Buch-Rezension: Die verschwiegenen Evangelien - Gnosis oder Apostolisches Christentum: Muss die Geschichte des frühen Christentums neu geschrieben werden?

Die verschwiegenen Evangelien

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Der vorliegende Band ist die deutsche Ausgabe von The Mission Gospels: Unearthing the Truth Behind Alternative Gospels (Nashville: Thomas Nelson, 2006). Er ist einer von mehreren neuen Bänden, die sich kritisch mit der gegenwärtigen Revision weiter Teile der Geschichte des frühen Christentums und der Alten Kirche und damit verbunden der Aufwertung ntl. Apokryphen auseinandersetzt. Darrell Bock ist einer der renommierten US-amerikanischen Neutestamentler und lehrt am Dallas Theological Seminary. Bock beschreibt diese heute weitgehend von Nordamerika ausgehende Umdeutung der frühen Kirchengeschichte sowie die Neubewertung und verstärkte Berücksichtigung verschiedener gnostischen Schriften (Zusammenfassung S. 11), um sie jeweils einer gründlichen und teilweise vernichtenden Kritik zu unterziehen. Nach dem Geleitwort von Prof. Dr. Rainer Riesner (11-14, guter Überblick über die aktuelle Diskussion und ihre Bedeutung) beginnt Bock mit der Frage: „Die Schriftfunde von Nag Hammadi – oder: Muss das Christentum generalüberholt werden?“ (15-24). Nach Bock verdient diese These es, kritisch hinterfragt zu werden:

Haben wir es mit einem Werbefeldzug einer selbsternannten Avantgarde zu tun? Könnte es sein, dass diese Behauptungen nicht etwa deshalb so gut ankommen, weil ihr Geschichtsbild fortschrittlich und im Wesentlichen korrekt wäre, sondern vielmehr, weil sie den Zeitgeist des 21. Jh. erfolgreich, aber mit sachlich falschen Behauptungen ansprechen? Was ist wahr an diesen Ideen, und ist überhaupt etwas an ihnen wahr? Unser Ziel ist es, einer Beantwortung dieser Fragen dadurch näher zu kommen, dass wir das ganze inhaltliche und lehrmäßige Spektrum, das sich in den wiederentdeckten Texten findet, anschauen und uns nicht das herauspicken, was uns in unserer Kultur passt und das wir gerne in unser religiöses Weltbild einbauen möchten. Des Weiteren werden wir die Diskussion aufarbeiten, die um diese Texte geführt wird, um zu sehen, ob es wirklich Argumente für eine Revision unseres Bildes vom frühen Christentum gibt (20).

Nach einem Überblick „Wer war wer?: Epochen, Personen und Werke in der Frühgeschichte der Kirche“ (25-42, u. a. zeitliche Einordnung der neu entdeckten Evangelien, die apostolischen Väter und das Aufkommen „alternativer“ Texte, die Apologeten und weitere alternative Texte), beschreibt Bock zunächst das alternative Christentum der Gnosis (43-51, Definition) sowie ihr Alter und ihre Wurzeln (52-62, u. a. mit einer knappen Geschichte der Erforschung und Definition der Gnosis). Dann geht es um einen auch forschungsgeschichtlich orientierten Überblick über die Vielfalt des frühen Christentums und die damit verbundenen Probleme der historischen Urteile (63-76, u.a. das Thomasevangelium und die Behauptungen der „neuen Schule“ über Jesus). Grundlegend für die gegenwärtige Revision ist die These des deutschen Neutestamentlers Walter Bauer (Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934; 2. Aufl. 1964), die Bock ausführlich darstellt und kritisch würdigt („Es gibt schlicht keine Belege dafür, dass in der Frühzeit des Christentums eine bunte Vielfalt herrschte, bei der die nichtorthodoxen Stimmen in der Mehrheit waren“, 89). Bock untersucht auch andere Wurzeln der „neuen Schule“ (77-90).

Anschließend schildert Bock anhand vieler Quellenzitate und Interpretationen wesentliche Inhalte der Gnosis und stellt ihnen die biblisch/“traditionelle“ oder „orthodoxe“ zum Vergleich Position gegenüber um Schwerpunkte, Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten: Das Wesen Gottes und die Schöpfung (91-138), Jesus – Mensch und/oder Gott (139-77), das Wesen der Erlösung: Nur die Seele oder auch der Leib? (178-216), der Tod Jesu: Erkenntnis, Sünde und Erlösung (217-56).

