Buch-Rezension: Das Gottesgutachten - Religion für Atheisten, Zweifler und Gläubige

Das Gottesgutachten

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José Marinas Buch steht in der Tradition von Schleiermachers Reden über die Religion. Allerdings schreibt diesmal nicht ein evangelischer Theologe, sondern ein Philosoph aus dem katholisch geprägten Spanien, der sich dazu bekennt, ein Ungläubiger zu sein. Schon insofern ist eine ganz andere Sichtweise zu erwarten als von dem Vordenker moderner Theologie. Marina allerdings will eine ganz neue Perspektive einnehmen, um sich der Religion zu nähern. Er will sich wie ein Außerirdischer mit der menschlichen Religiosität und den vorfindlichen Religionen auseinander setzen, um zu einem Gottesgutachten zu kommen. Eigentlich also geht es ihm um Gott selbst, aber weil er allein den Zugang über die Religionen sieht, wird das Gutachten über Gott zu einem Gutachten über die Religiosität. Die Außerirdischen-Idee hat unbestreitbar einen gewissen Charme. Dem „Außerirdischen” Marina gelingt es allerdings kaum, sich als Irdischer in die fremde Rolle einzufinden. Er kommt nämlich mit seinem offensichtlich irdischen Werkzeugkasten aus Philosophie und Psychologie daher, um damit eine Auswahl von Religionen zu vergleichen und ihre Ähnlichkeiten in einem System zu abstrahieren. Dabei ist seine Grundlage, dass alle Religion von Menschen gemacht ist, um bestimmte Zwecke für sie zu erfüllen. Religion soll „erklären, erretten und ordnen”, was Marina mit willkürlichen Belegen aus Christentum, Islam, Hinduismus, Taoismus und weiteren, meist östlichen Religionen unterstützt. Daraus entwickelt er eine „Kurzgrammatik” des Funktionierens von Religion. Weil aber „das vorliegende Material als eine ebenso gigantische wie chaotische Masse” erscheint, möchte er „rasch ein wenig sortieren” (45). Klar, dass man so keiner einzigen Religion gerecht werden kann und dass das Ergebnis nur Sinn machen kann, wenn stimmt, dass Religiosität das allgemein menschliche Phänomen ist, das jede vorfindliche Religion als menschliche „Erfindung” hervorgebracht hat. Und ist damit nicht nahegelegt, dass Gott selbst – mindestens so wie er in den Religionen erscheint - eine Erfindung darstellt? Darauf will sich Marina zwar nicht festlegen, aber diese Annahme klingt immer wieder durch.

Man fragt sich beim Lesen – und das macht die Sache etwas mühsam –, ob diese Herangehensweise aus Sicht eines Außerirdischen wirklich so zwingend oder auch nur naheliegend ist? Wenn ein Unkundiger Arbeiter auf Obstplantagen beim Züchten, Veredeln, Pflegen und Ernten beobachtet, kann er nach Funktion und Nutzen des Obstanbaus fragen und auch eine „Kurzgrammatik” davon erstellen. Auch wenn nun alles Züchten und Veredeln von Menschen erfunden ist, so sagt das lange nicht, dass die Menschen Äpfel oder Birnen für ihre Zwecke erfunden haben. Und interessant würde die Sache eigentlich erst dort, wo auch gefragt wird, wie die Natur des Obstes die Methoden des Anbaus bestimmen. Damit steht aber in Frage, inwieweit man die Funktionen von Religion zum Maßstab für ihr Verständnis machen kann. Aber das war schon ein Problem der Religionskritik à la Feuerbach. Es ist viel logischer, dass Religion nicht eine Erfindung ins Blaue hinein ist, sondern menschliche Antwort auf die Tatsache, dass der wahre Gott da ist.

