Das Johannesevangelium (Handbuch Zum Neuen Testament)
Autor: Hartwig Thyen
Das vorliegende umfangreiche Werk ist der neueste deutschsprachige Kommentar zum Johannesevangelium. Geschrieben hat ihn der emeritierte Heidelberger Neutestamentler Hartwig Thyen, der seit vielen Jahren Aufsätze und Studien zum JhEv veröffentlicht hat (Aufstellung S. 55f). Nach einem knappen Vorwort und einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis, das zugleich die Gliederung des Ev beinhaltet (VII-XII), folgt eine - für die Gesamtlänge des Kommentars! - ungewöhnlich kurze Einleitung, in der T. mehrfach auf die Diskussion im folgenden Kommentarteil verweist oder auf seine früheren Studien Bezug nimmt. Hier die wesentlichen Positionen: Das JhEv dürfte im syrisch-palästinischen Raum entstanden sein. Zwar wurde der mehrfach erwähnte Jünger, den Jesus lieb hatte, schon von den Kirchenvätern richtig mit dem Zebedaiden Johannes identifiziert, doch: „Der Fehler der Väter war nur, dass sie den pseudepigraphen [falsche Zuschreibung] Charakter des Werkes nicht erkannt und darum den fiktionalen Autor und Erzähler im Text, den Zebedaiden und Apostel Johannes, für den realen Verfasser des Evangeliums gehalten ... haben“ (3). Hier kommen evangelikale und andere Forscher mit guten Gründen zu anderen, auch historisch plausibleren (!), Ergebnissen (vgl. E. Mauerhofer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments: bearbeitet von D. Gysel, 3. Aufl.; Nürnberg: VTR, 2004, 211-50; D. A. Carson, D. J. Moo, L. Morris, An Introduction to the New Testament; Grand Rapids: Zondervan, 1992, 135-76; J. A. T. Robinson, Jh - Das Ev der Ursprünge, hrsg. H.-J. Schulz, BWM 433; Wuppertal: R. Brockhaus, 1999). Ferner geht T. davon aus, dass die Leser die ersten drei Evangelien kannten. Im Vergleich zu früheren deutschsprachigen Kommentaren zum JhEv aus historisch-kritischer Perspektive fällt positiv auf, dass T. mit der neueren Forschung das Ev „als ein von seinem ersten Prologvers an bis hin zum letzten Vers des Epilogs (21.24f) kohärentes, hochpoetisches literarisches Werk“ (V) begreifen und auslegen möchte. Er verzichtet darauf, Texte innerhalb des Evangeliums umzustellen oder sich in endlosen Diskussionen möglicher, hypothetischer Quellen zu verlieren. T. wörtlich: „Da die handschriftlichen Zeugen weder für die vielfach vorgeschlagenen Umstellungen von Textteilen noch für eine nachträgliche Bearbeitung eines vorliegenden Evangeliums durch einen kirchlichen Redaktor irgendwelche ernstzunehmenden Indizien bieten, dürfte unser Evangelium öffentlich nie anders als in seiner kanonisch überlieferten Gestalt existiert haben“ (1). T. gründet seine Auslegung auf Einsichten aus den Literaturwissenschaften und möchte die neuere hermeneutische Diskussion aufgreifen. Dies führt zu interessanten Einsichten und Ergebnissen, da tatsächlich der vorliegende Text im größeren Zusammenhang des Ev. in den Blick kommt. Doch ist dieser Ansatz zugleich problematisch, da T. die Suche nach der Absicht des Verfassers nicht nur preisgibt, sondern deren Bedeutung und die Möglichkeit ihrer Ergründung kategorisch verneint (5, „Was der Text bedeutet, fällt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte“). Mit der schriftlichen Verfassung ist „der Autor neben allen anderen und keineswegs als Privilegierter nur ein Interpret seines Werkes“ (5) und weiter, ganz im Sinne postmoderner Erkenntnistheorie: „Der vielbeschworene objektive und vermeintlich methodisch rekonstruierbare objektive Textsinn oder sensus historicus ... ist ebenso wie die Trennung von Exegese und Applikation eine blanke Illusion“ (5). Auch hier kommen evangelikale Exegeten (und viele andere!) zu einer anderen Einschätzung - und das nicht nur aus Glaubensgründen (vgl. z. B. K. J. Vanhoozer, Is There a Meaning in This Text? The Bible, the Reader, and the Morality of Literary Knowledge; Grand Rapids: Zondervan, 1998). Ferner ist aus evangelikaler Perspektive positiv zu vermerken, dass T. nicht - wie in der Jh.forschung weit verbreitet - von einer sog. johanneischen Schule oder Gemeinde ausgeht, deren Theologie und Anliegen den Inhalt des Ev weitgehend bestimmt haben sollen: „Statt als Biographie des Juden Jesus wird unser Ev neuerdings weithin so gelesen, als sei es die Biographie dieser vermeintlichen ‚johanneischen Gemeinde’, die drauf und dran ist, den Poeten Jh als den, der dieses Ev nach Joh 21.24 ‚geschrieben hat’, von seinem Platz zu verdrängen und selbst zum geheimen Autor unseres Ev zu avancieren. ... Als literarisches Werk ist unser Ev kein an eine vermeintliche johanneische Gemeinde gerichteter Brief, aus dem deren Irrungen und Wirrungen erschlossen werden könnten, sondern ein Buch für Leser, für Menschen aller Generationen ...“ (3; vgl. dazu auch R. J. Bauckham (Hrsg.), The Gospels for all Christians: Rethinking the Gospel Audiences; Grand Rapids: Eerdmans, 1997). Das Bestehen auf dem Text in seiner kanonischen Endgestalt und die Ablehnung der These einer johanneischen Gemeinde teilt T. mit der evangelikalen Jh.forschung. Eine weitere Stärke des Bandes ist die umfangreiche aktuelle Literaturzusammenstellung zum JhEv (7-61). Mit den genannten Einschränkungen finden sich in T.s Kommentar gute Auslegungen und Hinweise sowie eine gute Aufarbeitung der neueren internationalen Forschung zum JhEv. Leider fehlt dem Band ein Epilog/Ertrag oder zumindest in der Einleitung eine Zusammenfassung der Theologie und des Anliegens des Evangelisten - zumal dieser selbst darüber Rechenschaft gibt (Jh 20.31) - sowie Überlegungen zum Verhältnis des Ev zu den Jh.briefen und zur Offenbarung. Andere neuere deutschsprachige Kommentare zum JhEv sind die Bände von B. Schwank, Evangelium nach Johannes, 2. Aufl. (St. Ottilien: EOS, 1998; konservativ- katholisch, in vielem ähnliche Positionen und Ergebnisse wie in den englischen evangelikalen Kommentaren) und U. Wilkens, Das Evangelium nach Johannes, 2. Aufl., NTD 4 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000) und in Englisch D. A. Carson, The Gospel According to John, Pillar Commentary (Grand Rapids: Eerdmans, 1991). Mit dem Jh.band in der neuen Reihe Historisch-theologische Auslegung des NT (hrsg. G. Maier, R. Riesner, H.-W. Neudorfer, E. J. Schnabel) wird in absehbarer Zeit auch ein deutschsprachiger evangelikaler Kommentar zum JhEv vorliegen. Einen guten Überblick über die neuere Jh.-forschung beitet Th. Söding (Hrsg.), JhEv – Mitte oder Rand des Kanons?: Neue Standortbestimmungen, QD 203 (Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2003; vgl. meine Rez. in European Journal of Theology 14, 2005, 125-28).
Die Rezension/Kritik stammt von: Christoph Stenschke
Kategorie: Kommentare, Auslegung, Lexika