Erwählung und/oder Bekehrung?
Autor: Wolfgang Nestvogel
Wie passen die biblischen Aussagen über Erwählung und Bekehrung zusammen? Wie kann die Predigt beide Themen angemessen aufnehmen? Die Beantwortung dieser Fragen hat sich der Autor in seiner Dissertation an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vorgenommen. Der genaue Titel heißt: “Erwählungspredigt und/oder Bekehrungspredigt? Die Souveränität Gottes und die Verantwortlichkeit des Menschen als homiletische Aufgabe unter besonderer Berücksichtigung der Verkündigung von Martyn Lloyd Jones.” Daraus entstand ein Werk von fast 600 eng bedruckten und in kleiner Schrift gehaltenen Seiten. Im 1. Kapitel gibt Nestvogel einen Überblick über den biblischen Befund. Dabei untersucht er besonders die Aussagen von Rö 8,28-30 und 9. Er zeigt, wie Gottes Souveränität in der Erwählung zum Heilwirksam wird und Israels Glaubensverweigerung eine Entscheidung zum Unheil ist. Das Heil beruht auf göttlicher Erwählung und muss im Glauben ergriffen werden, während das Unheil auf menschliche Schuld zurückzuführen ist, die im Unglauben manifest wird. Der Glaube der Gläubigen ist ein Geschenk, der Unglaube der Ungläubigen ist Schuld (S. 41). Damit konstatiert er eine Asymmetrie in der Erwählungslehre. Der Verfasser fühlt sich nicht der Logik des Erwählungsgedankens verpflichtet, sondern der Heiligen Schrift. Im 3. Teil des 1. Kapitels zeigt er dann die Verantwortung des Menschen in Bekehrung und Glauben von der Umkehrpredigt der Propheten im Alten Testament an über die Bekehrungspredigt in den Evangelien, der Apostelgeschichte, bis zu den paulinischen Briefen und dem Johannesevangelium. Der Glaube ist nach Nestvogel keine Qualität des glaubenden Menschen, sondern das Mittel, mit dem die göttliche Gnade als eigentliche Ursache der Gerechtsprechung ergriffen wird. (S. 121) Im 2. Kapitel stellt der Verfasser einige systematische Überlegungen im Zusammenhang mit der Aufgabe an, sowohl Erwählung als auch Bekehrung zu predigen. Zunächst zeigt er an Beispielen aus der Kirchengeschichte, wie bei de Pole in die Predigt integriert wurden. „Wie gegenüber Luther das Vorurteil irrt, er habe die Prädestination nicht gepredigt, so sollte Calvin gegenüber nicht der Vorwurf erhoben werden, er habe nicht deutlich auf die Verantwortung des Menschen zur Bekehrung hingewiesen“ (S. 167). Beide haben sich auf die biblische Vorgabe berufen. (S. 168) Im Hypercalvinismus wurde diese Spannung allerdings aufgelöst. Dann macht Nestvogel deutlich, wie die Erwählungslehre in der heutigen Predigt praktisch ausfällt, es aber auch einige Wiedergewinnungsversuche gibt und zwar sowohl im Hypercalvinismus als auch bei Karl Bath. Barth kommt zwar „zu einem spannungsfreien Zusammenhang von Erwählung und Predigt, bezahlt dies aber mit dem Schatten der Apokatasthasis“. (S. 199) Weil in der Geschichte deutlich wird, dass die Spannung häufig zu einem der Pole hin aufgelöst wurde, ist es nötig, die Aufgabe deutlich zu beschreiben. Die Erwählungspredigt hat darauf zu achten, dass sie nicht die Vertrauenswürdigkeit der Person und Verheißung Gottes fraglich macht und so das Evangelium und die Gewissheit des Glaubens unterminiert. Der Verfasser stellt sich der Frage, ob die willentliche Antwort des Menschen auf die Predigt des Evangeliums Verantwortlichkeit des Menschen oder Synergismus (Mitwirken des Menschen beim Heil) bedeutet. Wie kann das sola fide ohne mit dem sola gratia zu konkurrierenden noch als echte Verantwortlichkeit des Menschen vermittelt werden? Nach biblischem Verständnis gehören beide Aspekte des Christus Erkennens und Ergreifens untrennbar zusammen und sind nicht gegeneinander auszuspielen. (S. 252). Es ist wichtig, wie der Verfasser deutlich macht, dass der Glaube nicht auf ein passives intellektuelles Überzeugtsein beschränkt bleibt. Bekehrung bedeutet, die rechtfertigende Gnade in Christus sola fide zu ergreifen. (S. 271). Nestvogel beleuchtet noch weitere Dimensionen des Spannungsbefundes, nämlich die eschatologische, pastorale und logische. John Wesleys berühmter Einwand, dass ein Ernstnehmen der Erwählungslehre die evangelistische Predigt überflüssig mache, ist weder historisch zu verifizieren, noch systematisch zu begründen (S. 280). Das Fundament der Heilsgewissheit findet der Gläubige nicht in sich selbst, auch nicht in seinem Glauben selbst, sondern in Christus. (S. 313) Im 3. Kapitel geht Nestvogel auf die Verkündigungspraxis von Martyn Lloyd-Jones ein, der die Spannung zwischen Erwählungs- und Bekehrungspredigt sehr gut aufgenommen hat. Lloyd-Jones hat den Blick auf die biblische Gesamtbotschaft in gründlicher Auslegungspredigt ganzer biblischer Bücher manifestiert. Er meint, dass ein Verlust der Balance zwischen der Souveränität Gottes und der Verantwortung des Menschen die Integrität der Verkündigung beschädigt, (S. 366) gibt der Erwählungslehre aber in der evangelistischen Verkündigung keinen eigenen Platz. Nestvogel zeigt aber auf, wie diese Lehre den noch implizit in Lloyd- Jones evangelistischen Predigten vorhanden ist. Die Verantwortung des Menschen wird nicht auf seine Schuld vor Gott beschränkt, sondern auch der Ausweg daraus ist willentlich zu vollziehen, was der Prediger durch eine dringende Aufforderung zum Ausdruck bringt. (S. 372f.) Bei Lloyd-Jones bleibt der soteriologische Spannungsbefund gewahrt, denn einerseits ruft er zu Buße und Glauben auf, geht aber gleichzeitig davon aus, dass der Mensch dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Aus den Einsichten des Verfassers und Lloyd-Jones ergeben sich wichtige Konsequenzen für die heutige Evangelisationspraxis. Nicht nur die Botschaft, sondern auch die Methodik der Evangelisation und unserer Motivation dazu muss sich an neutestamentlichen Kriterien über prüfen lassen. (S. 555) Es wäre zu wünschen, dass der Verfasser bald eine allgemeinverständliche Zusammenfassung dieses monumentalen Werkes veröffentlicht, denn es ist es wert, von vielen verstanden zu werden.
Die Rezension/Kritik stammt von: Karl-Heinz Vanheiden
Kategorie: Biblische Lehre