Auf seinen weiteren Forschungen nimmt José Marina die Trennung zwischen dem Profanen und dem Heiligen wahr, so wie es sich in der Moderne herausgebildet hat. Es gibt einen Kreis, in dem zählt das Religiöse nicht, etwa in der Wissenschaft. Der heilige Kreis aber erscheint gänzlich davon getrennt. Der profane Kreis beruhe ganz auf Sinneserfahrung und Vernunft, dem heiligen wird diese Grundlage bestritten, auch da wo echte Gotteserfahrung behauptet wird. Marina macht die interessante Beobachtung verborgener Brücken zwischen den ansonsten getrennten Bereichen. Dazu zählt er zum Beispiel die Säkularisation der Religionen, wie sie etwa der Katholizismus in der Theologie der Befreiung erlebt hat. Die wesentliche Brücke aber sieht er in der Moral oder Ethik. Den Zugang zum Heiligen finde man durch gutes Verhalten. Moral stehe damit vor oder über jedem Glauben. Ja, die Religionen hätten in ihrer Entwicklung selbst einen Weg hin zu größerer Moral durchgemacht. Das will er auch im Alten und Neuen Testament finden. Das Erbe der Trennung von Religiösem und Nicht-Religiösem meint Marina antreten zu müssen, aber will sich selber außerhalb der „Konfliktparteien” stellen (101). Er tut es aber nicht wirklich, denn „aus ethischen Gründen” meint er doch die rationale Sichtweise jeder irrationalen und – wie er meint – auch religiösen vorziehen zu müssen. Dies aber bildet für ihn den Ausgangspunkt, um wieder einen Zugang zum Ursprung des Religiösen zu finden. Auch hier darf mit Recht gefragt werden, ob die behauptete klare Grenze zwischen religiösem und nichtreligiösem Denken und Handeln besteht. Ist es nicht vielmehr so, dass sich die Wissenschaft nur solange von religiösen Annahmen in konkreten Fragestellungen frei halten kann, solange sie auf nicht hinterfragbare Grundannahmen baut, die doch nichts anderes als Glaubenssätze darstellen? Und umgekehrt: Ist Religion denkbar, die sich soweit von der erfahrbaren Wirklichkeit entfernt hat, dass sie sich nur noch in einem heiligen Bereich bewegte? Es wäre natürlich viel leichter Religion zu erfassen, wenn die Trennung zwischen Heiligem und Profanen so einfach wäre. Tatsächlich aber stößt man auf die interessantesten Fragen dort, wo man zugeben muss, dass die Scheidung nicht möglich ist.

Und Marina beweist das mit seinem weiteren Gedankengang selbst. Er verlässt seine ursprüngliche Beschränkung, nur Religionen zu untersuchen, wenn er doch einen „profanen Gott” zu fassen versucht. In der Existenz des Materiellen, des Realen selbst findet er das Göttliche und Gott: „Gott ist die Substantivierung der göttlichen Dimension der Realität” (131). Unter Substantivierung versteht Marina einen Akt der menschlichen Intelligenz, weil Gott und Religion für ihn immer Schöpfung des Menschen darstellen. So kann sich die göttliche Dimension materialisieren in Biologie, Psychologie, Humanismus, materialisieren in und durch menschliche Bewusstseinsvorgänge. Aber was ist das dann, wenn es bei Marina heißt: „Die Realität, sofern existent, ist göttlich. Gott muss in der gesamten Realität gegenwärtig sein” (134)? Marina stößt am Grund der Religiosität auf einen Panentheismus (Gott in allem) und ist damit wieder ganz nah bei Schleiermacher, dem man das Gleiche vor mehr als 200 Jahren vorhielt. Und auf dem Weg über den Panentheismus will Marina echte religiöse Erfahrung wiedergewinnen. Über das Staunen über die Existenz des Unscheinbaren etwa in der Natur soll man zum eigentlichen Sein, also zur göttlichen Dimension, vordringen. Diese Religiosität will Marina aber konsequent im privaten Bereich anordnen. Dann kann sich das Religiöse in aller Unterschiedlichkeit ohne Streit bewahren. Auch hier geht er auf den Spuren Schleiermachers, um auf die Kant-Straße einzubiegen. Denn übergeordnet über die einzelne Religion steht die Moral, die zwar oft aber nicht notwendig abhängig von der Religion entstanden ist. Sie ist im Wesen das Ergebnis des menschlichen Strebens nach Glück, soweit es intelligent ist. Und so erweist sich der praktische (profane) Vorteil der Religion, dass sich mit ihr Moral begründen lässt, zugleich als ihr Todesstoß. Religion wird überflüssig. Im letzten, auch so benannten Kapitel legt Marina schließlich die Zusammenfassung seiner Überlegungen auf 4 Seiten als Gottesgutachten vor.

Das vorliegende Buch hat in einigen spanischsprachigen Ländern heftige Diskussionen ausgelöst und bereits mehrere Auflagen erlebt, bis es nach Deutschland kam. Da Religion hierzulande sehr viel nüchterner verhandelt wird und die früheren Feuer der Religionskritik viel mehr Verwüstung auch in der privaten Religiosität angerichtet haben, dürfte sich die Aufregung bei uns nicht wiederholen. Sieht man vom etwas schwerfälligen Stil und gelegentlichen inhaltlichen Unklarheiten ab, könnte das Buch aber durchaus anregend für die Frage nach der Religion und den Religionen sein. Mit dieser Frage muss sich heute mehr denn je jeder beschäftigen, der biblische Inhalte bezeugen will. Dabei kann es durchaus hilfreich sein, Religion als menschliche Schöpfung anzusehen. Wer aber so ignorant wie Josè Marina die Möglichkeit von Offenbarung ausschließt, der kann unmöglich eine befriedigende Antwort für Gläubige oder Zweifler geben. Nur Atheisten werden einigermaßen zufrieden sein.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Thomas Jeising
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Primus
  Jahr: 2005
  ISBN: 3-89678-535-4
  Seiten: 224
 €    Preis: 12,90 Euro