Buch-Rezension: Der einzig wahre Bibeltext? - Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext

Der einzig wahre Bibeltext?

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In der mittlerweile zweiten, verbesserten Auflage des vorliegenden Buches nimmt der Autor Stellung zur Debatte um den sog. „Textus Receptus“ (die von der Zeit der Reformation bis zum 19. Jahrhundert geläufige Form des griechischen NT, die auf Erasmus von Rotterdam zurückgeht; nachfolgend TR). In sechs von insgesamt acht Kapiteln werden dabei der persönliche und zeitgeschichtliche Hintergrund des Erasmus, dessen Arbeitsweise und die Qualität des von ihm herausgegebenen griechischen NT gründlich beleuchtet. In Kapitel 4 wird eine kurze Darstellung verschiedener textkritischer Methoden eingeschoben. Im achten Kapitel wird auf die Frage eingegangen, welche Art von Bibelübersetzung die beste sei.

Grundsätzlich ist sowohl der sachliche Ton als auch die gründliche Arbeit des Verfassers er freulich. Z. B. weist er darauf hin, dass sich die Unterschiede selbst zwischen TR und Nestle-Aland (NA) sehr in Grenzen halten und keineswegs „dadurch die Grundlehren des Christentums gefährdet würden“ (S. 88). Gut auch, dass der Autor zahlreiche Mythen gründlich widerlegt, die von Anhängern des TR in Umlauf gesetzt wurden. So wird in den ersten beiden Kapiteln anhand zahlreicher Originalzitate des Erasmus nachgewiesen, dass dieser keineswegs ein Gläubiger im evangelischen Sinne war, sondern bis zu seinem Tod ein entschiedener Anhänger Roms, der die Autorität der Heiligen Schrift dem Papsttum unterordnete (manche TR-Anhänger meinen, Erasmus müsse gläubig gewesen sein, da nur wahre Gläubige eine Bibelausgabe richtig bewerkstelligen könnten). Dennoch würdigt der Verfasser das Werk des Erasmus auf faire Wei se.

Kapitel 3 beschreibt kurz die Entstehungsgeschichte des griechischen NT des Erasmus so wie der späteren von ihm abhängigen TR-Ausgaben; in Kapitel 4 geht der Verfasser auf die neuere Textkritik ein. Zu Recht weist er darauf hin, dass der Mehrheitstext (MT) als Textzeuge nicht unterbewertet werden darf. Was jedoch erstaunt: Heide plädiert dafür, dass der MT dem Urtext am nächsten stünde. Hierzu führt er Beispiele an, in denen alte Papyri mit dem MT gegen den NA übereinstimmen. Das mag auf den ersten Blick beeindrucken, hat aber einen entscheidenden Mangel: Wie bereits in Bibel und Gemeinde 1/2004 erwähnt, stimmen die frühen Papyri zwar vereinzelt mit dem MT überein, doch insgesamt entspricht ihr Charakter dem alexandrinischen Texttyp und nicht dem MT, der besonders dazu neigt, alle bis dahin bekannten Lesarten zu einer einzigen, längeren zu kombinieren. Dass die Papyri für die Existenz des MT als solchem vor dem 5. Jahrhundert sprächen, darf deshalb mit gutem Grund bezweifelt werden (auf S. 89 räumt Heide selbst das Fehlen entsprechender MT-Handschriften ein).

Nachdem Heide in Kapitel 5 kurz die textkritischen Ansätze des Erasmus beschreibt, bringt er in Kapitel 6 und 7 zahlreiche gut belegte Beispiele, wo Erasmus den griechischen Text aufgrund der lateinischen Vulgata verändert bzw. ergänzt hat und so mit den Urtext zweifellos nicht richtig wiedergibt. Das sog. „Comma Johanneum“ (1Jo 5,7f) und die Offenbarung werden hier besonders gründlich behandelt. Viele Quellen werden im Original zitiert und durch Abbildungen ergänzt. Da sie meist, aber nicht immer übersetzt werden, mindert das leider den Nutzen des Buches für die, welche die Zitate nicht verstehen können. Richtet sich das Buch gemäß der Einführung (S. 5f) vor allem an solche Leser, die der biblischen Sprachen nicht mächtig sind, so dürften gerade diese an mancher Stelle überfordert sein.

Im letzten Kapitel streift der Verfasser noch kurz die Frage, welche Art von Bibelübersetzung die beste sei. Heide plädiert für eine wörtliche Übersetzung und weist auf methodische Schwächen moderner Übertragungen wie „Gute-Nachricht-Bibel“ und „Hoffnung für alle“ hin. Jedoch wird dieses Thema nur angerissen; um ihm gerecht zu werden, müsste man intensiver darauf eingehen.

