefühle zu verarbeiten und wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

Diese Kunstwerke enthalten aber für uns, die Außenstehenden, eine gewaltige Botschaft. Wir können uns ja kaum einfühlen in die Welt der Opfer, in das, was sie erlebt und durchlitten haben. Diese Ausdrücke von Gefühl und Erlebtem, von Tod und Horror, erlauben uns jedoch, ein wenig nachvollziehen zu können, was solche Menschen über Jahrzehnte gefühlt haben müssen, als der Horror des Missbrauchs über und in ihnen schwebte.

Ich gebe drei Beispiele:

Ein Traum [S. 12]

Ein kleines Mädchen sang leuchtenden Augs
Mit einer Wunde im Bauch.
Ohne zu wissen, was und warum –

Niemand fragte,
hörte, sah es,
da verstummte es – ausgeblutet
und gebrochenen Augs.

Wo sind die Locken geblieben, die es umgab,
wo die kleinen Hände, die so kalt
vergeblich sich ausstreckten,
wo die kleinen Füße, die rennend, gehend,
fliehend im Sumpf feststeckten,
wo das kleine Lächeln, das sich strahlend
hinter Locken verzog?

Wo?
Wo?
Im Erwachen getötet, gemordet?

Nein,
nie Kind, Mädchen gewesen.

Gabriele

Deck auf [S. 86]

In meinem Herzen steckt ein KZ,
ganz tief unten,
Zugang hab ich kaum.
Manchmal ein Bild,
ein Gefühl,
ein Traum,
doch gelingt es nicht, hinunter zu steigen,
ich hab viel zu viel Angst zu sehen,
was war.
So gehen die Tage, geht das Jahr.
Das KZ geht nicht.

In deinem Herzen, Gott,
ist alle Zeit und alles, was war.
Wenn ich ahne, weißt du.

Ich werde und muss sehen, was war!
Lieber KZ mit dir
als Himmel lohne dich!
Ich bin doch schon dein, Herr.
Deck auf!

Rafaela

Fallenlassen [S. 78]

Unsagbar
tief
drückt,
bohrt,
sticht
der Schmerz,
würgt
das Herz ab,
und
ich weiß nicht,
was
ich tun soll.

Fallenlassen,
in Gottes Hände
will gelernt sein.

Flora

Für denjenigen, der die Kraft hat und versuchen möchte, sich in die Lebenswelt und Gefühle von Missbrauchsopfern hineinzuversetzen, dem kann ich dieses Buch nur empfehlen. Es enthält auch eine ganze Anzahl von Bildern – Kunstwerken, die vielleicht noch stärker das Dunkel in der Seele solcher Menschen zeigt, die einmal die Finsternis des Missbrauchs erdulden mussten, dann aber mit Gottes Hilfe diese Drangsale überwinden konnten.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Manuel Seibel
 Kategorie: Seelsorge, Hoffnung, Lebenshilfe

  Verlag: Editions Trobisch
  Jahr: 1999
  ISBN: 978-3878270782
  Seiten: 149
 €    Preis: 15,31 Euro