Der Messias im Tempel
Autor: Roger Liebi
Das vorliegende Buch ist in seiner reichen Ausstattung seinem Thema angemessen. Wie der herodianische Tempel ein überaus prächtiges Gebäude war, so prächtig liegt auch die überarbeitete Dissertation von Roger Liebi vor: mehr als 700 vierfarbige Druckseiten auf schwerem glatt gestrichenen Papier mit zahlreichen Fotos und Abbildungen, eine farbige Kapitelkennzeichnung, die die obere Ecke des Buches in Regenbogenfarben erscheinen lässt, außerdem eine CD mit dem gesamten Buch als pdf-Datei, 8 Vorträge und 3 Musikstücke des Autors im MP3-Format. Auch Gedanklich enthält das Buch einen ausgesprochenen Reichtum, denn es füllt nicht nur eine Lücke, in dem es die theologische Bedeutung des Tempels aus ihrem Schattendasein herausführt, sondern wertet auch große Teile der archäologischen Funde der letzten 35 Jahre aus. Liebi verarbeitet dabei sehr kenntnisreich die neueren Rekonstruktionen. Er stützt sich weitgehend auf Arbeiten von Ritmeyer. Außerdem hat er eine große Kenntnis des Talmud und der Aussagen von Josephus zum Tempel. Dass es sich bei diesem Buch um eine Dissertation handelt, wird dem Leser an den zahlreichen Fußnoten (in einer extra Spalte gedruckt) deutlich, die vielfältige Hinweise zum weiteren Studium bieten. Der Text selber hat keinen wissenschaftlichen Duktus, sondern ist allgemein verständlich. Nebenbei zeigt Liebi, dass er sich über viele Details Gedanken gemacht hat und erklärt en passant noch Historische Zusammenhänge, wie z.B. die variierende Stundenlänge im alten Israel, die verschiedenen Geldwerte oder den Aufbau von Musikinstrumenten. Das anvisierte Ziel, möglichst alle Stellen des NT zum Tempel, alle Anspielungen, jedes Ereignis, jede Rede, die irgendeinen Bezug aufweist, zusammenzuführen, ist erreicht. Alle relevanten Bibelstellen sind im vorliegenden Buch extra abgedruckt und das – wegen der Vorliebe des Autors für den so genannten Mehrheitstext – in der unrevidierten Elberfelder Übersetzung, die Liebi aber selber hier und daab ändert. Erst im Anhang nach der ausführlichen Bibliographie finden sich einige Gründe für diese Entscheidung. Der Anhang enthält außerdem noch einen neutestamentlichen Index zum Tempel, der eine sehr sinnvolle Ordnung bietet. Leider verweisen keine Seitenzahlen auf die Kommentierung der entsprechenden Stelle im Buch. Damit fehlt ein Register, das das Buch zu einem Nachschlagewerk machen würde. Das wird den reinen Buchnutzer schmerzen. Der Computerkundige kann mit der Suchfunktion des mitgelieferten Adobe Reader 6, der die pdf-Datei auf der CD am Bildschirm darstellt, alles Nötige finden. Der Reader macht es sogar ohne Schwierigkeiten möglich, Kopien der Fotos und Abbildungen zu erstellen und etwa auf Folie gedruckt in der Bibelstunde zu benutzen. Es besteht sogar die Möglichkeit sich das Buch vorlesen zu lassen. Die automatische Stimme schafft das in einer leidlichen Qualität, verständlich, aber erhöhte Aufmerksamkeit fordernd. Die mitgelieferten Vorträge sind Livemitschnitte. Sie sind zwar nicht parallel zum Buch, aber enthalten viele der im Buch dargelegten Zusammenhänge und stellen eine gelungene Ergänzung dar. Angesicht der inhaltlichen Fülle des Buches war eine gewisse Unübersichtlichkeit vielleicht nicht zu vermeiden. Man kommt sich oft vor wie der Tourist, der vom kundigen Führer durch ein aufwändiges Denkmal geführt wird, auf dies und das auf merksam gemacht und von jedem Detail aus einen Zug durch die Geschichte mit mehreren Exkursen verfolgt. Mit dieser Vorstellung ergibt sich eine nachvollziehbare Einteilung des