In der Zusammenfassung („Die ‘neue Schule’, die ‘verschwiegenen’ Evangelien, alternative Formen des christlichen Glaubens und die Frage nach der Orthodoxie“, 257). Anliegen der „neuen Schule“ sei es, „dass die Verlierer der großen theologischen Auseinandersetzungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte gebührend gehört und gewürdigt werden“ (257). Bock diskutiert die Leistungen und Grenzen dieser „neuen Schule“ und ihrer Thesen. Nach Bock hat sie vier wichtige Beiträge zur Erforschung der Frühgeschichte des Christentums geleistet:

  1. Sie zeigt die damaligen Alternativen zur kirchlichen Lehre auf („Die Alternativtexte zeigen uns eine ganze Reihe von Glaubensvorstellungen, die meistens Versuche waren, das Christentum theologisch mundgerechter zu machen für eine griechisch- römische Umwelt, in der es von Göttern wimmelte und in der die Toten nicht auferstanden“, 258).
  2. Sie zeigt die Komplexität der religiösen Szene im 2. und 3. Jh. und ihre polemische Atmosphäre.
  3. Sie macht dafür sensibel, „dass das frühe Christentum in verschiedenen Regionen der damaligen Welt verschieden ausgeprägt war“ (259).
  4. Sie zwingt zu fragen, wie die alte Kirche „wirklich“ war und woher die Christen ihre Identität bezogen, bevor das NT das verbindliche Quellenbuch der Kirche wurde.

Dem stellt Bock drei Probleme gegenüber, an denen diese „neue Schule“ krankt:

  1. Der Wert der frühchristlichen Überlieferung wird ignoriert oder unterschätzt, ebenso die Tatsache, dass die traditionellen Texte nach wie vor unsere besten Quellen für die ersten Jahre des christlichen Glaubens darstellen. „Dieser Textbefund bezeugt, dass die ‘rechtgläubigen’ Texte mehr repräsentieren als nur eine religiöse Alternative unter vielen in den ersten Jahrhunderten“ (260; 260-64).
  2.  Es wird übersehen, dass gewisse Gedanken in den „neuen“ Texten praktisch sofort zu heftigen Auseinandersetzungen führten (265-70).
  3. Die ‘Neue Schule’ liegt historisch falsch mit ihrer Behauptung, dass in den beiden ersten Jahrhunderten verschiedene Varianten des Christentums nebeneinander bestanden, von denen keine ein Recht hatte, sich als die allein richtige zu betrachten“ (270, 270-72). Und: „Die Behauptung, dass es neben dem traditionellen Christentum von Anfang an die gnostischen Bewegungen gab, ist schlicht falsch“ (271).

So schließt Bock:

Die Neuentdeckung der gnostischen Schriften bedeutet keinesfalls, dass das Christentum umgeschrieben werden muss. Wer sich in die so genannten verschwiegenen Evangelien und in die gnostische Lehre vertieft, wird dort kaum Erleuchtung für das 21. Jh. finden; da mag die „Neue Schule“ behaupten, was sie will. Wer diese Texte so sieht, macht sich eines argen Anachronismus schuldig und legt zudem die Axt an die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaft. Eine solche Neuschreibung von Geschichte und Theologie ist eine Verzerrung und Verfälschung nicht nur der Gnosis, sondern vor allem des christlichen Glaubens und der frühen Geschichte des Christentums. … Die Hauptthese der „Neuen Schule“, dass die Geschichte des Christentums zeigt, dass der christliche Glaube neu definiert werden muss, entbehrt jeder historischen Grundlage. Was revidiert werden muss, ist nicht der christliche Glaube – es sind die Hypothesen der „Neuen Schule“, die dies dringend nötig haben (274).

Der Band schließt mit Aufstellungen der behandelten „alternativen“ Texte (276-80) und von Schlüsseltexten bei den Apostolischen Vätern (281-84), einer Bibliographie (285-94) und einem Glossar (295-301).

Bocks Band gibt eine hervorragende, gut lesbare sowie allgemeinverständliche Einführung in eine aktuelle Debatte, bei der für ein historisch orientiertes Christentum viel auf dem Spiel steht und die höchst medienwirksam geführt wird. Neben dem Einblick bietet Bock eine solide Bewertung und viele gute Argumente für ein orthodoxes Christentum, das sich an den kanonischen Schriften des Neuen Testaments orientiert. Neben den von Bock vorgebrachten Argumenten wäre noch auf eine ganze Reihe neuerer Studien hinzuweisen, die die historische Zuverlässigkeit und die gepflegte Überlieferung der ntl. Evangelientradition vertreten, ferner auf evangelikale (Früh-)Datierungen ntl. Bücher, die den erheblichen zeitlichen Abstand zwischen den zeitlich letzten ntl. Büchern und den ersten nachapostolischen Schriften aufzeigen. Von einem fließenden Übergang kann nicht die Rede sein.

Weitere hilfreiche Bände zum Thema sind M. Green, Die verborgenen Bücher: Wie das Neue Testament entstand – Mythos und Wahrheit (Wuppertal: R. Brokkhaus, 2007), H. Lona, Judas Iskariot: Legende und Wahrheit (Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2007) und B. Witherington, What Have They Done With Jesus?: Beyond Strange Theories and Bad History – Why We Can Trust the Bible (San Francisco: HarperOne, 2007).

 Die Rezension/Kritik stammt von: Christoph Stenschke
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Brunnen Verlag GmbH
  Jahr: 2007
  ISBN: 978-3-7655-1964-2
  Seiten: 280
 €    Preis: 19,95 Euro