Die schweizerische Reformation
Autor: Emidio Campi
Vor kurzer Zeit saß ich im Zug einem Historiker gegenüber. Wir kamen ins Gespräch über die neuere Forschung seines Gebiets. Ich fragte ihn nach der Meinung zu einem bestimmten Werk, worauf ihm leicht naserümpfend der Kommentar herausrutschte: „Das war ein Konservativer.“ Auch Historiker müssen einen bestimmten Stand und Blick auf den erforschten Gegenstand einnehmen. Bezüglich der Reformationsgeschichte fällt mir auf, dass diese oft stark auf den geschichtlichen Aspekt fokussiert ist. Die Distanz mag in einigen Fällen (z. B. beim Unrecht, das den Täufern widerfuhr) hilfreich sein. Insgesamt fehlt mir als Theologe dann bisweilen doch die inhaltliche Note, wie sie Gottfried Wilhelm Locher, Verfasser eines älteren Standardwerks, in seinem Geleitwort äußert: „Den Reformatoren stand Christus als der einzige Baumeister der Kirche klar vor Augen. Deshalb war ihr Denken und Handeln darauf gerichtet, sich gewissermassen als Bauarbeiter vom göttlichen Bauplan in Kopf und Herz bestimmen zu lassen. So wenig sich die Menschen selbst rechtfertigen können, so unmöglich ist es, die Kirche aus eigener Kraft aufzurichten.“ Nun aber zum Werk selbst. Das Buch will „fünf Jahrhunderte nach dem Beginn der Reformation und fast vier Jahrzehnte nach Lochers Buch einen Überblick über die vielfältigen und regional geprägten reformatorischen Entwicklungen in der Schweiz“ bieten (11). Es enthält drei Teile, die insbesondere den durch die neuere Forschung erschlossenen Zugang zu den regionalen Besonderheiten außerhalb der traditionellen Schwerpunkte Calvin und Genf, Zwingli und Zürich, sowie die Schweizer Anfänge des Täufertums zugänglich machen möchten. Im ersten Teil wird die geografische, wirtschaftliche und politische Lage vor der Reformation erarbeitet. Der zweite Teil widmet sich den lokalen Zweigen der Schweizer Reformation (Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, St. Gallen/Appenzell, Graubünden). Der dritte Teil geht dann der Langzeitwirkung der Reformation u. a. im Schul- und Bildungswesen zwischen 1500 und 1600 nach. Ein besonderes persönliches Augenmerk gilt der Forschung zu Heinrich Bullinger (1504-1575), dem seit den 1970er-Jahren intensiv erforschten Nachfolger Zwinglis. Das ergiebige zweite Kapitel des Editors Emidio Campi, 1996-2009 Leiter u. a. des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte, stellt seine umfassende Tätigkeit als Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche, als Prediger, Begründer von kirchenrechtlichen und liturgischen Neuerungen, energischer Pionier des Bildungswesens, Begründer der Pfarrausbildung, Initiator der eindrücklichen Publikationstätigkeit der „Schola Tiguriana“ und nicht zuletzt als unermüdlicher Briefeschreiber (es sind 12.000 Briefe zu über 1000 Korrespondenten in ganz Europa erhalten). Zu Recht wird ihm gutgeschrieben, die reformierte Tradition „bewahrt, erneuert und konsolidiert“ zu haben (S. 127). Das über 700 Seiten starke Kompendium besticht nicht nur durch einen guten Einband und den ansprechenden Druck, sondern auch durch zahlreiche Karten, Darstellungen und farbige Portraits. Das 60-seitige Literaturverzeichnis führt zu manchen Perlen, wovon jedoch viele in Zeitschriften nur schwierig zu beschaffen sein dürften oder in lateinischer Sprache abgefasst sind. Herauszuheben ist das Periodikum Zwingliana, ein Jahrbuch mit Beiträgen zur Geschichte des Protestantismus in der Schweiz und seiner Ausstrahlung. Fazit: Ein detailreiches, sauber recherchiertes Fachbuch für theologisch und geschichtlich interessierte Leser.
Die Rezension/Kritik stammt von: Hanniel Strebel
Kategorie: Geschichte, Kirchengeschichte
Jahr: 2017
ISBN: 978-3-290-17887-1
Seiten: 744
€ Preis: 80,00 Euro