Buches: Die ersten 130 Seiten sind als Einleitung zu verstehen. Sie enthalten neben der eigentlichen Einleitung einen Forschungsbericht über den zweiten Tempel, die Wiedergabe seiner Geschichte und eine Einführung in die typologische Deutung. Der Hauptteil des Buches ist mit 500 Seiten dann ein Gang durch den Tempel von der schönen Pforte bis zum Allerheiligsten. Auf diesem Gang werden alle neutestamentlichen Texte zugeordnet. Die letzten 70 Seiten enthalten neben einem Einblick in die Bauweise des Tempels noch die Anhänge. Inhaltlich beruht das Buch, wie schon der Untertitel deutlich macht, auf einer Deutung der Symbolik des Tempels. Darum plädiert Liebi für eine weitreichende typologische Auslegung alt- und neutestamentlicher Texte. Er schreibt: „Die biblische Typologie ist Ausdruck davon, dass die Bibel nicht ein gewöhnliches menschliches Buch ist, sondern im vollumfänglichen Sinn Gottes Wort (2Tim 3,16; 2Pet 1,21)” (122). Liebi will darum auch die Typologie nicht nur auf solche Stellen beschränken, die im NT typologisch ausgelegt werden, sondern sieht im Prinzip die ganze Bibel für typologische Auslegung offen. „Kein Text, so belanglos er auch einem Leser scheinen mag, darf der interpretatorischen Anstrengung für unwürdig gehalten werden” (122). Mit Hinweis auf die „typologische” Auslegung der Speisung der 5000 im Johannes-Evangelium will Liebi solche Deutung auf das ganze NT ausweiten. Paulus habe sogar vor Agrippa eine typologische Predigt über den Leuchter im Tempel gehalten (575). Um nicht den Fehlern einer abenteuerlichen Deutung der Bibel zu verfallen, will sich Liebi in seinen Studien auf die Richtung vom Körper zum Schatten beschränken. „Ganz Augenscheinlich ist uns das NT nicht gegeben worden, um alle Typen des AT zu erklären. Dennoch können wir sagen, dass das NT uns unterweist, wie wir mit der Hilfe des Heiligen Geistes die Unzahl der im AT enthaltenen typologischen Schattenbilder im Licht des NT selber entdecken können. Die Erfüllung dieser Schattenbilder – der ‚Körper’, der sie geworfen hat – wird im NT gefunden” (124). Wer nun den eigentlichen Körper im Auge behalte, werde auch die Schattenbilder, d.h. die typologisch zu deutenden Aussagen des AT, nicht mutwillig oder mit abenteuerlicher Phantasie aus deuten. Obwohl man dem Autor weitgehend zustimmen möchte, wünschte man sich doch eine gründlichere Erarbeitung des Themas. Und das gerade weil Liebi erkannt hat, dass „im Bereich des Evangelikalismus ... die Typologie im Allgemeinen keine große Bedeutung erlangt” hat und dass es von Origines bis zur historisch-kritischen Theologie eine Typologie und Allegorese gibt, die „dem wörtlichen Sinn der geschichtlichen Bücher des AT mit lästerlicher geringschätzung begegnet” (120f). Leider schießt Liebi selber hier und da in seiner typologischen Auslegung über das Ziel hinaus, insbesondere wenn er sich von der Bibel entfernt. Sind die kleinen Einkaufsläden, die entlang der südlichen Umfassungsmauer gefunden wurden, wirklich ein Symbol dafür, dass „wahres Glaubensleben [...] das Alltägliche nicht vom Göttlichen” abschneidet (145)? Sie könnten auch zeigen, dass Menschen mit dem Heiligen Geschäfte machen. Oder die Halle Salomos, in der sich auch die erste Gemeinde in Jerusalem traf: Dass sie innerhalb des heiligen Bereiches lag, aber noch außerhalb der Umzäunung, soll gedeutet werden, dass „die Gemeinde nach Gottes Bauplan [...] dem göttlichen Heiligkeits-Standard entsprechen [...] aber zwingend notwendig, [...] auch für die Fernstehenden zugänglich” sein muss (197f). Auch die geistliche Bedeutung der Flöte