Fazit: Von den o.g. Schwachpunkten abgesehen ein gut fundiertes Werk, das manche Irrtümer über den TR zu rechtrückt und dies bezüglich durchaus zu empfehlen ist.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Joachim Schmitsdorf
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR)
  Jahr: 2002
  ISBN: 3-933372-86-0
  Seiten: 357
 €    Preis: 24,80 Euro
Buch-Rezension: Der einzig wahre Bibeltext? - Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext

Der einzig wahre Bibeltext?

Autor:

Aller guten Dinge sind drei, möchte man beinahe sagen. Gegenüber der zweiten Auflage dieses Buches, die bereits hier besprochen wurde, gibt es eine bedeutende Änderung, die eine erneute Rezension rechtfertigt: Der Verfasser hat seine bisherige These, der griechische Mehr heitstext (nachfolgend MT) komme dem Urtext am nächsten, aufgrund eigener Forschungsarbeit an den Handschriften (Hss) aufgegeben. Eine ausführliche Begründung dafür liefert er im achten Kapitel, das nun nahezu die Hälfte des Buches ausmacht.

Die ersten sieben Kapitel, die sich vorwiegend mit der Entstehung des Textus Receptus (TR) befassen, und das neunte Kapitel, in dem Heide für eine wortgetreue Bibelübersetzung plädiert, sind hingegen praktisch unverändert (hierzu sei auf o.g. Buchbesprechung verwiesen).

Am Ende des Buches geht der Verfasser in sieben Exkursen u.a. auf den Schluss der Offenbarung bei Erasmus und unterschiedliche Lesarten im MT, TR und Nestle/Aland (NA) ein. Hier und da finden sich kleinere Fehler im Buch, die aber durch einen beiliegenden Korrekturzettel verbessert werden.

Nun zu Kapitel 8. In Teil I skizziert Heide die Hauptmerkmale des MT, der textkritischen Ausgaben und deren Verhältnis zum Urtext. Wichtig ist der Hinweis, dass es „den“ MT als homogene Einheit nicht gibt: zwischen den Hss dieses Typs bestehen durch aus Unterschiede, und je nach Alter der Hss zeichnen sich gewisse Trends in der Textüberlieferung ab. Die in den frühen Papyri vereinzelt vorkommenden MT-Lesarten deutet Heide nun nicht mehr als Hinweis auf eine mögliche Ursprünglichkeit des MT, sondern als frühe vorsichtige Glättungen (S. 98).

Teil II von Kapitel 8 befasst sich mit den frühen Papyri und beschreibt deren Wert, der durchaus unterschiedlich ist: zwar wurden die wenigsten von professionellen Schreibern erstellt (einige Papyri wie P46 haben zahlreiche Fehler), meist aber geben sie die Vorlage getreu wie der (S. 102f). Der Behauptung, die alexandrinischen Lesarten spiegelten lediglich einen auf Ägypten begrenzten, durch Irrlehrer verfälschten Text wider, widerspricht Heide mit dem Hinweis darauf, dass zwischen Ägypten und dem übrigen römischen Reich ein reger Austausch an Schriften stattfand, wie die ägyptischen Papyrusfunde zeigen.

Der Codex Vaticanus und sein Verhältnis zum frühen MT wird in Teil III beleuchtet. Von besonderem Interesse sind dabei die erst 1995 entdeckten textkritischen Zeichen im Codex Vaticanus, mit denen der Abschreiber auf von seiner Vorlage abweichende Lesarten hinwies (einige dieser Stellen sind im Buch abgebildet). Dass er sie nicht in seinen Text aufnahm, zeige, wie genau er an seiner Vorlage fest hielt, diese also nicht wie sonst unter griechischen Kopisten oft üblich nach eigenem Gutdünken änderte (vgl. S. 114). Dies entspreche dem Ideal der alexandrinischen Gelehrten, welche die Ihnen vorliegenden Hss nicht verbesserten, sondern sich um eine Bewahrung des Textes bemühten (S. 116ff).

In Teil IV untersucht der Verfasser die seinerzeit von Westcott und Hort vermutete „lukianische Rezension“ und weist nach, dass Lukian allein die griechische Übersetzung des AT, nicht aber das NT bearbeitet hat (S. 121ff). Der MT sei weder der Urtext, noch habe er seine Entstehung einer gezielten Überarbeitung zu verdanken. Diese sei viel mehr während mehrerer Schübe, vor allem im 4.-5. und 8.-9. Jh. verlaufen, wie Heide in Teil V darlegt: Der frühe MT stehe dem alexandrinischen Texttyp noch um einiges näher als der byzantinische Text des Hoch- und Spätmittelalters; er sei als solcher vor dem 4. Jh. weder durch Hss noch anhand von Kirchenväterzitaten nachweisbar (besonders letztere variieren stark). Für die Entstehung des frühen MT weist Heide auf die Situation nach der konstantinischen Wende hin, als biblische Hss wegen des großen Bedarfs massenhaft in Skriptorien vervielfältigt wurden. Hierbei hätten geglättete Lesarten einen Überlieferungsvorteil gehabt; durch regen Austausch von Hss sei es zu einem relativ gleichförmigen Text gekommen (S. 134). Die Durchsetzungskraft des MT vergleicht Heide mit der heutigen Verdrängung wortgetreuer Bibelübersetzungen durch kommunikative (S. 139).

