Hohe Messianologie
Autor: Ruben A. Bühner
Mit der hier rezensierten Veröffentlichung der Dissertationsschrift von Ruben Bühner ist eine bemerkenswerte Untersuchung gelungen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob und in welchem Grad im Alten Testament und Frühjudentum die Vorstellung eines Messias möglich oder gängig war, dem übermenschliche oder sogar göttliche Eigenschaften zugeschrieben wurden. Mit anderen Worten: Erwartete man aufgrund der alttestamentlichen Schriften im Frühjudentum einen rein menschlichen Messias oder gab es aufgrund einiger alttestamentlicher Passagen bereits die Erwartung eines präexistenten, himmlischen Messias mit göttlichen Eigenschaften? Die Frage ist deshalb relevant, weil die in der Forschung der letzten Jahrzehnte vorherrschende Position dahin ging, die Erwartung eines übermenschlichen Messias als Randerscheinung abzutun. Damit entsteht aber ein Problem: Wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, dass das Neue Testament so klar von den göttlichen Eigenschaften Jesu als Messias redet und gleichzeitig betont, dass mit Jesus als Messias alttestamentliche Erwartungen erfüllt werden? In der Theologie der letzten Jahrzehnte wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet: In einer Extremposition wurde infragestellt, ob das Neue Testament überhaupt noch als Erfüllung alttestamentlicher und frühjüdischer Erwartungen gelten kann. In einer anderen Extremposition versuchte man, neutestamentliche Kernstellen so umzuinterpretieren, dass sie nicht mehr auf göttliche Eigenschaften Christi hindeuten. Die Arbeit von Bühner erteilt beiden Extrempositionen eine Absage, indem sie die zugrunde liegende Annahme einer Neuüberprüfung unterzieht: Stimmt es wirklich, dass die Vorstellung eines Messias mit übermenschlichen oder göttlichen Zügen im Alten Testament oder Frühjudentum so unvorstellbar war, dass sie nur als Randerscheinung gelten kann? Diese Frage verneint Bühner. Der Autor weist anhand von alttestamentlichen Texten wie Ps 72; Ps 110; Mi 5,1-3; Jes 9,5f.; Dan 7,13-14 sowie anhand zahlreicher frühjüdischer Texte (z.B. aus Qumran oder den Bilderreden Henochs) nach, dass diese Texte nicht nur messianisch verstanden wurden, sondern auch von ihrer Anlage und Interpretation von einem Messias mit göttlichen Zügen oder Attributen sprechen. Methodisch widmet sich die Untersuchung nach einer Einleitung (Kapitel 1) in einzelnen Kapiteln zunächst solchen Texten, in denen eine präexistente Messiasfigur beschrieben wird (Kapitel 2), geht anschließend auf den Menschensohn aus dem Buch Daniel (Kapitel 3) und schließlich auf Texte über eine Figur mit engelhaften oder göttlichen Zügen (Kapitel 4) ein. Die Einzeluntersuchungen sind ausführlich und auf dem aktuellen Stand der Forschung, lassen jedoch argumentativ manchmal etwas Prägnanz vermissen, insofern Diskussionen zu Einzelaspekten häufig schnell in das subjektive Urteil des Autors münden. In einem letzten Teil (Kapitel 6) fasst der Autor seine Ergebnisse (in teils wortgleichen Sätzen, die man schon aus den vorherigen Kapiteln kennt) zusammen und verbindet diese abschließend mit einem Ausblick auf die neutestamentlichen christologischen Aussagen. Hier stellt der Autor heraus, dass das neutestamentliche Christusbild durchaus bemerkenswert sei: Einerseits sei es nicht linear aus den frühjüdischen Erwartungen erklärbar (sonst wäre es eine rein natürliche und wenig überraschende Fortsetzung der frühjüdischen Erwartungen, der Jesus nichts Neues oder Besonderes hinzufügen würde), verlässt andererseits aber auch nicht den Boden dessen, was im Frühjudentum aufgrund des Alten Testaments schon angelegt war (sonst hätten die neutestamentlichen Autoren keine legitimen Anknüpfungspunkte mehr an das Alte Testament und seine Auslegung im Frühjudentum). Nach Bühner zeigt das Neue Testament gegenüber den frühjüdischen Erwartungen vielmehr ein überraschend verdichtetes, in seinen christologischen Aussagen deutlich klareres und der Tragweite der angesprochenen göttlichen Attribute und Eigenschaften viel umfassenderes Bild. Bühner ordnet so die neutestamentlichen Aussagen in ausgewogener Weise zwischen Anknüpfungen an alttestamentlichen Vorstellungen und neuen christologischen Aussagen ein. Insgesamt ist die Untersuchung von Bühner damit ein wertvolles und differenziertes Korrektiv der bisherigen Forschung, die hilft, die Aussagen des Neuen Testamentes vor ihrem alttestamentlichen und frühjüdischen Hintergrund deutlicher herauszustellen.
Die Rezension/Kritik stammt von: Benjamin Lange
Kategorie: Geschichte, Kirchengeschichte
Jahr: 2020
ISBN: 978-3-16-159606-3
Seiten: 408
€ Preis: 87,30 Euro