Buch-Rezension: Der Pietismus von 1675 bis 1800 - Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen

Der Pietismus von 1675 bis 1800

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Bei dem vorliegenden Band aus der Reihe "Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen" handelt es sich um eine fachlich zu verlässige und gut lesbare Abhandlung zur klassischen Zeit des Pietismus. Mit 19,80 EUR gehört die Arbeit zu den günstigeren kirchengeschichtlichen Fachbüchern.

Mit Peter Schicketanz, Jahrgang 1931, hat der Verlag einen ausgewiesenen Kenner des Pietismus gewonnen. Er lehrte bis zu seinem Ruhestand verschiedene theologische Fächer an der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik in Potsdam. Seit seiner Studienzeit in Halle beschäftigt er sich vor allem mit dem Halleschen Pietismus. Schicketanz ist langjähriges Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus.

Der Titel des 196 Seiten umfassenden Buches "Der Pietismus von 1675 bis 1800" ist wohl weniger exakte Datierung als vielmehr programmatische Abgrenzung einer Epoche. Wahrscheinlich hat der Autor dabei das Erscheinungsjahr von Speners Reformschrift "Pia Desideria" 1675 als Ausgangspunkt des Pietismus im Blick. Die Abgrenzung zum 19. Jahrhundert ist wohl eher willkürlich und soll den Übergang zur Erweckungsbewegung kennzeichnen. Sowohl das eine als auch das andere Datum sind für Schicketanz allerdings keine starren Grenzen. Er führt so wohl die historischen Wurzeln pietistischer Frömmigkeit aus dem 16. Und 17. Jahrhundert wie auch die Ausstrahlung der Geistesbewegung auf das 19. Jahrhundert vor Augen. Wie die Mehrzahl gegenwärtiger Kirchenhistoriker sieht Schicketanz im Pietismus in erster Linie eine bis in die Gegenwart fortdauernde Frömmigkeitsbewegung und erst in zweiter Linie eine Epochenbezeichnung (5,20).

In neun straff gegliederten Kapiteln zeichnet Schicketanz lebendig und intensiv die Geschichte der ersten drei Pietistengenerationen nach. Nicht unumstritten ist die Auswahl der vor gestellten Personen. So wundert sich mancher, warum beispielsweise Christian Friedrich Spittler lediglich vier Sätze gewidmet werden. Abgeschlossen wird der Band mit einem ausführlichen Sach-, Orts- und Personenregister (179-192), die neben der detaillierten Gliederung bei der Erschließung des Textes behilflich sind. Der praktischen Predigtvorbereitung können auch das Lied- und das Bibelstellenregister dienen (177f).

Bei Schicketanz finden sich alle wichtigen Daten, Lehren und Werke der von ihm vor gestellten Pietisten. gewöhnungsbedürftig ist gelegentlich der von einander abweichende Aufbau der einzelnen Kurzbiographien. Geht er einmal streng chronologisch vor (z.B. Bengel), schieben sich ein andermal biographische und thematische Abschnitte ineinander (z.B. Spener, Francke). Außer Zinzendorfs Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf und den beiden Radikalpietistinnen Johanna Eleonora Petersen, sowie Eva Margaretha von Buttlar finden Frauen in dieser Geschichte des Pietismus leider nur am Rande Erwähnung. Um den theologischen Charakter der porträtierten pietistischen Persönlichkeiten zu erschließen, lenkt Schicketanz den Blick des Lesers immer wieder auf deren persönliche religiöse Sozialisation in der Kinder- und Jugendzeit, als auch auf die Gewährsleute denen er sich verpflichtet weiß. Unterbewusst aufgenommenen theologischen Einflüssen und unbewusst weitergeführten Traditionen hingegen misst er keine besondere Bedeutung bei (19, 47, 50, 89f, 115f). Manchmal entsteht dabei allerdings der Eindruck, als führe Schi cketanz Lebensweise und theologische Überzeugungen der porträtierten Person allesamt auf Erziehung, Prägung und Zeitgeist zurück (48, 55, 89f, 92f). Hinweise auf eine übernatürliche göttliche Abhängigkeit und Beeinflussung finden sich fast ausschließlich in den zitierten Quellenschriften der Betreffenden selbst (48, 90, 106, 143).

Wenn auch die Wegegegenseitiger Beeinflussung nicht immer eindeutig geklärt werden können, verweist Schicketanz zu recht auf die geistige Verwandtschaft der Pietisten mit Mennoniten, Kaspar von Schwenkfeld, katholischen Janseisten, spanischen Quietisten und englischen Puritanern (21). Die Relevanz der Verflechtung zahlreicher Pietisten mit gesellschaftlichen Utopien und magisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungen ihrer Zeit wirkt durch aus erhellend (22f, 69f, 79, 139, 152).