Darauf, dass der MT nicht allein durch eigenmächtige, spätere „Verbesserungen“ zustande kam, sondern durchaus auf älteren Lesarten beruht, ja im Einzelfall sogar die ursprüngliche Lesart gegenüber dem alexandrinischen Text bewahrt haben kann, weist der Verfasser in Teil VI hin. Den noch hält er den MT insgesamt nicht für den Urtext und zeigt auf, dass der MT zwar flüssiger zu lesen ist, aber viele stilistische Feinheiten, wie sie noch im alexandrinischen Text vorkommen, zugunsten eben dieser Lesbarkeit opfert (S. 142ff).

Ab Teil VII geht Heide näher auf die Behauptung ein, die alexandrinischen Hss seien das Ergebnis vorsätzlicher Textfälschungen, um Irrlehren zu stützen. Nach dem einhelligen Zeugnis der Kirchenväter habe allein Marcion dies gewagt; die Gnostiker hingegen hätten den Bibeltext selbst richtig zitiert, ihm aber durch falsche Deutungen Gewalt angetan (S. 143-149). Auch geben die Bibelzitate der (rechtgläubigen) frühen Kirchenväter sehr oft den alexandrinischen Text wieder.

Ein weiteres Argument führt Heide in Teil VIII an, wo er die Sitte der nomina sacra, d.h. der Abkürzung heiliger Namen Gottes wie Gott, Vater, Jesus, Christus, Herr, (Hl.) Geist beschreibt. Die nomina sacra kommen schon in den frühesten (alexandrinischen) Hss vor, was klar zeigt, dass deren Schreiber – im Gegensatz zu den Irrlehrern – an die Gottheit von Jesus glaubten.

Weitere Beispiele, dass vorsätzliche Textänderungen nicht aus häretischen Motiven erfolgten, sondern „schonende und [sinn-]bewahrende Eingriffe“ darstellen, wird am Beispiel der Überlieferung des AT und NT in Teil IX erläutert und in Teil X durch weitere Beispiele illustriert: So verdeutlicht etwa die Gegenüberstellung von NA- und MT/ TR-Lesarten des Namens von Jesus, dass MT/TR im Vergleich zum alexandrinischen Text sehr dazu neigen, „Jesus“ durch vollständige Ergänzung seiner Titel zu „Herr Jesus Christus“ zu erweitern. Dabei sei jedoch „keine durchgreifende theologische oder philologische Systematik“ erkennbar, weder in die eine noch in die andere Richtung, die Unterschiede seien zu gering; die vom NA bevorzugten Lesarten könnten daher nicht auf „einer häretischen gnostisch beeinflussten Revision“ beruhen (S. 163). Ferner werden zahlreiche Lesarten ausführlich besprochen, bei denen MT/TR-Anhänger dem alexandrinischen Text häretische Motive unterstellen. Auch hier weist Heide nach, dass diese Annahme unbegründet ist; die betreffenden NA-Lesarten geben seiner Meinung nach den Urtext meist besser wieder als der MT/TR.

Im letzten Teil von Kap. 8 geht der Verfasser auf die Frage nach dem Verhältnis von Inspiration und Bewahrung des Textes ein. Er weist darauf hin, dass wir den Urtext der Bibel zwar nahezu, aber nicht vollständig rekonstruieren können; dennoch könne man nicht sagen, dass die Inspiration der Bibel dadurch gefährdet sei. Da genau dies die Befürchtung vieler ist, die durch die TR-Debatte verunsichert werden, ist es wichtig, dass der Verfasser hierauf eingeht (vom pastoral-seelsorgerlichen Aspekt her hätte er hier vielleicht etwas ausführlicher sein können).

Zusammenfassung: In der dritten Auflage seines Buches bewertet Heide nicht nur wie schon bisher die Qualität des TR, sondern auch die des MT. Zahlreiche, oft durch Abbildungen illustrierte Beispiele untermauern die These des Autors, dass der MT/TR zwar nicht sinnverfälschend, aber eben auch nicht der „einzig wahre Bibeltext“ ist. Kenntnisse der biblischen Sprachen sind zum Verständnis hilfreich, aber nicht unbedingt nötig, um der Argumentation folgen zu können. Das Buch ist das Ergebnis sehr gründlicher Forschungen und geht von einer durchwegs Bibeltreuen Grundhaltung aus. Es ist jedem, der sich mit der Frage nach dem Urtext des NT intensiver beschäftigen möchte, sehr zu empfehlen.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Joachim Schmitsdorf
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR)
  Jahr: 2004
  ISBN: 3-933372-86-0
  Seiten: 357
 €    Preis: 24,80 Euro

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