erscheint überzogen: „Die ‚durchbohrte’ Flöte spricht symbolisch von der Tatsache, dass der Erlöser nach Gottes Ratschluss durchbohrt werden musste, an Händen und Füßen so wie an seiner Herzseite” (362). Die Harfen deuten für Liebi, weil sie mit Schafdärmen bespannt sind, auf die Notwendigkeit hin, dass Jesus für uns den Tod erleiden musste, damit wir den Messias loben können (366). Bei diesen Beispielen wird nicht der Bibeltext, sondern die Archäologie gedeutet. Einzelne übertriebene Ausdeutungen schmälern aber nicht den grundsätzlichen Gewinn, der darin liegt, die reichlich vorhandene Symbolik des Tempels mit der Heiligen Schrift auszuleuchten. Wie jedes Kapitel einen bunten Strauß von Informationen darstellt, sei kurz am 100-Seiten-Kapitel „Der Frauen-Vorhof” dargelegt. Liebi legt zuerst dar, dass der Frauen-Vorhof keineswegs nur Frauen offenstand, sondern dass er die Grenze darstellte über die hinaus Frauen nicht weiter in den Tempel gehen durften. Im Frauen-Vorhof fand aber mehr statt. Mit Fotos von Modellen und archäologischen Funden wird der Platz des Tempelchores identifiziert, der die Stufenlieder (Ps 120-134) sang. Daran anschließend geht er ausführlich auf Musik und Musikinstrumente im Tempel und im neuen Testament ein. Neben sinnvollen Erklärungen der Symbolik (z.B. Horn), die aus der Bibel stammen, treten auch rabbinische Deutungen, die überzogen erscheinen. Im Zuge der Erklärung der Instrumente im Tempel werden alle neutestamentlichen Stellen in diesem Zusammenhang genannt und ausgelegt. Dabei kommen so interessante Dinge zur Sprache wie, dass die letzte Posaune in 1Kor 15 nicht mit der 7. Posaune der Offenbarung identisch ist (376), aber auch die Fragen auswerfende Behauptung, dass „Johannes ... eine Entrückung in den Himmel, ganz entsprechend dem in 1Thess 4,17 beschriebenen heilsgeschichtlichen Ereignis” erlebt habe (379). Es wird die Ausrichtung des Tempels nach Osten beschrieben. Sie sei eine Kritik anden Kulten der Fremdvölker, die ihre Tempel nach Westen zur aufgehenden Sonne ausrichteten. Der Weg zurück zu Gott führe – symbolisch gesprochen – aus dem Osten der Entfremdung über das Opfer Jesu zurück zum Tempelhaus im Westen (384). Über die Geldsammelkästen im Frauenvorhof kommt Liebi zur Erklärung der Geldwerte, zur Witwe und zu Judas und den 30 Silberschekeln. Es geht weiter zu Maria und ihrem Reinigungsopfer und zu Hanna, der Prophetin im Frauenvorhof. Nach der Beschreibung der Räume für die Priestergewänder schließen sich die Auslegung der neutestamentlichen Aussagen über Kleidung an. Es findet sich eine Beschreibung des Nasiräer-, des Öl-, und des Leprahofes jeweils mit einer Sammlung aller relevanten Bibelstellen. Eine Schilderung der Leuchter im Vorhof wird ergänzt durch zahlreiche Hinweise auf das Laubhüttenfest, weil nur dabei nächtliche Gottesdienste gefeiert wurden. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass so vielen Begebenheiten eine lebendige Vorstellung vom Ort des Ereignisses beigefügt wird. Flüssig lesen lässt sich das Buch aber kaum. Insgesamt gelingt es Liebi lebendig und erhellend durch den Tempel zu führen und als kundiger Reiseführer auf die Besonderheiten aufmerksam zu machen. Dabei entstand ein Nachschlagewerk, das von überragender Detailkenntnis zeugt. Man verzeiht ihm das gelegentliche Überziehen gerne, weil dies reichhaltige Buch in den reichen Schatz oft unbeachteter Aussagen des NT hineinführt.
Die Rezension/Kritik stammt von: Thomas Jeising
Kategorie: Kommentare, Auslegung, Lexika
Jahr: 2007
ISBN: 3-89397-641-8
Seiten: 704
€ Preis: 34,90 Euro