Im Rahmen seiner Vorstellung der geistigen Vorläufer des Pietismus finden bei Schicketanz auch weniger bekannte Namen Erwähnung, wenn auch nur knapp und summarisch (23f). Manchmal werden auch in den folgenden Kapiteln lediglich Namen genannt, die ohne entsprechende Einordnung den weniger sachkundigen Leser eher irritieren als weiterhelfen (28, 32, 44, 142).

Immer wieder verweist Schicketanz auf psychologische Komponenten pietistischer Frömmigkeit wie die religiös Gefühle ansprechenden Predigten, Verinnerlichung und Subjektivierung des Glaubens, persönliche Heilsaneignung (34f, 58). Die Betonung von Wiedergeburt, Bibellesen und Sittenstrenge als Kennzeichen pietistischer Religiosität findet häufig in den biographischen Skizzen Erwähnung (23, 28, 35, 69, 149). Für den eher kirchlich orientierten Autor ist insbesondere der Separatismus kritisch zu beurteilender Radikalpietisten (36, 40, 79f). In diesem Zusammenhang interessiert ihn immer wie der die Frage, ob ein Pietist seine Bibelstunden innerhalb oder außerhalb kirchlicher Kontrolle veranstaltet und ob sie in Konkurrenz zu offiziellen Gottesdiestlichen Versammlungen stehen (40, 60, 69ff, 79, 82). Wichtiges Separatismuskriterium ist für ihn auch die Praxis der Kindertaufe (82) und eigenständige organisatorische Strukturen (114). Zutreffend wird immer wieder auf den konfessionsübergreifenden Charakter des Pietismus verwiesen (37, 42, 51, 74, 117, 152).

Etwas undifferenziert wird von Schicketanz die pietistische Betonung der Bekehrungserfahrung als ökumenische Gesinnung interpretiert (113, 131). Zuwenig wird berücksichtigt, dass die Zurückstellung dogmatischer Differenzen im Pietismus sich von den theologischen Inhalten gegenwärtiger ökumenischer Bemühungen deutlich unterscheidet.

Zahlreiche gut ausgewählte und aussagekräftige Zitate lassen dem Leser die porträtierten Personen lebendig werden und stützen ihre Charakterisierung durch den Autor. Die orthographisch und stilistisch unangepassten Zitate erfreuen natürlich den Historiker, erschweren für den geneigten Laien jedoch das Lesen. Manche am Rande erwähnte Details wie die Verschreibung Tersteegens an Jesus Christus mit seinem eigenen Blut unterschrieben (38) oder Speners Engagement bei der Einrichtung eines Arbeitshauses (52) lassen die vorgestellte Zeit lebendig werden.

Besonderes Augenmerk richtet Schicketanz auf die Gottesdienstliche Praxis pietistischer Gruppen, insbesondere deren musikalisches Schaffen (36, 39f, 42, 98, 136, 143). Im Rahmen einer ausgewogenen Beurteilung der porträtierten Pietisten widmet sich Schicketanz stets auch der Auseinandersetzung mit deren Kritikern. Dabei stellt er betont neutral deren Position einander gegenüber, wobei zu meist doch eine gewisse Sympathie zu den pietistischen Christen durchscheint (43, 58f, 65, 101ff, 126f).

Die Beziehungen verschiedener Pietisten untereinander ist für Schicketanz ein Thema auf das er immer wieder zu sprechen kommt (49, 78, 92, 110, 116f, 127f). Diese immer wiederkehrenden Hinweise auf geistige, literarische und persönliche Verbindungen zwischen den besprochenen Pietisten (39, 49) sind auch für den Kenner erfreulich. Gelegentlich vernebeln die von Schicketanz benutzten Fachbegriffe mehr als sie erleuchten, wie die "Kommunikationsfelder" um Spener (46). Auch manche unklaren Formulierungen führen nur wenig weiter. Wenn Schicketanz erwähnt, dass Speners literarisches Erbe eine Fundgrube für sehr viele anstehende Fragen sei, bleibt offen für welche (46). Bei der Diskussion von Franckes Gegnern bleibt unklar, ob Schicketanz überraschend Perfektionismus als Unfähigkeit des Christen sündlos zu leben definiert (102).

Schicketanz versteht es in seinem überschaubaren Band einen gelungenen Überblick über die ersten 150 Jahre pietistischer Frömmigkeit zu geben. Dabei werden die von ihm vorgestellten Personen differenziert beurteilt und dem Leser durch exemplarische Beispiele aus deren Lebenswelt anschaulich vor Augen gemalt. Eine gewisse Sympathie für die dargestellten Personen ist dem Autor durchaus abzuspüren. Seine Lebensbilder enthalten stellenweise mehr konkrete Information als manche Einzelbiographie andernorts. Wem die "Geschichte des Pietismus" zu teuer oder zu umfangreich ist und wer vor einem sachlich formulierten Text nicht zurückscheut, dem kann die Lektüre dieses Bandes nur empfohlen werden.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Michael Kotsch
 Kategorie: Geschichte, Kirchengeschichte

  Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
  Jahr: 2002
  ISBN: 978-3374018581
  Seiten: 150
 €    Preis: 19,80 Euro